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Kapitel 3, Engel
ОглавлениеIch las gerade Robinson Crusoe und beneidete ihn um seine sonnige Kannibaleninsel, da stand sie plötzlich da.
„He Robinson, ist der Platz noch frei?“, fragte sie und zeigte auf den Sitz neben mir.
Mein Gehirn begann sich herunterzufahren.
Ich nickte mit rot glühenden Ohren und zog meine Schultasche beiseite. Sie setzte sich. Ein Duft von Blumen stieg mir in die Nase.
„Du magst dieses Buch, was?“, sagte sie neugierig.
Erschrocken lugte ich hinter meinem Versteck hervor.
„Du liest es jetzt schon zum zweiten Mal.“
Sie hatte mich bemerkt!
„Ja, es ist... toll", sagte ich tapfer.
„Ich hab’s auch gelesen", sagte sie.
„Wie hat es dir gefallen?“, fragte ich, und war stolz, dass mir so schnell eine Frage eingefallen war.
„Gut. Ich steh voll auf Freitag", grinste sie.
Ist es normal, auf eine Person aus einem 300 Jahre alten Roman eifersüchtig zu sein?
„Äh ja, der ist ganz nett“, sagte ich.
„Am Liebsten mag ich die Stelle, als Robinson den Fußabdruck im Sand findet. Die fand ich so spannend, ich hatte richtig Angst!“
Sie sah mich an. Ich sah nichts mehr.
„Und du?“, fragte sie.
„Ich... ich hatte eigentlich keine Angst", sagte ich und sie lachte. Ihre Augen funkelten und auf ihrer Nase bildeten sich kleine Fältchen, die ihre Sommersprossen zum Tanzen brachten. „Und was magst du am liebsten?“
Ich überlegte hastig. „Ich mag... wie gut Robinson mit der Einsamkeit umgeht!“
Sie sah mich forschend an und ich bereute augenblicklich, dass ich das gesagt hatte. „Wie er zurechtkommt, so ganz allein...“, nickte sie schließlich.
„Und sein Essen selbst sammelt und jagt", sagte ich schnell. „Und all die Dinge, die er sich baut. Seine Festung, die Kanus...“
„Nicht zu vergessen die praktischen Sonnenschirme“, grinste sie.
„Ja, die auch", lachte ich. Plötzlich fühlte ich mich wohl.
Wir diskutierten über das Buch und seine guten und schlechten Seiten. Wir nahmen es Robinson beide übel, dass er glaubte, Freitag 'zivilisieren' zu müssen. Als Gesprächsthema eignete er sich aber ausgezeichnet. Irgendwann fand ich, dass er für heute genug geleistet hatte.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte ich, was äußerst mutig von mir war.
„Dala", sagte sie und sah mich herausfordernd an. „Los, frag schon, was für ein komischer Name das ist!“
„Nein, ich finde ihn schön", sagte ich und spürte, wie ich rot wurde. „Mein Bruder hat auch einen ungewöhnlichen Namen“, schickte ich eilig hinterher. „Er heißt Saat.“
„Stimmt, das ist ungewöhnlich.“, sagte sie. „Und... wie heißt du?“
„Ich-“ Ich räusperte mich. „Ich heiße Jan.“
„Jan... Weißt du was?“, schmunzelte sie. „Ich glaube, ich bleibe lieber bei Robinson. Das passt besser zu dir.“
Ich zuckte mit dem Schultern und grinste.
„Du gehst auf die Erik Raske Skole, was?“, sagte sie.
„Ja, woher weißt du das?“
„Die Uniform.“
„Ach ja." Ich lockerte meine Krawatte.
„Mein Bruder war auch dort. Er fands furchtbar.“
„Ich auch!“, rief ich. „Hat dir dein Bruder von der Direktorin erzählt?“
Sie nickte. „Sie hat ihm mal Nachsitzen verpasst, weil er in der Eingangshalle gelacht hat ... Stimmt es, dass sie aussieht wie eine Stabheuschrecke?“
Ich lachte. „Das trifft es genau.“
„Ich bin nur froh, dass die nur Jungen aufnehmen“, sagte Dala. „Sonst hätte mich meine Mutter bestimmt auch dorthin geschickt.“
Ich musste schlucken, um diese Ungerechtigkeit zu verkraften. „Wo gehst du zu Schule?“, fragte ich. Vielleicht konnte ich ja wechseln...
„Nirgends", sagte sie. „Kennst du das Fjellrev Altersheim? Das ist das gelbe Gebäude hinter meiner Haltestelle. Dort mache ich gerade ein Praktikum.“
„Oh. Das ist... gut", sagte ich überrascht.
Sie lachte.
„Das heißt, du hast nach den Pflichtschuljahren beschlossen, gleich Arbeiten zu gehen?“, fragte ich und hoffte inständig, dass sie mir jetzt nicht erklärte, 23 zu sein und nur jung auszusehen.
„Nein, ich mache ein Jahr Pause. Im Sommer fang ich mit der oberen Sekundarstufe an.“
„Du bist also jetzt auch 16 oder so?“
„Äh, ja.“
Ich konnte mir ein erleichtertes Grinsen nicht verkneifen.
„Altersheim also... Klingt interessant!“, sagte ich, bevor sie mich fragen konnte, was so lustig war. „Was machst du dort?“
„Aufpassen, dass uns niemand abhaut", lachte sie. „Im Ernst jetzt, Herr Myklebust verirrt sich jeden Tag in der Stadt und ich muss ihn suchen gehen... Manchmal kommen mir die alten Leute vor wie kleine Kinder. Frau Aune ist auch ein gutes Beispiel. Die klaut immer Rührei beim Frühstück und versteckt es unter ihrem Kopfkissen.“
„Ist doch klar, sie will sich etwas für später aufheben“, lachte ich.
„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie oft wir ihr schon erklärt haben, dass sie jederzeit was bekommt", sagte Dala. „Aber es nützt alles nichts. Und wir wissen nicht einmal, wie sie das immer wieder schafft! Ihre Hände sind leer wenn sie vom Frühstück auf ihr Zimmer geht, ihre Taschen genauso!“
„Wie viel nimmt sie denn mit?“, fragte ich.
„Nicht viel, ein kleines Häufchen.“
„Und... redet sie viel?“
„Na ja, sie diskutiert gern mit sich selbst.“
Ich grinste. „Auch nach dem Essen?“
„Nein, da nimmt sie die Zähne raus.“ Plötzlich machte Dala große Augen. „Du meinst - in den Backen, wie ein Hamster?“
Ich lachte. „Könnte doch sein!“
„Robinson, du bist ein Genie! Auf die Idee hätt’ ich auch mal kommen können!“
Ich war ein Genie.
„Oh", sagte sie plötzlich, während ich selbstzufrieden vor mich hin grinste. „Hättest du nicht gerade aussteigen müssen?“
Nein, jetzt schon...? Ich sah zum ersten Mal seit sie neben mir saß aus dem Fenster.
