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aa) Rückbesinnung auf tradierte Grundrechte

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Bei den Beratungen zum Grundrechtskatalog wurden Wunsch und Wille zur Wiedereingliederung in die freiheitliche westliche Verfassungstradition, wie sie von Deutschland selbst nicht unmaßgeblich mitgeprägt worden war, besonders augenfällig. Kurzzeitig virulente Überlegungen, entgegen den Vorgaben des Frankfurter Dokumentes Nr. I[46] auf einen Grundrechtskatalog zu verzichten und sich auf ein reines Organisationsstatut zu beschränken, waren rasch überwunden.[47] Carlo Schmid, der auf Herrenchiemsee noch für diese restriktive Lösung plädiert hatte,[48] trat in einer großen Rede in der ersten Plenumssitzung des Parlamentarischen Rates vom 8. September 1948 mit Verve für starke, verbindliche und das Grundgesetz insgesamt prägende, ja sie gleichsam „regierende“ Grundrechte ein, die keinesfalls „bloße Deklamationen, Deklarationen und Direktiven“ sein dürften.[49]

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Dem mit der Ausarbeitung eines Grundrechtsteils betrauten „Ausschuß für Grundsatzfragen“ trug sodann Ludwig Bergsträßer einleitend ein kurzes Referat[50] vor, das den Worten des Vorsitzenden v. Mangoldt zufolge die Ausschussmitglieder über „das Wesen und Werden der Grundrechte unterrichten“ sollte.[51] In diesem Akt der Wiedervergewisserung über deren ideen- und verfassungsgeschichtliche Grundlagen schlug er einen großen historischen Bogen von der Magna Carta 1215 über die Virginia Bill of Rights von 1776 und die 1789 verkündete Déclaration des droits de l’homme et du citoyen bis hin zur Paulskirchen- und zur Weimarer Verfassung. Sehr bald konnte dann im Ausschuss Einigkeit darüber erzielt werden, sich weitgehend auf die Aufnahme der so genannten „klassischen“ liberalen Abwehrrechte zu beschränken, zu denen man üblicherweise die justizstaatlichen Garantien (nulla poena sine lege, Schutz vor willkürlicher Verhaftung, rechtliches Gehör), wesentliche Kommunikationsgrundrechte (Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) sowie Eigentums- und Berufsfreiheit zählt.[52] Für diese im bemerkenswerten Kontrast zu den vorkonstitutionellen Landesverfassungen[53] stehende Beschränkung gab es im Wesentlichen zwei Gründe, die den historischen Doppelbezug (vgl. oben, Rn. 7) exemplarisch belegen. Zum einen hatte gerade die Missachtung menschlicher Würde, Freiheit und Gleichheit in der NS-Zeit die Notwendigkeit dauerhafter Sicherung der Grundrechte erwiesen, die in der Zwischenkriegszeit europaweit und bei weitem nicht nur in Deutschland in die Defensive geraten und von anderen, sei es ständisch-korporativen, sei es autoritären oder totalitären Konzepten zurückgedrängt oder gänzlich verdrängt worden waren.[54] Dieser auch von Bergsträßer angesprochene Bezug wurde in der folgenden Debatte vom späteren langjährigen hessischen Ministerpräsidenten Zinn klar zum Ausdruck gebracht: „Nach den Exzessen der staatlichen Macht in den vergangenen 12 Jahren haben auch die klassischen Grundrechte wieder eine evidente Bedeutung erlangt.“[55] Zum anderen war es nur bei Konzentration auf liberale Abwehrrechte möglich, den Grundrechten durchgängig den Charakter unmittelbarer und einklagbarer subjektiver Rechte im Sinne der von Carlo Schmid erhobenen Forderung zu verleihen. Hiermit war eine signifikante Veränderung im Verhältnis zur Weimarer Reichsverfassung vollzogen. Nicht, dass man dort Grundrechte ganz generell nur als Programmsätze und Direktiven für den Gesetzgeber gekannt hätte, wie man aufgrund einer hartnäckig sich haltenden Legende auch heute noch immer wieder lesen und hören kann.[56] Die Weimarer Reichsverfassung enthielt eine Vielzahl an klassisch-liberalen Gewährleistungen, die zumeist schon aus der Paulskirchenverfassung bekannt und nicht selten mit ihr wortgleich waren (wie z.B. die Freizügigkeit, die Auswanderungsfreiheit, die Freiheit der Person, der Schutz der Wohnung sowie des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses u.v.a.m.). An ihrem Charakter als aktuell geltendem, unmittelbar anwendbarem, „für Behörden und Bürger“ verbindlichem Recht[57] bestand kein Zweifel. Aber der mit „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“ überschriebene Zweite Hauptteil der Weimarer Reichsverfassung kannte eben darüber hinaus eine Vielzahl von Bestimmungen zu den so genannten „Lebensordnungen“, zum Gemeinschafts- und Wirtschaftsleben: Reinerhaltung, Gesundung und soziale Förderung der Familie, Schutz der Jugend vor Ausbeutung und Verwahrlosung, Schulwesen und Lehrerbildung, gesunde Wohnungen, Nutzung der Bodenschätze, Sozialversicherungswesen, Schutz des Mittelstands sowie Arbeiter- und Wirtschaftsräte u.a.m. Von solchen Materien hielt sich der Parlamentarische Rat sub specie Grundrechte (weitgehend) fern. Und wo man ihnen dann doch wie bei den staatskirchenrechtlichen Regelungen oder den Grundrechtsartikeln zu Schule, Ehe und Familie nahetrat, blieben heftige Kontroversen nicht aus (dazu unten, Rn. 33ff.).

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Die dabei sichtbar werdende programmatische Leitlinie lässt sich daher als Geltungsverstärkung kraft Bereichsreduktion umschreiben. Die Durchschlagskraft der Grundrechte konnte erhöht werden, weil ihr Kreis auf justiziable Normen verringert wurde. Sie erhöhte sich noch einmal zusätzlich durch eine weitere Neuregelung: die in Art. 1 Abs. 3 GG vorgesehene Grundrechtsbindung (auch) des Gesetzgebers. Es war dies neben ihrer Fassung als subjektive, unmittelbar einklagbare Rechte der bedeutendste Schritt. Damit war der Gedanke des normenhierarchischen Vorranges der Verfassung auch für das Parlament deutlich ausformuliert und die in Weimar virulente, wenngleich wiederum differenziert zu beantwortende Frage nach den „leerlaufenden“ Grundrechten[58] geklärt. Auf dieser Linie der Geltungsverstärkung lag des Weiteren die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG – in dieser Form in Weimar unbekannt, als „Schlußstein im Gewölbe des Rechtsstaates“[59] von der Lehre emphatisch begrüßt und als formelles Hauptgrundrecht im Rechtsalltag von kaum zu überschätzender Bedeutung.[60] Für die praktische Wirksamkeit und Einklagbarkeit der das Wirtschaftsleben betreffenden Grundrechte erwies sich angesichts der Tatsache, dass in einer bürgerlich-liberalen Wirtschaftsordnung Personen- und Kapitalgesellschaften dominieren, zudem die ausdrückliche Erweiterung des Kreises grundrechtsberechtigter Subjekte auf juristische Personen als bedeutsam, wie sie Art. 19 Abs. 3 GG vornahm.[61]

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