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Der Zustand des Leidens

Nun bin ich wieder alleine in meinem Paradies, die Fenster meines Arbeitszimmers sind weit geöffnet, der beeindruckende Blick in diese einmalige und nicht mit Worte zu beschreibende Landschaft gibt mir Trost und Kraft, um mein Schicksal zu akzeptieren.

Ein heißer Sommertag geht zu Ende, das Konzert der Singzikaden mit Begleitung quakender Frösche beginnt, der Mond ist am Horizont des Lubéron aufgegangen und erleuchtet unter einem Sternenhimmel die kontrastreichen Hügel und die Hochebene der Vaucluse.

Eine unheimliche Unruhe, die meinen Schlaf in dieser Nacht begleitet, lässt mich die Augen öffnen. Das Licht und die Morgensonne der Provence bringen mich zurück in die Vergangenheit. Meine Gedanken kreisen um die letzten sieben Jahre mit Michéle.


Michèle ist nicht hier, das letzte Telefongespräch von vor zwei Tagen liegt unendlich lange zurück. Die Vorstellung, ohne Michèle diesen Tag zu leben, lähmt mich. Ein Blick aus dem Fenster unseres Schlafzimmers, hinter dem sich das Paradies der Provence erstreckt, bringt mir den Schlaf zurück; ich sehe, wie Michèle als eine weiße Möwe aus unserem Paradies entflieht und, getragen vom stürmischen Mistral, am Horizont des Lubéron entschwindet. Mit aller Kraft wehre ich mich gegen das Loslassen, doch Michèles Kräfte, unterstützt vom heftigen Mistral, lassen mir keine Möglichkeit, sie festzuhalten. Mein Arm wird weggerissen, mein Leben löst sich auf, ich zerfalle zu Asche.

Die teuflischen Schreie meiner beiden geliebten Enkelkinder, die in Begleitung meiner Tochter seit einigen Tagen bei mir sind, beenden diesen Traum. Schweißgebadet und in totaler Erschöpfung beginne ich diesen Tag. Noch drei Tage muss ich sie erdulden, diese Schreihälse, die unser schönes und durch Michèle liebevoll eingerichtetes Haus strapazieren. Dieses Paradies erleidet furchtbare Qualen, alle Einrichtungsgegenstände sind bereits gekennzeichnet. Diese überdrehten Monsterkinder erschrecken Blumen, Wiesen, Felder, und stören die vollendete Ruhe der provenzalischen Natur. Ich habe erkannt, dass diese Menschen aus den nördlichen Industrieländern leider gezwungen sind, in einer Welt des Grauens zu leben, denn sie wohnen und hausen in Beton, müssen verpestete Luft einatmen und arbeiten wie die Ameisen, damit sie sich ihre Ameisenbehausungen und ihre so genannte Lebensqualität bezahlen können. Diese überdrehten, noch jungen Menschen besuchen in Begleitung ihrer Eltern jedes Jahr im Sommer für einige Wochen die Ruhe und den vollendeten Frieden der Provence, um hier die Ausgeglichenheit zu finden, die die Einheimischen infolge der landschaftlichen Schönheit das ganze Jahr über haben.

In unmittelbarer Nähe unseres Hauses befindet sich das kleine Schulhaus unseres Dorfes, dort habe ich festgestellt, dass die Kinder aus der Provence von der Schönheit dieses Landstriches geprägt und deshalb vollkommen ausgeglichen sind.

Trotz allem versuche ich, den heutigen Tag in Angriff zu nehmen. Meine Enkelkinder haben wegen einiger harmloser und friedlicher Bienen ihr geplantes Frühstück von dem Vorplatz, der unter unserem Schlafzimmer liegt und den Blick freigibt auf die Weite und die Schönheit der Provence, in das Innere unseres Hauses verlegt. Da meine Enkelkinder in der Zwischenzeit von dem provenzalischen Essen, das mit den allerfeinsten Provencekräutern unter Beimischung von Knoblauch und Olivenöl zubereitet ist, mit zusätzlichen Magenschmerzen belastet sind und einen Sonnenbrand auf ihren sterilen Schneehaut erleiden müssen, habe ich demnächst die Möglichkeit, mein Frühstück alleine, in aller Ruhe und auf meinem geliebten Vorplatz im Garten zu genießen.