„Stimmt", sagte ich cool. Nur meine Ohren wurden natürlich rot.
Sie lachte und stand auf, um mich nach draußen zu lassen.
„Bist du morgen wieder im Bus?“, fragte sie.
„Ja, wie immer. Und du?“
„Wie immer.“
„Na dann... bis morgen?“, fragte ich unsicher, während der Bus auch schon an der nächsten Station hielt.
„Ja, bis morgen!“, nickte sie und schenkte mir ein Lächeln, von dem auch noch der Rest meines Kopfes zu glühen begann.
Auf dem Heimweg konnte ich mein Grinsen kaum abstellen. Am liebsten hätte ich mich auf den Rücken geworfen und Schneeengel gemacht. Ich hatte mit dem Mädchen im Bus geredet! Dala... Ein richtiges Gespräch! Nicht mit Saat oder einem Therapeuten, sondern eine lange, lustige Unterhaltung, mit ihr!
Plötzlich läutete mein Handy.
„Jan, wo bist du?“
Es war Saat. Natürlich, niemand sonst hatte meine Nummer.
„Ich bin eine Station zu spät ausgestiegen.“
„Wieso?“
„Aus Versehen. Ich bin in einer Minute zu Hause.“
Er war immer so überbeschützend. Natürlich, er sorgte sich um mich und wollte alles richtig machen, wohl auch wegen unserer toten Eltern. Manchmal hatte ich das Gefühl, er machte sich Vorwürfe, dass er damals nach Tromsø abgehauen war. So gut seine Fürsorge gemeint war, sie war jedenfalls anstrengend. Heute konnte er mir damit jedoch bestimmt nicht die Laune verderben...
In unserem verschneiten, blauen Häuschen duftete es wie immer nach herrlichem Essen.
„So, hier bin ich. Wohlauf und unversehrt", sagte ich fröhlich, als ich die Küche betrat.
„Was war los?“, fragte Saat.
„Ich bin im Bus eingeschlafen", log ich. Ich hatte beschlossen, ihm jetzt nichts von Dala zu erzählen. Er benahm sich gerade viel zu elterlich.
Er sah mich kritisch an.
„Ich war so müde!“, sagte ich.
„Du siehst hellwach aus.“
„Na, weil ich doch gerade geschlafen habe!“ Ich verkniff mir ein Grinsen.
Sein Blick war misstrauisch, doch er schien zu begreifen, dass er im Moment nicht mehr erfahren würde. „Na gut, setz dich", sagte er, und ich machte mich hungrig über den Berg Essen her, den er vor mir auf den Tisch stellte.
Eine meiner Hausaufgaben an diesem Abend war ein Aufsatz über Bjørnstjerne Bjørnsons Daglannet. Konsequent schrieb ich den Title des Werks immer wieder ohne g in der Mitte. Als mir mein Fehler auffiel, grinste ich und hielt es für einen Wink des Schicksals. In der Nacht schlief ich nicht besonders gut, ich war zu aufgeregt. Mein Gespräch mit Dala schlug in meinem Kopf Purzelbäume. Mit ihr zu reden war das Tollste gewesen, was ich in vier Monaten gemacht hatte. In vier Monaten, die alles waren, was ich vom Leben kannte. Die mit Schmerzen und Angst begonnen hatten und mir Überlastung und Einsamkeit gebracht hatten. Nun hatte ich die Chance auf Freundschaft – und vielleicht sogar mehr. Wenn ich nur daran dachte, klopfte mir das Herz bis zum Hals. Es war mir egal, dass ich nicht schlief. Ich stellte mir ihr Lächeln vor und fragte mich, wie sie das bloß machte, mit dem Leuchten.
Meine Vorfreude dauerte noch den ganzen nächsten Schultag über an, erst am Heimweg im Bus bekam ich plötzlich Angst. Es lag vielleicht an der Raske Skole, doch ich hatte das Gefühl, ich hätte mich vorbereiten müssen. Was, wenn wir nur stumm nebeneinander saßen und nicht wussten, was wir reden sollten? Das hieß... falls sie sich überhaupt wieder neben mich setzte!
Ruhig bleiben, durchatmen. Sie hatte 'Bis morgen' gesagt. Also, was fragten sich Leute in Unterhaltungen? ... Wie geht es dir? Und: Schönes Wetter heute, nicht wahr? Und dann... Hobbys! Jeder Mensch hatte doch Hobbys!
Plötzlich hielt der Bus an ihrer Haltestelle. Ich starrte aus dem Fenster. Wo war sie? Sie war nicht da! War es wegen mir? Sie hasste mich! Wie konnte es anders sein? Es gab wohl einen Grund, warum ich keine Freunde gehabt hatte in meinem früheren Leben...
Die Tür des Altersheims flog auf, sie schoss heraus und stolperte über die Rollstuhlrampe herab. Im selben Moment heulte der Motor des Busses auf.
„Halt!“, rief ich und alle sahen mich an, da trommelte sie auch schon von draußen gegen die Tür. Der Fahrer öffnete noch einmal und sie kam hereingekrochen.
„Danke Jens, hast was gut bei mir", keuchte sie.
Vielleicht wurde ich wirklich Busfahrer.
Sie entdeckte mich und winkte. Mir wurde heiß. Oder kalt, das ließ sich nicht so genau sagen. Ich hob die Hand und winkte albern zurück.
Sekunden später saß sie neben mir. „Hi Rob, wie geht’s?“, fragte sie außer Atem.
„Gut! Schönes Wetter heute, nicht wahr?“, stammelte ich. Sie hatte meine erste Frage geklaut!
Sie sah mich an und dann aus dem Fenster. Ich folgte ihrem Blick. Draußen war es dunkel und grau.
„Hast du eigentlich irgendwelche Hobbys?“, fragte ich hastig.
Jetzt sah sie wirklich verwirrt aus und ich wäre am liebsten im Boden versunken, auf die salzige Straße gestürzt, von einem Lieferwagen überfahren worden und erfroren.
Plötzlich huschte ein Schmunzeln über ihr Gesicht. „Du hast dir Fragen überlegt?“
Ich nickte, rot wie eine Ampel.
„Ist ja süß", lachte sie.
Süß?
„Weißt du, ich habe tatsächlich ein paar Hobbys...“
Lieber süß als doof.
„Ich hör’ furchtbar gern Musik. Und ich male gerne.“
„S-so?“, stammelte ich.
„Ja, ich bemale einfach alles! Am Anfang meines Praktikums hätten sie mich fast hinausgeworfen, weil ich ein paar Kopfkissen verziert habe. Das war wirklich unfair, die alten Leute fanden es schön, auf Blumenwiesen zu schlafen!“
Es war sehr anständig von ihr, nicht auf meinen kläglichen Unterhaltungsversuchen herumzureiten.
