Читать книгу Distinktion durch Sprache? - Martina Zimmermann - Страница 29

2.2.4.2 Politische Ökonomie

Оглавление

Aus der Skizze der einstigen und heutigen Hochschullandschaft geht hervor, dass studentische Mobilität und mit ihr verbundene Destinationen sich je nach Machtapparat verändern. Ebenso sind es je nach Periode andere Sprachen, die es mittels der Mobilität zu erwerben gilt.

Im spätmittelalterlichen Europa etwa ist es die Kirche, welche die Universitäten dominiert. Sie finanziert aus Pfründen und anderen Einkünften den Betrieb, diktiert die „doctrina sacra“ und den Gebrauch des Lateins, bestimmt den vom Klosterbetrieb übernommenen 45-Minuten-Rhythmus. Mit dieser kirchlich geprägten Vormachstellung zieht die Universität in ihren Anfängen angehende Kleriker aus dem gesamten christlichen Europa an.

Auch in der gegenwärtigen Hochschullandschaft gibt es einen Machtapparat, der sich auf die Struktur der Universität auswirkt1. So sind es vorwiegend ökonomische Leitlinien, die den Betrieb und die inhaltliche Ausrichtung derselben prägen und im Zusammenhang mit der Wettbewerbsorientierung stehen, die sowohl den öffentlichen als auch den privaten Sektor dominiert. Die Universität ist ein Ort, an dem – in Konkurrenz zu ähnlichen (aber nicht identischen) Orten – gewisse Bildungsgüter konsumiert/erworben werden können. So erhalten Tessiner Studierende dank ihrer Mobilität in der Deutsch- oder Westschweiz Zugang zu Bildung und zu Sprachen, welche den schweizerischen Markt beherrschen, und sie bekommen dadurch die Chance, später jenem Teil der Bevölkerung anzugehören, der sich, z.B. als Arbeitnehmende, in diesen Markt eingliedern kann.

Der Fakt, dass sich der Stellenwert von Sprachen, damit verbundene Sprachideologien und Mobilitätsrichtungen im universitären Kontext seit dem Hochmittelalter in Europa immer wieder wandeln, muss auf dem Hintergrund politisch-ökonomischer Bedingungen betrachtet werden. Doch was ist unter politischer Ökonomie zu verstehen, und inwiefern bietet sich deren Konzept für diese Arbeit an? Die nächsten Abschnitte sollen Antwort auf diese Fragen geben.

Der Begriff „politische Ökonomie“ bezieht sich auf die Bedingungen, unter denen die Produktion und Verteilung von materiellen und kulturellen Gütern in unserer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt geschieht. Diese Bedingungen hängen mit wirtschaftlichen Gesetzmässigkeiten, Marktteilnehmern (z.B. Grossunternehmen) und amtlichen Entscheidungsträgern (z.B. Kanton, Nation) zusammen. Die „politische Ökonomie“ wirkt sich auf Menschen, deren sozialen Status, deren kulturelle Praktiken, Wertvorstellungen und Überzeugungen aus. Sprachen und SprecherInnen und die Art und Weise, wie diesen Wert zu- bzw. abgesprochen wird, sind davon nicht ausgenommen (Bourdieu 1977; Gal 1989; Irvine 1989; Bauman & Briggs 2003; Philips 2005; Heller & Boutet 2006; Duchêne & Heller 2012; Duchêne, Moyer & Roberts 2013; Martin-Rojo 2013).

Unter den zahlreichen AutorInnen, die sich mit der politischen Ökonomie befassen, findet sich auch Pierre Bourdieu (1977, 1982, 1983). Er beschreibt, inwiefern diese für den sprachlichen Gegenstand relevant ist und entwickelt die bereits erwähnte Idee des „sprachlichen Markts“. Sein Beitrag wird von anderen AutorInnen weiterentwickelt und ist für die vorliegende Arbeit zentral. Laut Bourdieu bewegen wir uns in einem Markt, in dem verschiedene Formen von Kapital zirkulieren, die unter gewissen Bedingungen gegeneinander ein-/austauschbar werden. So ist beispielweise symbolisches (kulturelles oder soziales) Kapital in materielles Kapital überführbar (Bourdieu 1977: 195). Wem (z.B. SprecherInnen) oder welcher Sache (z.B. Sprachen), wann (z.B. jetzt), wo (z.B. in der Schweiz) wie viel Wert (z.B. Geld oder symbolischer Wert) zukommt, wird von der politischen Ökonomie oder eben dem sprachlichen Markt bestimmt. Diese Wertzuschreibungen führen dazu, dass gewisse SprecherInnen und gewisse Sprachen als legitimer, wertvoller oder nützlicher betrachtet werden als andere. Das heisst, dass eine Interaktion nicht bloss ein verbaler Austausch zwischen einem Zuhörenden und einem Sprechenden, sondern auch ein Austausch ökonomischer Natur darstellt. Im Austausch manifestiert sich, wie es um die Machtbeziehung steht und wer wie viel Kapital hat, das den gegenwärtigen Marktanforderungen entspricht (Bourdieu 1991). Entsprechend diesem Verständnis von Sprachen und SprecherInnen sind die Unterschiede und Ungleichheiten in der politischen Ökonomie und in den daraus resultierenden ökonomischen und sozialen Bedingungen beschaffen.

