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Kapitel 2, Vorwärts

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Auf den Tag meiner Entlassung aus dem Krankenhaus hatte ich mich schon lange gefreut. Gleich am Morgen holte mich Saat ab und ich ließ das Zimmer, in dem ich seit der Verlegung von der Intensivstation gelebt hatte, endlich hinter mir. Saats Auto war klein und grau, was mich überraschte, ich hätte ihm einen auffälligen, lauten Wagen zugetraut. Während der Fahrt freute ich mich wie ein kleines Kind über all die neuen Eindrücke. Wir fuhren mitten durch die Stadt, damit ich viel zu sehen bekam - bunte Holzhäuser, belebte Plätze, unterirdische Kreisverkehre und graue Betonklötze. Was diese Stadt wirklich zu einer Besonderheit machte, war ihre Lage. Einerseits lag das Zentrum umschlossen von zwei Meeresarmen auf einer Insel, während sich zu allen Seiten hin Berge und Hügel erstreckten. Und andererseits - und vor allem – befand sie sich fast 350 Kilometer nördlich des Polarkreises. Saat wirkte seltsam zufrieden, als er mir davon erzählte. Im Sommer war die Sonne 24 Stunden am Tag zu sehen und wanderte wie ein Uhrzeiger immer und immer wieder um die Stadt herum. Im Winter schaffte sie es nicht einmal über den Horizont hinauf.

Wir verließen die Insel über eine imposante Brücke, die bestimmt einen Kilometer lang war und so hoch anstieg, dass Schiffe unter ihr durchfahren konnten. Auf dem Festland empfing uns ein mächtiges, dreieckiges Gebäude, die Eismeerkathedrale, wie Saat mir erklärte.

Nach einiger Zeit kamen wir in ein locker bebautes Vorstadtviertel und steuerten auf ein kleines Holzhaus zu.

„Das ist es!“, verkündete Saat mit einer so weiten Handbewegung, dass er an die Windschutzscheibe stieß. Mir war bereits aufgefallen, dass er einen Hang zu Theatralik hatte.

„Sieht nett aus“, sagte ich. „Sehr blau.“

„Passend zu meinen Augen...", blinzelte er.

„Sind wir ein wenig eitel?“

Er lachte. „Lass dir etwas Neues einfallen, Brüderchen.“

Er stieg aus dem Wagen, holte den Rollstuhl aus dem Kofferraum und trug ihn ins Haus.

„Halt! Den brauche ich hier!“, protestierte ich.

„Schon gut, ich trage dich“, sagte er. „Über die Schwelle. Prinzessin.“

„Du bist doof", maulte ich, während er mich hochhob. Das Getragenwerden war mir ohnehin so peinlich.

„Hausführung!“, verkündete er, nachdem er mich im Rollstuhl abgesetzt hatte. Er zeigte mir die Küche und das Wohnzimmer und ich murmelte etwas von schön und gemütlich. Dann schleppte er mich die Treppe hinauf. Oben waren das Badezimmer und die Sauna - die er nie benutzte, er konnte Hitze nicht ausstehen – und unsere beiden Zimmer. Meines war ziemlich klein, hatte aber ein großes Fenster, durch das ich auf den Fjord hinab sehen konnte.

Saat erklärte mir, wo er meine Sachen verstaut hatte. Er brauchte nicht lange dafür, ich besaß offenbar nicht viel. Als Willkommensgeschenk überreichte er mir ein Handy mit blauer Schleife. „Ich kann ja nicht riskieren, dass du mir verloren gehst", grinste er. Dann ließ er mich allein, um uns etwas zu Essen zu machen.

Ich zupfte die Schleife ab, schaltete das Handy ein und musste lachen. Er hatte meine eigene Nummer unter Werbinich eingespeichert und seine unter Tollerbruder.