„Du hattest übrigens Recht mit Frau Aune! Wir sind ihr heute auf die Schliche gekommen: Sobald sie satt ist, kommt das Gebiss raus und das Rührei rein. Das fällt überhaupt nicht auf, so ein zahnloser Mund schaut ja immer komisch aus. Du bist wirklich ein Genie, Rob! Das erspart uns und der Wäscherei eine Menge Arbeit.“
Mein Selbstbewusstsein erholte sich plötzlich prächtig.
„Das Problem war nur, dass die arme Frau Aune völlig aufgelöst war, als wirs herausgefunden haben. Sie hat geschrien, wir nähmen ihr hier alles weg und den ganzen Tag lang geweint.“
„Oh.“
„Ja, es war herzzerreißend. Deshalb hätte ich auch beinahe den Bus verpasst. Ich konnte doch nicht gehen, bevor ich es geschafft hatte, sie zu trösten!“
„Natürlich... Wie hast du es geschafft?“
Sie grinste. „Wir werden jetzt jeden Morgen gemeinsam einen Apfel vom Frühstücksbuffet klauen.“
Dala beim Erzählen zuzuhören war wie Musik, nur lustiger. Über ein paar Umwege gelangten wir wieder zu ihrem Hobby, dem Zeichnen und Malen. Ich fragte mich, warum ich mich nicht schon früher dafür interessiert hatte. Das Bild, das sie an die Wand ihres Zimmers gemalt hatte, musste ich unbedingt sehen!
„He“, sagte sie irgendwann. „Du hast mir noch gar nichts von deinen Hobbys erzählt!“
„Ach ja...", murmelte ich und überlegte, ob ich Hobbys hatte. „Ich lese gerne.“
„Das zählt nicht, das wusste ich ja schon!“, lachte sie. „Was noch?“
„Ich gehe gerne schwimmen.“
„Schwimmen? Mit Wintersport wärst du hier aber besser dran!“
„Ich gehe ja in die Halle", erklärte ich. „Längen schwimmen, nicht herumplanschen.“
„Natürlich", sagte sie mit ernster Miene, doch mit lachenden Augen. „Machst du das oft?"
„Ja, fast jeden Abend.“
„Echt wahr?“, staunte sie. „Na, jetzt wo du’s sagst: Du hast einen Schwimmerkörper!“
Ich wurde schon wieder rot. Was machte sie nur mit mir?
Um ihre Lippen zuckte ein Schmunzeln. „Und... gehst du immer alleine schwimmen?“
„Nein, mit Saat. Er hat mich erst darauf gebracht", sagte ich. Doch plötzlich fiel mir auf, dass diese Frage auch etwas anderes bedeuten konnte. „Aber du könntest trotzdem gerne mitkommen!“, rief ich schnell.
„Oh, nein, nein! So hab ich das nicht gemeint!“, wehrte sie beinahe erschrocken ab. „Ich bin keine große Schwimmerin.“
„Ach...", sagte ich enttäuscht. Jetzt wo ich wusste, dass ich einen Schwimmerkörper hatte...
„Unternimmst du viel mit deinem Bruder?“, fragte sie.
„Ja, eigentlich alles", sagte ich. „Ich... ich bin im Sommer erst nach Tromsø gezogen und lebe jetzt bei ihm.“ Ich hatte keine Lust, ihr von meiner Amnesie zu erzählen. Ich wollte so normal wie möglich erscheinen, nachdem ich mich heute ohnehin schon zum Affen gemacht hatte.
„Wie schön!“, sagte sie. „Ich wünschte, ich könnte auch bei meinem Bruder leben. Haben dich deine Eltern einfach so wegziehen lassen, mit – wie alt bist du?“
„16.“
„Mit 16 Jahren?“
„Ähm, nein, sie sind tot.“
„Oh...! Das tut mir furchtbar leid, ich hätte nicht fragen sollen!“, rief sie erschrocken.
„Schon gut, woher hättest du das denn wissen sollen?“, sagte ich schnell. „Also dein Bruder lebt nicht mehr bei euch zu Hause?“
„Nein, Alex lebt jetzt in Wien", sagte sie, offenbar froh über meinen Themenwechsel. „Ich vermisse ihn ziemlich. Ich bin jetzt praktisch mit meinem Vater allein, meine Mutter ist so selten zu Hause. Alex hätte mich sogar mitgenommen, aber meine Eltern sagen, er sei noch zu jung, um für mich zu sorgen.“
„Wie alt ist er denn?“
„Er ist ähm... 20.“
„Saat ist 23. Aber, na ja, ich bin ja auch kein Kind mehr. Und für meinen Geschmack könnte er sich ruhig etwas weniger... verantwortungsbewusst verhalten. Gestern hat er mich doch tatsächlich angerufen, als ich nicht pünktlich zu Hause war!“
„Ach ja, das hatte ich fast vergessen!“, grinste sie. „Hast du dich verirrt?“
„Nein", sagte ich cool. „In 15 Minuten war ich daheim.“
„Gut, dann schaffst du’s ja heute vielleicht in 10.“ Und sie deutete aus dem Fenster, wo gerade meine Haltestelle vorbeifuhr.
Obwohl in der Schule eine Prüfung die nächste jagte, vergingen die kommenden zwei Wochen vor den Julferien viel zu schnell. Der Grund dafür war natürlich Dala, die die tägliche gemeinsame Busfahrt zur besten Zeit des Tages machte. Sie nahm mich noch ernst, wenn ich mich selbst schon lange blöd fand und sie verstand sogar meine unverständlichsten, längsten, verschachteltsten Sätze. Wir lachten über dieselben Dinge und ich wurde von Tag zu Tag sicherer, dass auch sie mich mochte. Wie sehr ich in Wirklichkeit auf sie stand, zeigte ich ihr natürlich nicht, das wäre nach so kurzer Zeit kein gutes Timing gewesen - ich hatte trotz meiner wenigen Freizeit genug ferngesehen, um das zu wissen. Entsprechend vorsichtig war ich, als ich sie während der letzten Busfahrt vor Weihnachten fragte, ob wir uns in den Ferien vielleicht einmal treffen wollten.
Was herauskam, war der komplizierteste Satz, der jemals nördlich des Polarkreises formuliert worden war und ein einfaches Nein als Antwort. Ihre Familie würde die nächsten zwei Wochen in Italien bei den Großeltern verbringen. Ich konnte meine Enttäuschung nur schwer verbergen.
Am 24. Dezember durchsuchten Saat und ich das ganzen Haus nach Dingen, die glänzten. Wir hatten einen Weihnachtsbaum gekauft und verbrachten den Nachmittag damit, ihn zu dekorieren. Am besten eigneten sich Löffel, Powerriegel und Alufolie. Darüber kamen als Schneeflocken Wattepads, mit denen ich normalerweise mein Gesicht mit Antipickelmittel einrieb. Der Baum sah prachtvoll aus.
