Читать книгу Alzheimer - vorbeugen und behandeln - Mary T. Newport - Страница 14
ОглавлениеKAPITEL 5
Der mühsame Weg aus dem Abgrund
Ich fühlte mich, als lebte ich in einem parallelen Universum. Als Steve beim Mini-Mental-Status-Test im Alzheimer-Institut so gut abschnitt, wusste ich nicht, ob das dem Kokosöl oder meinen Gebeten geschuldet oder ob es einfach Glücksache war. Auf jeden Fall beschloss ich, ihm weiterhin täglich beim Frühstück etwas mehr als 2 Esslöffel Kokosöl zu geben. Bevor wir damit anfingen, war er morgens immer benommen, sprach sehr wenig und ging sehr langsam. Schließlich fand er zu seinem Platz und begann sehr langsam zu essen. Am dritten Tag kam er munter und lächelnd in die Küche, war gesprächig und wirkte glücklich. Er hatte kaum Probleme damit, seine Sachen und ein Glas Wasser zu finden, und sprach viel beim Frühstück. Am fünften Tag sahen wir einander an und waren der einhelligen Meinung, dass sich unser Leben verändert hatte!
Ich war daran gewöhnt, dass es bei Steve zu Schwankungen kam: Manchmal ging es ihm mehrere Tage lang besser, dann wieder einige Tage nicht so gut. Aber das hier war anders. Er sagte, er fühle sich, als sei ein Licht angeschaltet worden, der Nebel habe sich gelichtet und sein Leben habe sich zum Besseren verändert. Schon ganz früh zeigten sich die deutlichsten Veränderungen in seiner Persönlichkeit und in seiner Fähigkeit, ein Gespräch zu führen. Sein Gesicht war lebendiger, er begann zu scherzen, wurde im Laufe des Tages gesprächiger und schien mehr Energie zu haben. Anfangs zitterte er noch, wenn er versuchte, zu essen und zu sprechen, und sein Gang war noch etwas seltsam, doch insgesamt war dies eine enorme Verbesserung im Vergleich zu dem Zustand, in dem er wenige Tage zuvor noch gewesen war.
Wie ich die Veränderungen dokumentierte
Ich erzählte meiner Schwester Angela und meinem Vater, was mit Steve geschehen war. Meine Schwester schlug mir vor, Tagebuch zu führen. Und so begann ich, alles aufzuschreiben, woran ich mich erinnern konnte. Einige Auszüge daraus möchte ich hier wiedergeben:
21. Mai – Tag 1: Zwei Esslöffel Kokosöl in Haferbrei und Weizenprotein zum Frühstück; auf dem Weg ins Institut Vorbereitung auf den Gedächtnistest. Im Auto brachte er alles durcheinander, doch beim Test (4 Stunden nach dem Frühstück) schaffte er 18 Punkte und wurde in die Studie aufgenommen.
22. Mai – Tag 2: Wir nehmen zwei Esslöffel Kokosöl zum Frühstück und später auch etwas davon zum Kochen.
26. Mai – Tag 6: Ich nehme Kokosöl nicht mehr nur zum Frühstück, sondern koche damit und gebe es in Smoothies (dickflüssige, cremige Fruchtsaftgetränke). Steve mag es. Bisher ist er jeden Morgen sehr munter. Eines Morgens erzählte er mir, er habe geträumt, dass wir nicht genug Geld hätten. (Es ist ziemlich lange her, dass er sich an einen Traum erinnerte.) Am nächsten Tag erzählte er mir Dinge aus seiner frühen Schulzeit. Heute beschäftigte er sich mit der Reinigung des Pools und saugte im Gästezimmer und im Wohnzimmer. Dann ließ die Konzentration nach, er ging hinaus zu den Pflanzen, geriet in Verwirrung wegen irgendwelcher „Viecher“ und grub die Zwiebeln aus den Pflanzgefäßen. Ich hatte ihn schon früher so etwas tun sehen und sagte ihm das – doch er konnte sich nicht daran erinnern.
28. Mai – Tag 8: Ein guter Morgen, Steve war munter. Zwei Esslöffel Kokosöl, mit warmem Mehrkornmüsli, einer halben Banane und einem halben Schöpfer Schokoladenmolke-Pulver. Seit zwei Tagen bekommt er morgens und abends zusätzlich zu seinen Medikamenten L-Carnitin. Er erinnert sich sofort, dass es Frühling ist und „fast Juni“. Heute vor einer Woche konnte er trotz aller Bemühungen bis zum späten Nachmittag weder die Jahreszeit noch den Monat behalten. Wirkt jetzt mehr seinem Alter entsprechend und nicht wie ein Achtzigjähriger.