Ich begann mich durchs Zimmer zu schieben und meine Sachen genauer zu untersuchen. Von ein paar wenigen Filmen und Büchern kannte ich Thema und Handlung, auch wenn ich natürlich keine Ahnung hatte, wann oder wo ich sie gelesen oder gesehen hatte. Bei den meisten jedoch erkannte ich noch nicht einmal die Titel. Das fand ich seltsam. Hatte ich so viele von ihnen nur besessen, ohne sie jemals auch nur genauer anzusehen?

So bleiben würde das jedenfalls nicht.

In der nächsten Zeit war ich oft alleine zu Hause. Saat musste jeden Tag, sogar am Wochenende, zur Universität fahren. Er studierte Informatik und hatte durch all die Zeit, die er bei mir im Krankenhaus verbracht hatte, viel nachzuholen. Das war soweit kein Problem, er stellte mir immer Unmengen von Essen aufs Zimmer und ich hatte meine Bücher. Aber ich fühlte mich gerade in den ersten paar Tagen oft einsam. Umsomehr freute ich mich, wenn er nach Hause kam und wir Zeit miteinander verbrachten. Wir blödelten dann viel und vermieden ernsthafte Gespräche. Manchmal saß ich einfach neben ihm in der Küche und sah ihm beim Kochen zu. Er kochte wahnsinnig gut und auffällig proteinreich. Woher er seine Kraft hatte, wusste ich inzwischen auch. Viermal pro Woche ging er zum Schwimmtraining. Er schwärmte mir regelmäßig davon vor und betonte jedes Mal, dass er mich dorthin mitnehmen würde, sobald ich wieder fit sei. „Du bist ja bloß Haut und Knochen!“

Die gelegentlichen Ausflüge ins Krankenhaus waren sehr viel weniger schrecklich, als ich befürchtet hatte. Manchmal freute ich mich sogar richtig darauf, etwa als ich meine Krücken bekam. Endlich war ich frei!

Zumindest ein bisschen.

Eigentlich recht wenig sogar. Ich konnte mich nicht kräftig genug abstützen, um über die Treppe zu gelangen, meine verletzten Arme taten noch zu sehr weh. So musste ich mich nach wie vor mit roten Ohren von Saat auf und ab tragen lassen, und saß, wann immer er nicht da war, im ersten Stock fest. Im Erdgeschoß zu sein hätte ich mir viel erträglicher vorgestellt, doch oben war die Toilette. Das frustrierte mich von Tag zu Tag mehr, bis ich irgendwann die Krücken einfach die Treppe hinab warf und ihnen Stufe für Stufe hinterherkroch. Stunden später kam ich als strahlender Held unten an. Das Zusammensetzen der Krückenteile dauerte weniger als zehn Minuten und ich humpelte fröhlich zur Haustür hinaus. Meine Wanderung endete in unserem Vorgarten, wo ich mich ins Gras setzte und die Spätsommersonne genoss. Bis Saat nach Hause kam, war ich leicht zerkratzt aber bester Laune wieder auf meinem Zimmer.

Ein paar Tage später verkündete ich ihm, nun bereit für die Schule zu sein.

„Hast du Fieber?“, fragte er.

„Ich meine das ernst!“, protestierte ich und schob seine Hand von meiner Stirn. „Mir ist langweilig!“

Er lachte. „Und wie stellst du dir das vor, mit den Krücken?“

„Ich habe geübt, ich komme damit schon richtig weit. Seit gestern schaffe ich es sogar über die Treppe!“

„Was heißt richtig weit? Von der Küche ins Wohnzimmer?“

„Nein, die Straße entlang und in der Nachbarschaft umher.“

„So? Und wieso erfahre ich das erst jetzt?“, fragte er und klang plötzlich, als hätte ich etwas verbrochen.

„Ich dachte, ich überrasche dich damit.“

„Dachtest du. Und treibst dich in einer Gegend herum, die du nicht kennst!“

„Was sollte mir hier denn zustoßen? Das ist die langweiligste Nachbarschaft der Welt.“

Ich sah ihm an, dass er versuchte, seine unnötige Wut hinunterzuschlucken. Vielleicht war er ja nur überarbeitet...