Gegen Abend kochte Saat ein mehrgängiges Menü und ich half ihm dabei, so gut ich konnte. Wir gingen damit ins Wohnzimmer, suchten die Kerzen unter all dem Schmuck am Baum und zündeten sie an.
Als wir mit dem herrlichen Essen fertig waren, richteten wir uns stöhnend auf und überreichten uns unsere Geschenke. Saat hatte mir einen grünen, gestrickten Großvaterpullover gekauft, der gut zu meiner sonstigen Kleidung passte – das meiste von dem, was ich von meinem alten Ich geerbt hatte, gefiel mir nämlich auch nicht. Ich freute mich höchst angemessen. Für mein Geschenk an ihn hatte ich die paar Kronen zusammengespart, die mir von Busgeld übrigblieben. Saat lachte lauthals, als er den kleinen Kamm auspackte und fuhr sich damit über den kurzgeschorenen Kopf. Ich grinste zufrieden. Bis Mitternacht spielten wir ein Kartenspiel mit Sonderregeln, die Saat selbst erfunden hatte, was er natürlich nicht zugab.
Auch wenn ich mich an kein anderes Julfest erinnern konnte, war mir später im Bett klar, dass dieses seltsam gewesen war. Doch irgendwie hatte es Spaß gemacht. Und ich war froh, dass Saat offenbar nicht zu sehr an unsere Eltern gedacht hatte. Ich hatte befürchtet, dieser Abend könnte sehr traurig für ihn werden.
In den kommenden Tagen schlief ich jeden Morgen immer noch länger, es wurde ohnehin nie richtig hell. Spätestens zu Mittag warf Saat mich jedoch aus dem Bett, um mich mit wundervollen Speisen zu mästen. Für jeden Nachmittag hatte er eine andere sportliche Aktivität geplant. Ich kann sein Motivationstalent nicht genug betonen. Immer wieder brachte er mich dazu, an meine Grenzen zu gehen und mich weiter zu steigern. Und Dala hatte nicht Unrecht gehabt: Man sah es mir an. Mein Körper war bereits deutlich kräftiger geworden.
Nachdem die Hälfte der Ferien vergangen war, wurde ich nervös. Ich musste endlich wieder für die Schule arbeiten! Ich räumte also erst einmal mein Zimmer auf, bis ich mich darin nicht mehr wohlfühlte. Dann ölte ich die Räder meines Stuhls – sie quietschten. Bis zum Abend waren meine Bücher neu sortiert und quer über meinen Schreibtisch lag ein hässliches Palmenstrand-Puzzle. Um acht Uhr öffnete ich zum ersten Mal meine Schultasche und bis halb neun schrieb ich eine Liste mit all den Dingen, die ich zu tun hatte. Dann ging ich zu Bett. Es war unmöglich, alles noch rechtzeitig zu schaffen.
Die nächsten Tage verbrachte ich am Schreibtisch. Nicht einmal den Silvesterabend konnte ich mir freinehmen, weil Saat darauf bestanden hatte, am Nachmittag schwimmen zu gehen. Wir stiegen nur kurz vor Mitternacht aufs Dach, um das Feuerwerk über Tromsø anzusehen. Pünktlich zur ersten Rakete stürzten wir ab. Zum Glück lag im Vorgarten so viel Schnee, dass wir später darüber lachen konnten. Wir hatten das neue Jahr im Flug begonnen... Die unheimliche Symbolik dieser Aussage konnte ich zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht erahnen. Hätte mir jemand gesagt, was ich in diesem Jahr herausfinden und was mit mir passieren würde – ich hätte es bestimmt nicht geglaubt. Kein Mensch der Welt hätte das wohl getan...
Die Schule ging wieder los und ich war darüber ziemlich verzweifelt. Gleichzeitig freute ich mich jedoch unheimlich darauf, Dala wiederzusehen. Umso größer war meine Enttäuschung, als der Bus an ihrer Haltestelle hielt und sie nicht da war. Ich starrte gebannt auf den Eingang des Altersheims, doch diesmal kam sie nicht in letzter Sekunde daraus hervorgesprungen. Ich begann, mir Sorgen zu machen. Was, wenn ihr etwas zugestoßen war in Italien? Ich hatte Der Pate gelesen...
Am nächsten Tag lehnte sie wieder am Haltestellenschild und mein Herz machte einen kleinen Hüpfer. Und noch einen, als sie dann vor mir stand.
„Hi Robinson! Frohes Neues Jahr!“, strahlte sie.
„Das wünsche ich dir auch! Schön dich zu sehen!“, sagte ich. Meine Wangen glühten, noch von der Kälte. „Ich hatte dich eigentlich gestern schon erwartet!“
„Ja, ich hab den Bus verpasst.“
„War logisch", grinste ich. „Au!“ Sie hatte mir in die Seite geboxt und ich tat, als hätte es weh getan, obwohl es eigentlich gut tat.
„Wie waren deine Ferien bei den Großeltern?“, fragte ich.
„Anstrengend!“, stöhnte sie. „Nonna hat dauernd auf mich eingeredet, Nonno hat dazwischengebrüllt, weil er schwerhörig ist und alle haben mich wie ein Kleinkind behandelt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr mir Kekse und Panettone zum Hals raushängen...“
Ich grinste. Dala war lustig und wunderschön und klug und -
„Bist du noch da?“, lachte sie. „Manchmal driftest du einfach weg, was?“
„Ja, ich... Weißt du, ich dachte, wir sollten unsere Handynummern austauschen. Nur für den Fall, dass wieder einmal jemand den Bus verpasst... Au!“
Grinsend stolperte ich einige Minuten später durch den Schnee auf unser kleines, blaues Haus zu und starrte auf den Namen, den Dala in mein Handy eingetippt hatte: ‚Dala DeLuca’. Wunderschön.
Eine Woche später bewehrte sich mein Vorschlag bereits.
„Halt den Bus auf!“, rief Dala ins Telefon und ich lief nach vorne. Ausgerechnet heute saß dort ein neuer Busfahrer. Er schob nur wichtig das bärtige Kinn vor und verkündete: „Junge, ich habe einen Fahrplan einzuhalten.“ Dann streckte er den Arm nach dem Türschließknopf aus. Ich fing ihn reflexartig ab und war darüber mindestens genauso überrascht wie er.
Ich blickte von meiner Hand in sein wütendes Gesicht und schluckte. „Hat Ihnen eigentlich schon jemand gesagt, dass Sie wunderschöne Augen haben?“, fragte ich und tätschelte sein haariges Handgelenk.
Er starrte mich fassungslos unter seinen wuchernden Augenbrauen hervor an, und gerade als es unerträglich wurde, kam Dala in den Bus gestürzt.
Ich hätte schwören können, dass mir der bärtige Busfahrer am nächsten Tag zuzwinkerte.
Endlich kehrte die Sonne zurück und einige Wochen später begann der Schnee zu schmelzen. Er zog sich auf die Berge zurück und die Luft in Tromsø wurde wärmer. Der Frühling kam und mit ihm Frühlingsgefühle in mir.