Während ich meinen Gedanken nachhänge, ist eine weitere Stunde vergangen und meine Tochter hat es sich in der Zwischenzeit mit ihren beiden Kindern, die mir in meinem Leben trotzdem sehr viel bedeuten, am Swimmingpool gemütlich gemacht. Jetzt ist die Zeit für mich gekommen, mein Frühstück ungestört einzunehmen. Glücklicherweise bin ich durch Pflanzen, Bäume und Sträucher vor dem Geplapper und dem Geschrei geschützt. Dennoch würde es mich nicht wundern, wenn meine Blumen, Pflanzen und Büsche diesen Stress bis zur Abreise meines Besuches nicht überstehen würden. Nun sitze ich in unserem Garten, mit meinen Gedanken ganz alleine und still bei Michèle, die mir alles auf dieser Welt bedeutet. Nichts ist wichtiger als Michèle, ich bin infolge dieser Liebe in einer totalen Abhängigkeit, wie ein Drogensüchtiger in seinem allerletzten Lebensabschnitt, kurz vor dem Tod. Mein früheres Leben war nur Leben; nie habe ich an den Tod gedacht, habe mich für unsterblich gehalten. Niemals hätte ich mir vorstellen können, ein alter Mensch zu werden, niemals, keine Freunde mehr zu haben.

Ich glaubte, immer ein Leben nach meinen Vorstellungen leben zu können, ohne Rücksicht auf meine Mitmenschen. Ich fühlte mich stark, Tränen oder andere Gefühle, die mein Inneres bewegten, waren mir vollkommen fremd. Ich war ich, nur ich selbst bestimmte mein Leben, eine andere Umwelt interessierte mich nicht. Geld, Macht, Erfolg und eine krankhafte Geltungssucht bestimmten meine Gefühle.

Dreißig Jahre lang habe ich nicht erkannt, wie wertvoll das Leben mit meiner früheren Familie war. Heute ist mein Leben eine unerträgliche Qual, die ich gerne beenden würde; am besten wäre, mich würde auf der Stelle der erlösende Schlag treffen, denn das morgendliche Erwachen, jeden Tag aufs Neue, ist eine echte Hölle und die ganze Welt ist ein Jammertal. Wenn ich nicht so feige wäre, würde ich einen Suizid vollziehen, damit ich endlich von diesem Leben am Abgrund erlöst wäre.

Michèle ist schon fast einen Monat abwesend; für mich sind das Jahre. Noch vier Tage muss ich mich gedulden, dann wird Michèle wieder hier sein. Sie ist derzeit für einen Monat bei einer sogenannten Freundin aus der feinen Gesellschaft, die in Portugal ein Anwesen besitzt und von vielen Angestellten, Dienern und Hausmädchen bedient wird. Diese alte, hinterlistige und berechnende Hexe, die aus sehr bescheidenen Verhältnissen stammt und erst durch die Heirat mit einem Großindustriellen zu einem großen Vermögen gekommen ist, weidet sich daran, ihre Angestellten täglich auf die brutalste Art und Weise zu schikanieren.

Ihre finanzielle Macht ermöglicht es ihr, ihre Mitmenschen zu tyrannisieren, zu erniedrigen und zu beleidigen. Außerdem versucht diese Person, Michèle zu veranlassen, unsere Beziehung zu beenden. Ich werde niemals verstehen können, dass Michèle einen Monat ihres Lebens verschleudert, um mit diesem Satansweib dreißig Tage und Nächte zu verbringen. Bestimmt steckt eine gewisse Berechnung dahinter, nämlich die, dass die geizige Alte meine Michèle in ihrem Testament berücksichtigt und ihr nach ihrem Ableben etwas von ihrem Millionenvermögen hinterlässt.