„Mit deinem Gips passt du doch nicht einmal in die Uniform", brummte er.

„Welche Uniform?“, fragte ich erschrocken.

„Die haben Schuluniformen auf der Erik Raske Skole.“

„Saat, ich muss wirklich nicht auf eine Privatschule gehen“, beteuerte ich ihm nun schon zum zweiten Mal. „Eine Öffentliche reicht mir vollkommen!“

„An der Bildung spart man nicht - und der Nachlass unserer Eltern reicht genau für dein Schulgeld.“

„Aber das ist doch auch dein Geld!“

„Eben. Ich kann bestimmen, was damit passiert. Außerdem... unsere Eltern hätten es so gewollt.“

Damit war ich schachmatt gesetzt. Was konnte ich gegen den Willen unserer toten Eltern und seine unheimliche Selbstlosigkeit schon ausrichten. Ich fragte ihn nicht einmal nach der Höhe des Erbes. Ich wollte mir nicht ausmalen, was ich damit alles machen könnte. Reisen zum Beispiel, die Welt kennen lernen. Da, schon war es passiert.

Jan, sei zufrieden, sagte ich mir immer wieder, Saat hat Recht.

Während ich mich am übernächsten Tag in die Schuluniform zwängte, kamen mir daran allerdings ernsthafte Zweifel.

Als ich das Haus verließ, war ich ziemlich aufgeregt. Angst hatte ich fast keine. Saat war schon fort, deshalb musste ich den ganzen Weg alleine finden. Er hatte mir alles genau erklärt und aufgeschrieben, ich war also zuversichtlich, mich vielleicht gar nicht zu verirren. Es begann gut, ich entdeckte die Haltestelle.

Der Bus war sehr voll, doch ein runzeliger alter Mann bestand darauf, mir seinen Platz zu überlassen. Er behauptete, vom Sitzen bekäme er ohnehin nur Blähungen. Während der nächsten 30 Minuten versuchte ich, so wenig wie möglich zu atmen. Der Bus schlängelte sich durch Vorstadtsiedlungen, überquerte dann den Meeresarm über die lange, hohe Brücke und begann im Zentrum erneut mit seinem Slalomkurs. Nach und nach leerte er sich. Zum Glück konnte ich meine Haltestelle nicht verpassen, ich musste nur den andere Uniformierten folgen. Blieb zu hoffen, dass sie nicht nur Statisten für einen Film über den ersten Weltkrieg waren... Einer von ihnen saß ganz in meiner Nähe, doch es gelang mir nicht einmal, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen, geschweige denn, mit ihm zu reden. Er blätterte nur unentwegt in seinen Schulunterlagen herum.

Die Erik Raske Skole war grau und imposant. Ein Eisentor führte in eine hohe Eingangshalle. Vor einer steinernen Treppe thronte eine enorme Uhr und obwohl es draußen warm war, war die Luft unangenehm kühl. Alle sahen sehr viel größer und klüger aus als ich und eilten kreuz und quer an mir vorbei. Niemand saß einfach nur herum, niemand rief oder lachte. Lärm erzeugte nur das Echo all der Schritte. Erwachsene standen mit strengen und wachsamen Blicken dazwischen, gelegentlich ermahnend, wenn jemand zu laut redete oder die Krawatte zu locker gebunden hatte. Und es gab noch nicht einmal Mädchen hier, wie ich plötzlich feststellte! Was hatte sich Saat nur dabei gedacht?

Ich stand hilflos auf der Stelle und wünschte mir, woanders zu sein, als einer der Aufseher auf mich zukam.

„Kein Herumstehen in der Halle", ermahnte er mich unfreundlich.