Einmal sagte Dala, sie finde es süß, wie sich meine Haare um meine Ohren kringelten. Das genügte schon, dass ich in dieser Nacht kaum schlafen konnte. Um vier Uhr früh gab ich es schließlich auf. Ich beschloss, nach draußen zu gehen und Saat kam mir an der Haustür entgegen. Wir sahen uns ziemlich überrascht an.
„Was machst du?“, fragte er unfreundlich.
„Nichts. Was machst du?“
„Geh wieder zu Bett.“
„Du bist auch nicht im Bett. Wo warst du?“
„Geht dich nichts an. Morgenspaziergang.“
„Wenn du das machst, darf ich das ja wohl auch", sagte ich und schlüpfte an ihm vorbei. Ohne mich umzusehen ging ich hinaus auf die Straße. Ich erwartete, dass er mir nachrufen oder sogar folgen würde, doch er begnügte sich mit lautem Zuschlagen der Haustür.
Er war so anstrengend! Er ließ mir keinen Freiraum - außerdem war er launisch. Mal war er der perfekte Bruder und im nächsten Moment war er schlimmer als die Stabheuschrecke.
„Hast du von der Wasserleiche gehört, die sie gefunden haben?“, fragte ich Dala kurz nach dieser nächtlichen Begegnung mit meinem Bruder.
„Wer hat hier nicht davon gehört? Endlich was los in Tromsø", sagte sie sarkastisch.
„Es heißt jetzt, sie wurde aufgeschlitzt..."
„Rob, lass uns über was anderes reden", bat sie.
Das Thema beschäftigte mich jedoch und Saat hatte mich ebenfalls schon abgeblockt. „Denkst du, sie wurde hier in Tromsø umgebracht?“, fragte ich. „Ich meine, sie könnte doch mit der Strömung-“
„Robinson!“, rief Dala und klang nun beinahe hysterisch. „Ich will nicht darüber reden, ich muss ohnehin schon ständig daran denken!“ Sie drehte sich zur Seite und starrte über den Mittelgang hinweg.
War sie sauer auf mich? Ich konnte doch nicht ahnen, dass sie so sensibel reagieren würde!
„Dala?“, sagte ich vorsichtig.
„Was?“, fragte sie trotzig und wandte sich mir wieder zu. Sie war ganz weiß im Gesicht.
„Tut mir leid."
Sie atmete tief durch. „Schon gut. Ich hab mich hineingesteigert.“
„Willst du meine Hand anmalen?“, fragte ich, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Das wollte sie schon seit Langem machen. Sie hatte sogar einen Namen dafür: Mehndi. Aber nachdem sie mir erklärt hatte, dass das in einigen Ländern die traditionelle Hochzeitsbemalung für Frauen war, hatte ich dankend abgelehnt.
„Komm schon", sagte ich und stupste sie sanft an. „Mach mich zur Braut.“
Sie lächelte. „Na gut.“ Aus ihrer Umhängetasche kramte sie einen Filzstift hervor. „Aber ich werde heute nicht fertig werden, du musst mich morgen weitermalen lassen.“
„Wenn es morgen noch da ist...", murmelte ich. Natürlich würde es nicht mehr da sein, dafür würde ich schon sorgen.
„Natürlich wird es noch da sein, das ist ein wasserfester Stift", grinste Dala. „Der hält mindestens eine Woche lang.“
Als ich nach Hause kam, sah meine Hand aus, als wäre sie mit hässlicher Blumentapete überzogen worden, und das fiel Saat natürlich auf. Ich hatte ihm bisher noch immer nichts von Dala erzählt, doch jetzt ließ es sich nicht mehr vermeiden.
„Ein Mädchen im Bus?“, wiederholte er und klang nicht gerade erfreut. „Was für ein Mädchen?“
„Sie heißt Dala und-“
„Ist sie deine Freundin?“, unterbrach er mich.
„Nein, sie-“
„Gut. Das wird auch so bleiben, hast du verstanden? Du bist zu jung dafür, außerdem hast du dich auf die Schule zu konzentrieren. Du wirst sie nicht mehr sehen.“
„Sie nicht mehr sehen? Soll ich sie ignorieren, wenn sie im Bus neben mir sitzt?“, fragte ich und konnte kaum fassen, wie blöd er sich benahm.
„Du sollst dich von ihr fernhalten. Und wasch dir dieses lächerliche Zeug ab.“
Ich tat nun natürlich nichts mehr dergleichen. Ich gab beim Duschen sogar besonders darauf Acht, sehr zu Dalas Freude am nächsten Tag.
„So viel haben sie in der Schule ohnehin noch nie mit mir geredet...", brummte ich, während sie meine Hand umschlossen hielt und fleißig weitermalte.
„Diese Banausen", seufzte sie. „Ich kann nicht verstehen, warum sie dich deshalb auslachen.“
Auch längerfristig bewirkte Saats Ausbruch bei mir das genaue Gegenteil seines Zwecks. Ich fühlte mich seltsam bestärkt, was Dala anging. Wann immer ich bisher versucht hatte, sie auch außerhalb des Busses zu treffen, hatte sie abgeblockt. Das war wirklich verwirrend. Wir verstanden uns doch so gut! Manchmal hatte ich das Gefühl, dass es in ihrem Leben etwas gab, wovon sie mir nichts erzählen wollte – so wie ich ihr nach wie vor meine Amnesie verschwieg. Nun wagte ich in meinem Trotz wieder einmal einen Versuch...
„Rob, bitte sei mir nicht böse", begann Dala.
Oh nein.
„Ich weiß, wie das jetzt wirkt, aber glaub mir, ich würde dich dieses Wochenende wirklich gerne treffen!“
Natürlich glaubte ich ihr, alles andere wäre viel zu deprimierend gewesen. „Warum geht es diesmal nicht?“
„Ich darf nicht. Es ist wegen dieses Mordes! Vater lässt mich nirgendwohin, außer zur Arbeit. Er holt mich sogar von der Bushaltestelle ab, wann immer er kann!“
„Ich verstehe nicht... Was hat dieser Mord mit dir zu tun?“, fragte ich. Da war es wieder, dieses Gefühl dass sie mir etwas verheimlichte.
„Nichts! Vater macht sich nur Sorgen, weißt du. Aber das legt sich wieder. Vorausgesetzt sie finden den Täter, oder es passiert nichts weiter. Aber... wir könnten doch telefonieren!“
Toll.
Wir telefonierten also, und eigentlich machte es sogar wirklich Spaß. Auf jeden Fall war es besser, als zwei Tage lang überhaupt nichts von Dala zu hören. Außerdem begannen wir, uns Nachrichten zu schicken, auch während der Woche.