29. Mai – Tag 9: Heute wieder sehr munter. Reinigte nach dem Frühstück die Filter der Poolpumpe und konnte selbstständig die Deckel abnehmen. (Früher musste ich ihm immer mehrmals sagen, was er mit den Deckeln machen solle.) Er wollte wissen, ob die Pumpe so konzipiert sei, dass sie sich automatisch einschalten könne (Antwort: nein), und sagte, er habe darüber bisher nicht nachgedacht. Erscheint insgesamt „normal“ – außer dass er manchmal Probleme mit der Wortfindung hat – und kann seine Gedanken besser zu Ende bringen. – Ich rief die Firma an, die das in den AC-1202-Studien verwendete Fettsäureprodukt (Neobee 895) geliefert hatte. Sie schicken mir ein Muster und mailten gleich ein Merkblatt mit Fachinformationen.
30. Mai – Tag 10: Steve war heute munter und ausgelassen. Er mähte mit dem kleinen Rasenmäher das Gras vor dem Haus.
31. Mai – Tag 11: Steve erscheint „normal“ – glücklich und munter. Er ging die Zeitung holen, kam schnell zurück und las in einer Zeitschrift. Mit ein wenig Hilfe räumte er die Spülmaschine aus und bestückte sie neu (mit ganz geringer Hilfe). Er war auch abends noch sehr munter. Wir führen gute Gespräche, auch wenn er mit der Wortfindung einige Probleme hat.
1. Juni – Tag 12: Steve stand früh auf und war munter. Wir unterhielten uns viel über alle möglichen Dinge: Politik (der Fernseher läuft), Kokosöl und darüber, was er tun wollte. Den Monat Juni erriet er richtig. Er hat viel Humor und sieht körperlich großartig aus; sein Gang hat sich normalisiert.
Ich frage mich, ob es einen Zusammenhang zwischen Herpes simplex (den Lippenbläschen, die er auch schon um die Augen gehabt hatte) und Alzheimer gibt. Als es Steve das letzte Mal schlecht ging, hatte er auch schlecht heilende Fieberbläschen auf der linken Unterlippe. Ich muss mal nachsehen, welche Nervenbahnen von den Lippen zum Gehirn führen. Könnte das Virus vielleicht auf diesem Weg zu Amygdala und Hippocampus gelangen?
2. Juni – Tag 13: Ich wachte um 5 Uhr morgens auf und schrieb einen dreiseitigen Brief über AC-1202, das mittelkettige Triglyceridöl und Kokosöl. Diesen schickte ich per Fax, Post und E-Mail an eine pensionierte Richterin am Obersten Gerichtshof, an die Alzheimer-Forschungsgruppe, die amerikanische Alzheimer-Gesellschaft, an zwei Senatoren und an einen Herzchirurgen sowie an den Sender CNN und das amerikanische Frühstücksfernsehen. Steve ging es immer noch gut. Die Alzheimer-Forschungsgruppe antwortete per E-Mail: Man gehe der Sache nach und wolle mir dann antworten.
Abbildung 2: Die zweite Uhr – 2 Wochen, nachdem wir mit dem Kokosöl angefangen hatten
3. Juni – Tag 14: Steve war gegen 7 Uhr wach, munter und bereit loszulegen! Er zeichnete eine Uhr, die gegenüber derjenigen von vor zwei Wochen im NeuroScience Center eine deutliche Verbesserung darstellte (vgl. Abbildung 2). Dann erledigte er mehrere Arbeiten (Absaugen der Teppiche und Böden und Reinigen der Poolfilter).
13. Juni – Tag 24: Was für ein toller Kerl: Während ich bei der Arbeit war, kümmerte sich Steve um die Wäsche, räumte sie aus der Waschmaschine in den Trockner, legte sie zusammen und räumte sie weg, ohne dass er aufgefordert werden musste oder Unterstützung brauchte! Es ist sehr lange her, dass er etwas so zu Ende bringen konnte – meistens vergaß er, die Wäsche aus der Waschmaschine in den Trockner zu stecken. Heute war er den ganzen Tag gut drauf.