„Das wusste ich nicht", sagte ich und wehrte mich gegen das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. „Ich bin neu hier, ich soll mich in der Direktion melden.“

„Dritter Stock, Zimmer 3-01.“

„Oh... Gibt es vielleicht einen Aufzug?“

Er schielte auf meine Krücken. „Folgen Sie mir.“

Er führte mich quer durch die Halle und ich erhaschte einen Blick in eines der angrenzenden Klassenzimmer. Dort saßen alle still an ihren Plätzen und starrten in ihre Bücher, obwohl der Unterricht noch nicht einmal begonnen hatte. Vor dem Lehrerpult stand ein Schüler mit einem Schreibbrett in der Hand, offenbar mit der Aufgabe, die anderen zu beaufsichtigen. Wie schlau, sie gegeneinander auszuspielen...

Beim Aufzug angekommen, öffnete der Mann ein Metallkästchen, drückte darin auf einen Knopf und versperrte es wieder. Dann drehte er sich wortlos um und ging.

„Danke!“, rief ich ihm halbherzig hinterher und meine Stimme hallte von allen Seiten wieder.

Der Lift kam an und ratternd öffnete sich das Eisengitter davor. Ich seufzte und humpelte hinein.

Die Tür zur Direktion sah schwer aus und war – kein Scherz – pechschwarz. Wenn die Direktorin damit erreichen wollte, dass man sich schon vor dem Eintreten fürchtete, gelang ihr das vortrefflich.

Ich holte tief Luft und klopfte an.

„Herein!“, rief eine dünne Stimme und ich gehorchte.

Mitten in einem Raum mit hohen, gotischen Fenstern stand ein penibel ordentlicher Schreibtisch. Dahinter ragte der lange, dürre Oberkörper einer älteren Frau empor. Ihre Haare waren streng zurückgebunden und schimmerten grünlich. Sie sah aus wie ein lebender Ast.

„Jan Hansen, nehme ich an", sagte sie, meinen Namen von einem braunen Umschlag ablesend.

„Ja“, antwortete ich, irritiert von ihrer Stimme.

Sie sah mich abschätzend an. „Dies ist eine Schule von ausgezeichnetem Ruf", sagte sie ohne jede Begrüßung oder Vorstellung, „Und ich sorge dafür, dass das so bleibt. Schüler nicht nur aus Norwegen kommen hierher um unterrichtet zu werden und wir verlangen EISERNE DISZIPLIN.“ Bei diesen Worten klopfte sie mit ihrem knochigen Zeigefinger auf die Tischplatte. „Sie wollen keinen Spaß haben, Sie wollen LERNEN.“

Wenn sie bloß mit dem Geklopfe aufhören würde...

„Deshalb setzen wir EINSATZ und HARTE ARBEIT voraus. Ich nehme an, das ist Ihnen bewusst.“

„Ja“

„Gut. Nehmen Sie Platz.“

Was? Nein! Ich will hier nicht bleiben! Ich meinte ‚Ja, das kann ich mir denken’!

Brav setzte ich mich hin.

„Ich habe hier Ihre Zeugnisse. Ihr Notendurchschnitt entspricht unseren Aufnahmeanforderungen. Allerdings sind mir Ihre...“ - sie machte eine nervige kleine Handbewegung - „ jüngsten Umstände bekannt...“

Als mir klar wurde, was sie meinte, schoss mir das Blut in den Kopf und ich vergaß darüber ganz, eingeschüchtert zu sein. „Dass ich Amnesie habe, heißt nicht, dass ich dumm bin!“

„Wir werden sehen."

„Ja, werden wir wohl“, sagte ich und bereute es schon im nächsten Moment. Damit war der Pakt mit dem Teufel besiegelt.