Bourdieu weist darauf hin, dass dem Bildungssystem in der Akzentuierung dieser Ungleichheiten eine wichtige Rolle zukomme (Bourdieu 1977; Erickson 2004; Bourdieu & Passeron 1971, 2006; Martin-Rojo 2010). Es favorisiere die von den Erziehungsbehörden für vorrangig erklärten Sprachen dadurch, dass diese (und keine anderen) unterrichtet werden, stütze somit die Behörden in ihrer Entscheidung und trage erheblich zur Legitimation gewisser Sprachen bei2. Die Macht, die Sprachen zugeschrieben wird, ist gemäss Bourdieu nicht in den Sprachen an und für sich enthalten, sondern reflektiert die Macht einer dominierenden Gruppe (z.B. der Regierung) (vgl. Gal 1989). Wie die historische Skizze zeigt, ist der Markt nicht für die Ewigkeit gegeben. Er verändert sich, wird von Menschen (Individuen und Gruppen) mit spezifischen Interessen und Ideologien produziert und geformt. Menschen verwenden die politisch-ökonomischen Strukturen und nutzen sie, um ihre Interessen zu wahren und in der Gesellschaftsordnung ihren Platz beizubehalten (vgl. Duchêne & Heller 2007).

Bourdieus Überlegungen und deren Weiterentwicklungen passen sehr gut zum Kontext der vorliegenden Arbeit. Im marktwirtschaftlich geprägten tertiären Bildungssystem geniesst die Sprache einen besonderen Status und dient den tertiären Institutionen, die dem Wettbewerbsprinzip gehorchen, als Unterscheidungsmerkmal gegenüber Konkurrenz (vgl. Bourdieu 1979; Saunders 2010; Bodmer 2011; Block et al. 2012; Kauppi & Erkkilä 2011). Angehende Studierende aus anderssprachigen Gegenden etwa versuchen die Universitäten über die Sprache zu akquirieren, indem sie ihnen in deren eigener Sprache aufzeigen, dass Sprachkompetenzen, die sie sich während des Studiums erwerben, ihnen in ihrer Zukunft dienlich sein können. Dies gelingt, weil kommunikative Fertigkeiten und Sprachkompetenzen in der durch die Tertiarisierung geprägten Marktwirtschaft zur Ressource und zum eigentlichen Arbeitsinstrument geworden sind (Boutet 2008; Cameron 2000; Heller 2003). Beispielsweise erhoffen sich Tessiner Studierende dank ihrer Mobilität und den erworbenen Deutsch- oder Französischkenntnissen eine grössere Chance auf dem Arbeitsmarkt, um darin ihr symbolisches in monetäres Kapital zu verwandeln (vgl. Heller 2003, 2010; Philips 2005; Boutet 2008; Urciuoli 2008; Duchêne 2009, 2011; Duchêne & Piller 2011; Blommaert & Varis 2012). Des Weiteren kann die Sprache zum Instrument werden, um etwa potentielle Kunden – oder in diesem Kontext potentielle Studierende – in der ihnen geläufigen Sprache anzusprechen und wichtige Informationen lokal publik zu machen, mit anderen Worten: um sich Zugang zu neuen Märkten (oder neuen Studierendenpopulationen) zu verschaffen (Piller 2001; Kelly-Holmes 2006).

Bourdieus Überlegungen zum sprachlichen Markt erweisen sich im Rahmen dieser Untersuchung als fruchtbar, um zu ergründen, welchen Spreche­rInnen/Sprachen Wert zu-/abgesprochen wird. Irvine und Gal (Irvine 1989; Gal 1989, 2011, 2012) bemerken jedoch kritisch, dass Bourdieus theoretische Ausführungen kaum eine Handhabe enthielten, sie im sprachlich-sozialen Alltag erkennbar zu machen und festzumachen. Sie schlagen deshalb vor, neben dem Markt die darin vorherrschenden Ideologien zu ermitteln. Dem geht das nächste Unterkapitel auf den Grund.

Distinktion durch Sprache?

Подняться наверх