Nichts liebt Michèle auf dieser Welt mehr als Geld; Geld und finanzielle Sicherheit bedeuten für sie vollständige Freiheit und Unabhängigkeit. Für diese Liebe habe ich mein früheres Leben nach dreißig Ehejahren aufgegeben und meine Firma, die mir ein überdurchschnittliches Einkommen garantierte, für einige hunderttausend Franken verschleudert. Dieses Geld habe ich in den vergangenen Jahren aufgewendet, diese Liebe aufrechtzuerhalten. Heute habe ich nichts mehr und bin gezwungen, eine neue Existenz aufzubauen, denn außer meiner großen Liebe kann ich Michèle nicht mehr viel bieten. Ich suche nach Möglichkeiten, noch irgendetwas zu veräußern; ja, ich wäre auch sofort bereit, einen Teil meiner Leber, meine Niere oder was sonst auch immer für wenig Geld anzubieten. Vierzehn schöne Tage, die ich mit Michèle verbringen kann, sind für mich das Leben. Ich denke dann auch nicht daran, dass in vierzehn Tagen alles vorbei ist.

Am fünfzehnten Tag beginnt jedoch die Hölle von neuem; es wird immer schlimmer und ich weiß nicht mehr, wie alles weitergehen soll. Ich kaufe mir keine Lebensmittel mehr, sondern spiele mit meinem letzten Geld Lotto und hoffe jedes Mal auf einen Gewinn, der jedoch – wie könnte es anders sein – immer ausbleibt. Doch der Gedanke an und die Hoffnung auf ein schönes Leben mit Michèle sind mein letztes Geld wert. Ich gehe in die Kirche und bete zu Gott, dass er mich mit Michèle glücklich und in Frieden leben lässt. Sonst will ich für mich nichts mehr; das Einzige, was ich will, ist Michèle.

Meine Flugzeuge von früher, Jaguars und Porsches und die edelsten Motorboote sind nicht mehr wichtig. Ich kann mich erinnern, dass ich auch das letzte meiner Luxusgüter, meine goldene Rolex-Uhr, für diese Liebe verhökert habe. Ich entwickle übermenschliche Kräfte, um diese Liebe am Leben zu erhalten; es gibt nichts, das ich nicht unternehme, um erneut Geld zu verdienen. Ich verkaufe diverse Industriegüter und möchte meine Produkte, die ich in der Zwischenzeit entwickelt habe, ebenfalls erfolgreich verkaufen. Meine finanziellen Mittel sind zur Zeit erschöpft, deshalb bitte ich jeden Freund oder Bekannten um ein Darlehen, diesen sogenannten Freunden habe ich in früheren Zeiten ohne großes, »Wenn und Aber« in Ihrer Not geholfen und entsprechend Darlehen erteilt, jedoch selbst bekomme ich von diesen fragwürdigen »Freunden« keine Darlehen. Trotzdem muss dieses Vorhaben gelingen. Wenn es heute keinen Weg gibt, wird bestimmt morgen ein Weg kommen, oder übermorgen, es muss einfach so sein, eine andere Möglichkeit ist ausgeschlossen.

Ich stelle mir immer die Frage, aus welchem Grunde ich ein solches Leben erdulden muss, warum es mir nicht möglich ist, ein Leben zu führen wie das vieler meiner Freunde, ohne große Aufregungen, bescheiden und mit einer harmonischen Familie, die mir in meinem täglichen Dasein viel bedeutet.

Michèle ist nicht da, doch dieses Haus ist da.

Michèle, ihr menschliches Wesen ist nicht sichtbar und trotzdem ist sie hier, ihre Augen sind das Licht der Provence, ihre Seele, ihr Geruch, ihr Atem werden immer in diesem Haus bleiben.

Wo immer ich im Lubéron auf meinen langen Wanderungen unterwegs bin, niemals bin ich alleine, Michèle, die Sonnenblume der Provence, ist in meinem Herzen. Und sollte mein Wunsch nicht in Erfüllung gehen, meine letzten Jahre im Lubéron verbringen zu können, dann bleibt mir zumindest die Gewissheit, dass nach meinem Tode meine letzte Ruhestätte hier sein wird; niemals werde ich gezwungen sein, das Land im Garten Eden der Provence, das mir ewige Ruhe vermittelt, wieder zu verlassen, und der Mistral wird meine Asche in meine geliebten Dörfer, Täler, Felder und Wälder tragen.


Provence forever

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