„Es gibt keinen Grund, UNDISZIPLINIERT zu werden“, mahnte sie und klopfte schon wieder. Dann zog sie einen braunen Zettel aus dem braunen Kuvert. „Dies wird Ihr individueller Stundenplan für das kommende Semester sein. An meiner Schule entscheiden wir Pädagogen, welche Fächer für Sie am geeignetsten sind. Sie werden jede Unterrichtsstunde in einem anderen Klassenraum verbringen, mit wechselnden Mitschülern. Wir sind der Auffassung, dass zu enge emotionale Bindungen das Konkurrenzdenken untergraben. Und dieses ist für Erfolg schließlich unabdingbar. Die Pausen werden Sie folglich verwenden, um sich auf anschließende Stunden vorzubereiten und nicht, um Ihre kleinen Geschichtchen auszutauschen. In jedem der Fächer müssen Sie jederzeit damit rechnen, über den aktuellen Unterrichtsstoff befragt zu werden. Des Weiteren werden Sie mehrmals pro Jahr Klausuren schreiben. Namen Ihrer Lehrpersonen und Raumnummern finden Sie hier.“ Sie drückte mir den Stundenplan in die Hand und im selben Moment erschallte ein dumpfer Gong - ein Zeichen, das ich nicht hätte ignorieren sollen. „Wie Sie hörten, hat es soeben geläutet. Weisen Sie Ihrem Professor diese Entschuldigung für Ihre Verspätung vor.“ Sie zog ein braunes Kärtchen mit einer großen ‚2’ aus einer Schatulle. „Zwei Minuten, das wird reichen. Gehen Sie nun. Guten Tag.“

Gut wurde der Tag keineswegs. Der Unterricht war so anstrengend, dass mir der Kopf schwirrte. Außerdem bekam ich bereits heute zwei Vermerke wegen Verspätung, da ich mich im Anschluss an jedes Fach kurz über den versäumten Stoff informieren wollte, mich gelegentlich verlief und nicht immer jemanden fand, der den Lift für mich rief. Als die Schule endlich aus war, war ich erschöpft und mutlos. Ich fragte mich, wie ich es jemals schaffen sollte, alles nachzuholen, ohne gleichzeitig mit dem aktuellen Schulstoff in Verzug zu kommen. Außerdem war ich enttäuscht über die abweisende Art meiner Mitschüler und der Lehrer und ganz nebenbei auch noch furchtbar hungrig. Saat hatte mir riesige Brote eingepackt, doch bis zum Unterrichtsende hatte ich keine Zeit gehabt, davon auch nur einen Bissen zu nehmen. Umso gieriger machte ich mich auf der Heimfahrt darüber her. Ich war gerade dabei, meinen Kummer und mein Schinkensandwich mit einem Schluck Milch hinunterzuspülen, als etwas im vorderen Teil des Busses meine Aufmerksamkeit erregte. Es war das Lachen des Mädchens, das eben eingestiegen war. Sie unterhielt sich mit dem Fahrer und ich verstand nicht, was sie sagte, doch aus irgendeinem Grund konnte ich meinen Blick nicht mehr von ihr abwenden.

Plötzlich kam sie auf mich zu. Erschrocken erinnerte ich mich an meine vollen Backen und verschluckte mich so unglücklich, dass meine Augen tränten. Für einen Augenblick glaubte ich, ein Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen, dann ließ sie sich zwei Reihen vor mir auf einen leeren Sitz nieder. Ich klopfte mir hustend auf die Brust.

Von nun an nahm die Schule beinahe all meine Zeit in Anspruch. Sogar die morgendliche Busfahrt nutzte ich zum Lernen, wie die anderen Erik-Raske-Schüler auch. Nur die Heimfahrt reservierte ich mir als Zeit für mich, um Bücher zu lesen oder... na ja, um dieses Mädchen zu beobachten, das jeden Tag ein paar Stationen nach mir einstieg. Sie war so, ich weiß nicht ... Zum Beispiel ihre Augen: Die strahlten frech und selbstbewusst, selbst wenn sie gerade beinahe auf die Nase fiel. Ihr Haar war kurz und wirr und ließ sie unheimlich übermütig aussehen. Und ihre Sommersprossen! Die hätte man am liebsten eingesammelt und in einer Zündholzschachtel aufbewahrt. Sie trug einen feinen silbernen Ring in der Unterlippe und ihre Kleidung war nie einfach nur... normal. Wenn sie Musik hörte, konnte man sehen, wann sie an den besten Stellen war, dann bewegte sie die Lippen zum Text und wippte mit dem Kopf. Beim Einsteigen fragte sie den Fahrer oft, wie es ihm denn heute ginge - und dem Rücken? Und der Katze? Und ich begann zu überlegen, ob ich nicht Busfahrer werden sollte. Sobald sie in meiner Nähe war, konnten meine Bücher jedenfalls nicht mehr mit meiner ungeteilten Aufmerksamkeit rechnen.