Dala: Gebiss aus der Toilette gefischt. Mehrere mögliche Besitzer
Ich: Erkältungswelle... Die Stabheuschrecke hat das Husten verboten
Dala: Auf der Suche nach Herrn Myklebust
Ich: Die Stabheuschrecke hat gehustet
Dala: Frau Aune hat schon wieder zerkauten Apfel unter ihr Kissen gespuckt
Ich: Der Hausmeister verfolgt einen alten Mann durch die Schule. Hr Myklebust?
So ging das einige Zeit lang, bis ich eines Morgens mein Handy in der Küche liegen ließ, während ich zum Zähneputzen nach oben ging. Saat machte gerade meine Pausenbrote und als ich wiederkam, warf er es mir entgegen.
„Dala DeLuca hat dir gerade eine Nachricht geschickt", sagte er. „Sie wird heute leider nicht im Bus sein, sie muss länger arbeiten. Aber sie meldet sich am Abend bei dir.“ Er funkelte mich böse an. „Rob.“
Ich war fassungslos.
„Jan, ich bin schwer enttäuscht. Ich dachte, ich kann dir vertrauen!“, rief er.
„Du liest meine Nachrichten und kommst mir mit Vertrauen?“ Meine Stimme überschlug sich, so wütend war ich.
„Hatte ich nicht gesagt, du sollst dieses Gör nicht mehr sehen?“
„Dieses Gör? Wie alt bist du eigentlich? Wie 23 verhältst du dich jedenfalls nicht!“
„Ich verbiete dir-“
„Du kannst mir gar nichts verbieten, du bist nicht mein Vater!“, schrie ich und stürmte aus der Küche.
„Aber ich bin verantwortlich für dich und du hast mir zu gehorchen!“, rief mir Saat hinterher. „Und was ist das überhaupt für ein Name – Rob? Du heißt Jan, verdammt nochmal!“
Ich ignorierte ihn und lief auf die Straße hinaus.
„Du hast deine Pausenbrote vergessen!“
Unglaublich. Was glaubte er, wer er war? Ich war 16 Jahre alt, ich brauchte seine blöde Beschützertour nicht! Und wovor wollte er mich überhaupt beschützen? Es war ja nicht so, als ob wir irgendwelche Dummheiten machten! Wie denn auch, sie traf sich ja nicht mit mir! Und wann auch, ich verbrachte ja all meine Zeit mit Lernen oder mit ihm, dem Idioten! Gör hatte er sie genannt...!
Ich nahm mein Handy aus der Hosentasche und las Dalas Nachricht. Danach war ich nur noch wütender. Ausgerechnet heute musste sie länger arbeiten! Bei wem sollte ich mich jetzt über Saat beschweren?
Nach der Schule verschanzte ich mich auf meinem Zimmer. Heute würde ich bestimmt nicht mit Saat zum Schwimmen gehen. Am frühen Abend rief Dala dann an.
„Hallo", sagte ich und bemühte mich, mir nichts anmerken zu lassen. Was konnte sie schon dafür?
„Gut dich zu hören...", seufzte sie.
Eigentlich war ich ohnehin nicht wütend.
„Ich hatte einen furchtbar anstrengenden Tag! Zwei meiner Arbeitskollegen sind krank geworden und Hermina musste nach Harstad fahren, weil es ihrem Großvater so schlecht geht. Wir wussten echt nicht mehr, wie wir mit der ganzen Arbeit fertig werden sollten!“
„Das klingt wirklich stressig", sagte ich in komplett normalem Tonfall.
„Was ist mit dir? Du wirkst angespannt", sagte sie. Das musste eines dieser speziellen Talente von Mädchen sein...
„Ja, kann schon sein...", sagte ich. „Ich habe mich heute ziemlich heftig mit Saat gestritten.“
„Möchtest du darüber reden?“
Ich überlegte kurz, und plötzlich hatte ich eine Idee. „Ja! Was hältst du davon, wenn wir uns dazu morgen auf einen Kaffee treffen?“
Heute konnte sie nicht nein sagen! Seit dem Mord, der Tromsø in Aufregung versetzt hatte, waren ein paar Wochen vergangen und nichts weiter war geschehen. Sie wusste, dass ich wegen des Streits mit ihr reden wollte - und es musste doch auch so etwas wie Gerechtigkeit geben. Ich wollte Saat eins auswischen!
„Ähm, weißt du, Rob, ich...
„Oh nein...", stöhnte ich.
„... ich trinke keinen Kaffee. Aber wir können uns gerne auf einen Spaziergang treffen!“, sagte sie und lachte.
„Gemein!“, rief ich. „Das hast du mit Absicht gemacht!“ Mein Herz hüpfte vor Freude.
„Vielleicht...“
„Wann können wir uns treffen?“
„Ich hab morgen Samstagsschicht bis halb sieben am Abend, du könntest mich danach beim Altersheim abholen.“
Beim Altersheim, wie romantisch.
„Gut", sagte ich.
„Schön, ich freue mich! Bis dann!“
Sie freute sich! „Ich mich auch!“, rief ich dem Besetztzeichen zu, sobald ich das verarbeitet hatte.
Ich war bereits aufgeregt, als ich am Morgen erwachte. Es fiel mir schwer, mich auf meine Hausaufgaben zu konzentrieren und noch nie hatte ich so lange gebraucht, meine Kleidung auszusuchen.
Um halb sechs ging ich nach unten. Saat saß im Wohnzimmer an seinem Computer. „Wo willst du hin?“, fragte er, als ich meine Schuhe anzog.
„Ich treffe mich mit Dala", sagte ich cool.
Seine Augen wurden eng. „Das machst du nicht.“
„Was willst du dagegen tun?“, fragte ich und öffnete die Haustür.
Er sprang auf und kam auf mich zu.
„Fass mich nicht an!“, rief ich und lief nach draußen. Ein altes Ehepaar blieb am Gehsteig vor unserem Vorgarten stehen und starrte uns an. Wütend drehte sich Saat in der Tür um und warf sie hinter sich zu.
Er war verrückt geworden! Das war doch nicht mehr normal! Ich eilte zur Haltestelle. Erst als ich im Bus saß, beruhigte ich mich einigermaßen - bis mir einfiel, wohin ich gerade unterwegs war.
Ich war zu früh, doch das war mir nur recht, so hatte ich noch Zeit, in die kleine Bäckerei gegenüber zu gehen. Um Punkt halb sieben öffnete sich die Tür des Altersheims und Dala trat heraus. Sie trug ein buntes Sommerkleid und hatte eine riesige Sonnenbrille auf der Nase. Sie kam die Rollstuhlrampe herabgeschwebt wie eine Fee. Eine sehr tollpatschige Fee zwar, aber innerhalb weniger Sekunden war sie wieder auf den Beinen.
„Hat nicht wehgetan!“, rief sie, während sie die Brille hochhob und einsteckte. „Ich sehe einfach nichts mit diesem Ding!“
„Hi!“, sagte ich und grinste.