Abbildung 3: Die dritte Uhr – 37 Tage, nachdem wir mit dem Kokosöl angefangen hatten
Trotz enormer Verbesserungen lief anfangs nicht alles glatt:
20. Juni – Tag 31: Steve weigerte sich heute früh, seinen Haferbrei mit Kokosöl aufzuessen, und wollte stattdessen Schokokekse. (Gestern Abend musste ich ihn dazu überreden, das MCT-Öl pur einzunehmen, da er das viel angenehmere Kokoseis oder andere Zubereitungen verweigerte.) Mit viel gutem Zureden aß er sein Frühstück schließlich auf.
26. Juni – Tag 37: Steve zeichnete wieder eine Uhr, die diesmal noch eindeutiger aussah (vgl. Abbildung 3). Er macht auch in anderer Hinsicht allmählich Fortschritte: Er zittert immer weniger (sichtbar) und sein Gang wird normaler.
Ein wertvoller Fund
Inzwischen verbrachte ich fast jeden freien Augenblick damit, mich über Ketone, mittelkettige Fettsäuren, Kokosöl und MCT-Öl kundig zu machen.
Im Zuge meiner Internetrecherchen stieß ich auf den Namen Dr. Richard L. Veech – er war Stoffwechselspezialist bei der amerikanischen Gesundheitsbehörde und anscheinend ein weltbekannter Ketonforscher. Ich fand seine Kontaktadresse und Hinweise auf mehrere Artikel, unter anderem auf einen mit dem Titel: „Review: The Therapeutic Implications of Ketone Bodies“ [zu Deutsch etwa: „Überblick: Die therapeutischen Auswirkungen von Ketonkörpern“ Anm. d. Übers.], veröffentlicht in der Zeitschrift Prostaglandins, Leukotrienes and Essential Fatty Acids (Veech, 2004). In diesem Artikel äußert er sich ausführlich zum Thema Ketone und darüber, wie Neuronen (Hirnnervenzellen) sie anstelle von Glukose als Energiequelle verwerten können, insbesondere bei Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson, bei denen die Glukoseverwertung nicht möglich ist. Er schrieb auch über ihren Einsatz bei Diabetes und einer Reihe anderer Krankheiten.
Ich hatte viele Fragen an diesen Arzt, nicht nur über die Anwendungsmöglichkeiten bei jemandem wie meinem Mann, sondern auch bei meinen Neugeborenen. Ich beschloss, all meinen Mut zusammenzunehmen und ihm meine Fragen telefonisch zu stellen:
1. Warum nicht Kokosöl anstelle von MCT-Öl?
2. Warum nicht zu jeder Mahlzeit anstatt nur morgens? Wäre es nicht besser, wenn man versuchte, dem Körper die Ketone kontinuierlich zuzuführen?
3. Warum gerade 20 Gramm MCT-Öl?
4. Wären frei verkäufliche Teststreifen zur Ketonbestimmung im Urin sinnvoll?
5. Gab es schon Studien mit Neugeborenen über die Anwendung von Ketonkörpern aus MCT-Öl zur Behandlung von Problemen wie Frühgeburt, Hypoglykämie (Unterzucker) oder Sauerstoffmangel bei der Geburt?
Bei unserem ersten Telefongespräch erwähnte ich nicht, dass ich Steve Kokosöl gab, sondern stellte ihm einfach meine Fragen. Er erzählte mir von Accera und von der Firma Stepan (die ich auch schon kannte) und sagte, er glaube nicht, dass die durch das MCT-Öl gebildeten Mengen von Ketonkörpern ausreichend seien, um Wirkung zu zeigen, wobei es egal sei, ob man das Öl einmal oder über den ganzen Tag verteilt einnahm. Er wisse nicht, warum MCT-Öl so wirke, denn der Blutketonspiegel mache nur ein Zehntel dessen aus, was für den Transport von Ketonkörpern in die Gehirnzellen benötigt werde. – Aber ich wusste ja, dass das bei Steve funktionierte.
Obwohl ich ahnte, dass er skeptisch reagieren würde, wenn ich ihm von Steve und meinen Beobachtungen und Eindrücken erzählte, fragte ich ihn, was er von Kokosöl zur Ketonbildung halte, und er antwortete: „Warum nicht?“ Er sprach auch von einem Wachstumsfaktor BDNF [brain-derived neurotrophic factor, zu Deutsch etwa: vom Gehirn stammender neurotropher Faktor], einer Substanz, die geschädigte Neuronen retten könne. Frei verkäufliche Teststreifen zur Ketonbestimmung im Urin hielt der für „nutzlos“. Offenbar messen sie nur die als Acetoacetat bekannten Ketone und nicht Beta-Hydroxybutyrat (diejenigen Ketone, die von den Neuronen hauptsächlich als Energiequelle für die Zelle verwendet werden), die meist in etwa gleichen Mengen im Blutstrom vorhanden sind. Dr. Veech sprach sich für die Bestimmung aus dem Blut aus. Bezüglich der Dosis von 20 Gramm sagte er, dass die meisten Menschen diese Menge vertragen würden, ohne Durchfall zu bekommen (der ein Zeichen dafür sei, dass der Körper nicht mehr vertrage). Er hielt die Behandlung von Frühgeborenen und Neugeborenen, die unter Hypoglykämie oder Sauerstoffmangel litten, mit Ketonen für hilfreich; darüber sollten Studien gemacht werden.