Endlich war es soweit: Mein letzter Gips wurde mir abgenommen. Das Jucken darunter war inzwischen unerträglich geworden und ich hatte Blasen an den Händen von den Krücken - es war also wirklich höchste Zeit. Das Auftreten tat mir allerdings noch sehr weh. Um mein Bein sanft wieder an Bewegung zu gewöhnen, gab es laut Saat nichts Besseres - wer hätte es erraten - als zu schwimmen. Und so fuhren wir noch am selben Abend in sein Lieblingshallenbad.

So sehr ich mich auf das Wasser gefreut hatte, in Badehose neben Saat zu stehen tat meinem Selbstvertrauen nicht gut. Er war gestählt und durchtrainiert und ich war nach meinem langen Genesungsprozess dürr und schwach. Damit nicht genug, liefen überall blöde Sportschwimmer herum. Angeber, dachte ich düster. Mir war klar, dass sie das mit Absicht machten.

Was mein Bein betraf, hatte Saat jedenfalls Recht gehabt: Sobald es unter Wasser war, taten die meisten Bewegungen schon weniger weh. Nach einer Weile konnte ich sogar vorsichtig ein paar Längen schwimmen. Das machte Spaß und fühlte sich gut an. Vor der Heimfahrt fragte ich meinen Bruder, wann wir wiederkommen würden.

„Morgen", sagte er und grinste zufrieden.

Als die ersten Examen anstanden, verlor ich beinahe die Nerven. Das einzige, was mich davon abhielt, alles hinzuwerfen, war Saats enormes Motivationstalent. Nur dank ihm fand ich in dieser Anfangsphase immer wieder zu einer einigermaßen positiven Einstellung zurück.

Mit der Zeit lernte ich, mit den Versagensängsten, dem Druck und der vielen Arbeit umzugehen. Es wurde für mich zur Routine, an den Nachmittagen und sogar an den Wochenenden kaum etwas anderes zu tun, als zu arbeiten und zu lernen. In kurzen Entspannungspausen sah ich fern oder ging bald auch schon ein Stück laufen, auf jeden Fall aber ging ich nun fast jeden Abend mit Saat schwimmen. Wie er vorausgesagt hatte, war das der ideale Ausgleich für meine anstrengenden Tage. Saat war auch was den Sport betraf ein toller Motivator. Er brachte mir verschiedenste Schwimmtechniken bei und spornte mich mit Zeitmessungen und viel Lob an.

Aufgrund meiner durchgeplanten Tage dachte ich eigentlich kaum noch über meine Amnesie nach. Nur in den Therapiesitzungen war ich gezwungen, mich damit auseinanderzusetzen - und es war frustrierend. Mein Therapeut bat mich, persönliche Dinge aus der Zeit vor dem Unfall mitzubringen und ich musste versuchen, über sie eine Brücke in die Vergangenheit zu schlagen. Doch im Brückenbau war ich offenbar eine Niete. Ich wäre gerne seinem Vorschlag gefolgt, nach Oslo zu fahren, um die Orte meiner Vergangenheit zu besuchen, doch leider meinte Saat, dass wir dafür viel Zeit brauchen würden, und die hatten wir beide im Moment nicht. Er versprach mir, dass wir in den Sommerferien dorthin reisen würden. Dass er mich früher schon alleine fahren ließ, kam leider nicht in Frage. Manchmal haderte ich mit meinem Schicksal, doch wenn ich an meine toten Eltern dachte, kam ich mir schäbig vor. Ich sollte dankbar für mein Leben sein. Mein Glaube, meine Erinnerung wiederzuerlangen, wurde jedenfalls von Woche zu Woche kleiner. Ich begriff langsam, dass ich mir zu große Hoffnungen gemacht hatte. Stattdessen redete ich mir ein, dass ich auch gut ohne meine Vergangenheit klarkommen konnte. Es gab ohnehin niemanden, der mich vermisste. Von den wenigen Menschen, die meinem alten Ich wichtig gewesen waren, war nur noch Saat am Leben. Und den kannte ich nun wahrscheinlich besser, als ich es sonst jemals getan hätte.