„Rob, du schaust richtig ungewohnt aus ohne Uniform!“
Ich zupfte an meinem Kapuzenpullover herum und wusste nicht, was ich sagen sollte. Der Papierbeutel aus der Bäckerei raschelte in meiner Hand und ich streckte ihn ihr erleichtert entgegen. „Ich habe dir Skoleboller mitgebracht. Ich dachte, du hast bestimmt Hunger nach deiner Schicht!“
„Das ist lieb, danke", strahlte sie.
„Wie war dein Tag?“, fragte ich.
„Wieder sehr anstrengend. Aber besser als gestern, Hermina ist aus Harstad schon wieder zurück.“
„Ist ihr Großvater...?“
„Keine Sorge, es war falscher Alarm. Er hatte nur zu viel Bohnensuppe gegessen.“
Wir begannen unseren Spaziergang und Dala wollte nun alles über meinen Streit mit Saat wissen. Ausführlich erzählte ich ihr also, was gestern und heute geschehen war.
„Wow", sagte sie, als ich geendet hatte. „Wieso hasst er mich, er kennt mich doch gar nicht!“
„Oh nein, bitte sieh das nicht so!“, sagte ich schnell. „Das ist nichts gegen dich, er hat nur aus irgendeinem Grund furchtbare Angst, dass ich, na ja, eine Freundin haben könnte. Er hat schon so überreagiert, als ich damals das Mehndi auf der Hand hatte.“
„Hat der Typ ein Problem mit Mädchen?“
Ich lachte. „Kann ich mir nicht vorstellen.“
„Hat er eine Freundin?“
„Nein.“
„Ein Glück, die täte mir leid“, sagte sie düster. „Hatte er denn je eine?“
„Nicht dass ich wüsste.“ Nicht, dass es aussagekräftig war, wenn ich das nicht wusste. Als ich Dalas Gesicht sah, musste ich wieder lachen. „Das beweist noch gar nichts!“
„Jedenfalls benimmt er sich blöd", sagte sie. „Der spielt sich ja auf, wie der Vater einer frühreifen Dreizehnjährigen!“
„Besser hätte ich es nicht ausdrücken können", seufzte ich.
Bald schon ließen wir Saat und den Streit jedoch hinter uns und wandten uns erfreulicheren Themen zu. Der Abend verlief wunderbar. Wir plauderten und spazierten durch Tromsø. Mir fiel auf, wie reizend diese Stadt doch eigentlich war.
Am Hafen setzten wir uns auf eine Bank und Dala begann, ihre Skoleboller zu essen. Eine Möwe beobachtete sie eifersüchtig vom Kopf einer Walfängerstatue aus und schoss plötzlich auf uns zu. Wir kämpften mutig und verließen am Ende - erhobenen Hauptes - fluchtartig den Platz. Aus sicherer Entfernung warfen wir der Möwe böse Blicke zu, während sie glücklich die Kokosflocken von ihrer Beute pickte.
Wir setzten unseren Spaziergang fort und kamen an einer großen Blume mit vielen weißen Blüten vorbei, die aus dem Asphalt wucherte.
„Nicht anfassen, die ist giftig!“, rief Dala, als ich versuchte, sie abzupflücken. Ich ließ enttäuscht den Stiel los, doch dann nahm sie meine Hand und untersuchte sie. Auch gut.
Die Sonne stand gerade am Anfang ihres Sommermarathons, sie würde wochenlang nicht mehr untergehen. So saßen wir einige Zeit später genießend auf der Hafenmauer, als ich plötzlich begann, mich zu kratzen.
„Du hattest recht, die Pflanze war giftig!“, sagte ich überrascht und zeigte Dala die rot gefleckte Haut zwischen meinen Fingern.
„Klar hatte ich“, lachte sie und griff wieder nach meiner Hand. „Sieht aber nicht schlimm aus. Mein Bruder hatte mal den Stiel als Blasrohr verwendet, das war dann wirklich kein schöner Anblick...“
Ich lachte abwesend. Mein Bauch war plötzlich voller kleiner Dala-Feen. Sie duftete nach Frühling und Wind, ihre Augen glitzerten golden in der Sonne und ihr Mund... ihr Mund. Mein Herz begann zu rasen und mit einem Mal konnte ich nicht mehr anders.
Ich küsste sie.
Sie wich erschrocken zurück und sah mich an, als sei ich verrückt geworden.
Etwas in mir starb. Blut schoss in meinen Kopf und meine Ohren rauschten. Am liebsten wäre ich davongelaufen.
„Robinson, was machst du denn?“, fragte sie nach einer Ewigkeit.
„Keine Ahnung", murmelte ich und wünschte, sie würde mich nicht ansehen.
„Wir sind doch Freunde!“, sagte sie, als würde das alles erklären.
Was hatte ich falsch gemacht? Ich starrte ins Wasser. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass sie immer wieder zu mir herüberlinste. Plötzlich boxte sie mir kumpelhaft in die Seite. Heute tat es weh. „Komm schon!“, sagte sie aufmunternd. „Halb so schlimm.“
Von wegen.
Sie deutete auf meine Hand. „Ich glaube, du solltest damit aus der Sonne gehen.“
„Ja", murmelte ich, noch immer zu beschämt sie anzusehen. Ich wollte plötzlich nur noch nach Hause und weg von ihr. Ich stand auf, sie tat es mir gleich und ich schlug den Weg zur Bushaltestelle ein.
Die ganze endlose Heimfahrt über gab sie sich große Mühe, Themen zu finden, bei denen ich nur ‚Ja’ und ‚Nein’ sagen musste. Sie tat, als wäre nichts geschehen. Doch es war geschehen. Warum hatte ich sie bloß geküsst? - Warum wollte sie bloß nicht, dass ich sie küsste? War es zu früh? Nach fast einem halben Jahr?!
Nein. Sie empfand eben nicht dasselbe für mich, wie ich für sie, das war die einzige Erklärung. Es tat weh, wie nichts anderes in meiner Erinnerung.
Ich hatte alles kaputtgemacht.
Zu Hause versuchte ich, unbemerkt auf mein Zimmer zu gelangen, doch Saat kam mir mit zwei Sporttaschen entgegen.
„Jan, tut mir leid wegen vorhin, ich habe überreagiert", sagte er. „Lass uns zum Schwimmen an den Strand fahren, die Mitternachtssonne genießen und darüber reden.“
Ach ja, der Streit, den hatte ich völlig vergessen. Hätte Saat es bloß geschafft mich aufzuhalten...
„Nein", sagte ich und begann, die Treppe hinauf zu gehen.
„Hör mal, ich habe mich entschuldigt!“, rief er mir entrüstet hinterher.
Ich drehte mich um. „Es ist nicht... Ich bin nicht böse auf dich..."
„Dann komm mit zum Meer!“
„Ich will nicht.“
„Warum nicht?“
Ich seufzte. Er gab einfach nicht auf. „Ich bin abgeblitzt."
Für einen Augenblick sah ich Triumph und Erleichterung über sein Gesicht huschen. „Das tut mir leid", sagte er scheinheilig.