Ketone aus dem Labor
Bei unserem Gespräch erfuhr ich, dass Dr. Veech einen Ester synthetisiert (also eine chemische Verbindung aus einem Alkohol – hier 1,3-Butandiol – und einer Säure – hier Beta-Hydroxybutyrat – des Ketons Beta-Hydroxybutyrat). Diese Kombination sorgt dafür, dass das Blut nach der Aufnahme nicht zu sauer wird. Ketonester kann in kristalliner Form hergestellt werden oder als konzentrierte Flüssigkeit, die man mit Wasser leicht verdünnen kann. Er kann oral oder intravenös verabreicht werden und wird, sobald er in den Blutstrom gelangt ist, vom Gehirn und anderen Organen begierig aufgenommen und genutzt. Seine Dosierung kann problemlos angepasst werden, sodass ein Spiegel erreicht wird, wie er während des Hungerns oder unter der klassischen ketogenen Ernährung bei der Behandlung der Epilepsie auftritt.
Anfänglich wurde Dr. Veechs Ketonentwicklung durch staatliche Gelder finanziert. Die Abteilung Forschung und Entwicklung des US-Verteidigungsministeriums wollte wissen, ob dieser „Supertreibstoff“ die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit von Kampftruppen verbessern könne. Zuschüsse kamen auch von der Parkinson-Stiftung. Doch inzwischen war Dr. Veech sehr frustriert, denn er benötigte zusätzlich 15 Millionen Dollar für eine größere Anlage, um Ketonester tonnenweise herstellen und ihn an Alzheimer- und Parkinsonpatienten testen zu können. Seine Arbeit wurde von der amerikanischen Gesundheitsbehörde „begutachtet“ und dann flossen die Forschungsgelder nur noch spärlich. Er vermutete, das habe daran gelegen, dass er keine Lobby hatte. Andere Alzheimer-Forschungsprojekte bekamen 75 Millionen Dollar, aber als Arzt und Biochemiker war er sich sicher, dass diese Vorhaben hinsichtlich dieser Krankheit nichts bewirken würden. Er schickte mir schließlich zwei seiner Artikel über den therapeutischen Einsatz von Ketonen.
Wie meine „Keton-Verbindungen“ sich ausweiteten
Zwei Wochen, nachdem Steve zum ersten Mal Kokosöl bekommen und zu meinem großen Erstaunen und meiner Freude die viel bessere Uhr gezeichnet hatte, fand ich es an der Zeit, Dr. Veech davon zu erzählen. Daraufhin sollte ich ihm Steves Uhrenzeichnungen per Fax schicken. Er hielt den Unterschied für wirklich erstaunlich und sagte noch einmal, dass er den geringen Ketonspiegel, der durch das Kokosöl zu erzielen war, für nicht hoch genug hielt, um eine solche Wirkung zu erreichen. Auch die nächste Uhr, die Steve nach 37 Tagen zeichnete, faxte ich an Dr. Veech.
Ich las weiterhin alles, was ich über Ketone, mittelkettige Fettsäuren, Kokosöl und MCT-Öl finden konnte. Dr. Veech mailte mir weiterhin wichtige Abhandlungen zum Thema und stellte für mich den Kontakt zu mehreren seiner Kollegen her, die ebenfalls mit der Ketonforschung zu tun hatten: Dr. George Cahill, Dr. Theodore VanItallie und Dr. Sami Hashim. (Mehr über diese Männer und ihre wichtige Arbeit in Teil II) Ich las ihre Abhandlungen und ließ keine Gelegenheit aus, ihnen Fragen zu stellen und von ihnen zu lernen. Dr. Hashim war mit Dr. Veech über die Höhe des Ketonspiegels zur Verbesserung der geistigen Leistungsfähigkeit bei einem Alzheimerpatienten nicht einer Meinung. Er glaubte, ein geringerer Spiegel sei ausreichend.