Irgendwann im Spätherbst verkündete ich ihm schließlich, dass ich die Therapie absetzen wollte. Sie war nichts als eine zeitliche Zusatzbelastung für mich. Und obwohl er mich nach jeder Sitzung gefragt hatte, was wir gerade machten und wie es voranging, willigte er sofort ein. Ich konnte es kaum fassen. Woher kam seine plötzlichen Akzeptanz für meine Entscheidungen? Ich hatte das Gefühl, dass dies der erste Schritt in eine einfachere Zukunft sein konnte.

Wie sehr ich mich täuschte.

Mit dem Fortschreiten der Jahreszeit wurde es immer dunkler in Tromsø und ich wünschte mir die langen Tage des Sommers zurück. Außerdem wurde es kalt. Der einzige Grund, warum es sich hier, so hoch im Norden im Winter überhaupt aushalten ließ, war Europas gigantisches Fernheizwerk, der Golfstrom. Das Wasser, das Norwegens Küste entlangströmt, hat den weiten Weg aus der Karibik hinter sich und hält noch immer gewaltige Mengen Wärme gespeichert. Genug, um das Meer beinahe eisfrei zu halten und sogar genug, um der Luft ein paar Minusgrade zu nehmen. Einen wirklich guten Anorak brauchte man trotzdem. Und gute Schuhe, denn mit der Kälte kam der Schnee. Berge von Schnee. Irgendwann ging die Sonne überhaupt nicht mehr auf und alles war während des Tages in düsteres, blaues Licht getaucht. In den Klassenzimmern wurden Tageslichtlampen aufgestellt und Weihnachtsbeleuchtungen erblühten überall in der Stadt. Die waren schön und stimmungsvoll, trotzdem suchte ich die Dunkelheit. Dies war nämlich auch die Jahreszeit, in der eine ganz besondere Magie des Nordens erwachte: Das Polarlicht. Es war scheu und man durfte nicht darauf warten – und ihm schon gar nicht winken, so sagten die Alten. Doch mit ein wenig Glück konnte man es nun in klaren Nächten über den schwarzen Himmel tanzen sehen, stumm und mystisch. Beinahe hätte ich mir mein Bein beim Joggen noch einmal abgebrochen, so hypnotisiert war ich von seinem gespenstischen Grün. Im Stürzen war ich jedoch geübt, ich machte es fast jeden Morgen. Ich blieb immer so lange wie möglich im Bett, wodurch meine Tage meist mit einem Sprint zur Bushaltestelle begannen. Im Stadtzentrum gab es beheizte Gehsteige, doch hier in den Vororten konnten sich Eis und Schnee austoben - und so unterhielt ich regelmäßig den gesamten bereits wartenden Bus mit meinen Bruchlandungen.

Trotzdem hätte ich nie auf das Fahren mit dem Bus verzichten wollen - zumindest nicht auf die Heimfahrt. Es war unheimlich, wie sehr ich mich immer freute, sie zu sehen. Natürlich hätte ich es nie gewagt, sie anzusprechen, doch eines wundervollen, dunkelgrauen Tages...

Robinson.Leva

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