„Was hast du eigentlich für ein Problem?“, rief ich, rannte die Treppe hinauf und schlug die Zimmertür hinter mir zu. Ich warf mich auf mein Bett und begann, mich abwechselnd selbst zu bemitleiden und zu hassen. Ich würde Dala nie mehr in die Augen sehen können. Ich hatte meine einzige Freundin verloren. Sie war der Grund, warum ich noch nicht vor Einsamkeit zugrunde gegangen war. Wieso hatte ich etwas so Schönes kaputt gemacht? Was hatte ich mir erwartet? Dass sie mir verkündete, auf diesen Augenblick habe sie gewartet, seit sie mich zum ersten Mal gesehen hatte? Wie konnte ich mir überhaupt einbilden, dass sie mich mochte? Ich war dumm und hässlich und niemand würde mich je mögen. Ich starrte an die Decke und fühlte mich hilflos und verletzlich wie ein kleines Kind.
Ich las ‚Die Leiden des jungen Werther’, bis ich das Gefühl hatte zu verhungern. Ich stand auf und lauschte an der Tür. Als ich mir sicher war, dass Saat bereits zu Bett gegangen war, schlich ich nach unten in die Küche. Dort stand ein großer Topf Mousse au Chocolat und daneben lag ein Zettel:
Es tut mir ehrlich leid
(Rest bitte in den Kühlschrank stellen)
Wenn er nicht gerade ein Idiot war, konnte er so nett sein. Vielleicht hatte ich mich vorhin ja geirrt? Vielleicht war er nur erleichtert gewesen, dass mein Frust gar nicht gegen ihn gerichtet war? Ich löffelte die ganze Schüssel aus und wartete auf die Schokolade-Glückshormone, doch sie kamen nicht. Mir wurde nur schlecht.
Am nächsten Morgen tat ich beim Frühstück, als wäre nichts geschehen und Saat stieg darauf ein. Bevor ich die Küche verließ, murmelte ich „Danke für das Mousse“ und er lächelte.
Bis zum Montagmorgen hatte sich meine Stimmung ein wenig gebessert. Ich hatte ein paar Dinge festgestellt:
1 Werther ging mir auf die Nerven.
2 Ich war nicht der erste, der je bei einem Mädchen abgeblitzt war.
3 Selbstmitleid war auf Dauer ganz schön anstrengend.
4 Dala hatte nicht gewirkt, als wollte sie nicht mehr mit mir befreundet sein.
5 Wenn ich mich damit begnügen konnte, war nicht alles verloren.
6 Ich stand voll auf Freundschaft.
Als ich am Nachmittag im Bus saß, begann meine Aufbauliste allerdings blass zu werden. Das bevorstehende Wiedersehen mit Dala machte mir Angst. Wie würde sie sich verhalten? Ich hoffte inständig, dass sie die Sache einfach nicht ansprechen würde. Ich selbst würde jedenfalls bestimmt nicht davon anfangen. So zu tun, als wäre nichts gewesen, hatte sich mit Saat schon bewährt...
Dala stieg ein und ich hielt die Luft an. Sie entdeckte mich, kam auf mich zu und setzte sich neben mich.
„Hi", sagte sie.
„Es tut mir leid!“, rief ich. „Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist und es wird nie wieder passieren! Bitte sag, dass wir noch Freunde sind...!“ Soviel zu meinem Vorsatz. Ich zwang mich, sie anzusehen, obwohl ich viel lieber meine Schuhe beobachtet hätte.
„Das ist wirklich keine so große Sache", sagte sie lächelnd. „Und natürlich sind wir noch Freunde, wo denkst du denn hin!“
Ich war furchtbar erleichtert.
„Aber ich verlange von dir, dass du wieder normal mit mir redest. Immer nur ‚Ja’ und ‚Nein’ als Antwort zu bekommen, ist nämlich nicht sehr unterhaltsam, weißt du?“
„Ja.“
„Versprochen?“
„Ja.“
„Machst du das mit Absicht?“
„Nein.“
Sie lachte. „Wie geht’s deiner Hand?“
„Die hatte ich ganz vergessen...", murmelte ich. Ich betrachtete die Flecken, die inzwischen hellbraun geworden waren.
„Ein Glück", sagte sie. Heute fasste sie meine Hand nicht an, um sie zu untersuchen. „Mein Bruder musste damals eine Woche lang Babybrei essen. Mit einem Strohhalm.“
Alles war anders.
Es fühlte sich anders an.
Statt natürlicher Nähe war da nun bedachte Distanz. Wir vermieden es sorgfältig, uns zu nahe zu kommen oder uns auch nur zufällig zu berühren. Dala hörte vorübergehend sogar auf, mir in die Seite zu boxen. Ehemals hoffnungsfroh in mir aufkeimende Gefühle taten nun weh. Öfter denn je lag ich reglos in meinem Zimmer und fühlte mich einsam.
So gesehen war es mir nur recht, dass sich mit dem letzten Schulmonat die Arbeitslast ein letztes Mal steigerte. Und dass sich Saat, zumindest was den Sport betraf, sogar noch stärker mit mir befasste. Denn auch wenn ich nicht gut mit ihm reden konnte, sein immerwährender Ansporn half mir, Frust und Druck abzubauen.
Und den Rest erledigte die Zeit. Schicht um Schicht umspann sie meine Gefühle für Dala und packte sie weg. Natürlich musste ich mithelfen, Dinge ersticken, Dinge ignorieren, Dinge umbewerten, aber von Tag zu Tag weniger, bis ich darüber nicht einmal mehr nachdenken musste.
In der letzten Schulwoche wurde ich ungeduldig. Ich wollte, dass Dala das Thema Ferien endlich ansprach. Nach der gerade erst überstandenen Krise kam es nicht in Frage, dass ich es war, der davon anfing. Meine größte Sorge war natürlich, dass sie wieder die ganze Zeit in Italien verbringen würde. Doch sicherlich waren sieben Wochen bei den Verwandten entschieden zu lang...?
Dass das größte Problem nicht die Ferien waren, begriff ich erst auf der Heimfahrt an meinem vorletzten Schultag.
„Sag mal Rob, ist dir bewusst, dass wir uns morgen zum letzten Mal hier im Bus sehen werden?“, sagte Dala.
„Warum?“, fragte ich erschrocken.
„Na, weil ich ab Herbst doch wieder zur Schule gehe!“
„Aber ich dachte... Haben unsere Schulen denn nicht zur selben Zeit Unterrichtsende?“
„Nein. In der Raske Skole ist alles ein wenig anders. Außerdem-“
„Aber morgens!“, unterbrach ich sie. „Morgens müssen wir doch bestimmt zur selben Zeit fahren!“
„Rob, das wäre ja schön, aber ich muss den Bus nehmen, der durch den Tunnel fährt. Meine Schule ist oben, neben der Universität.“
„Oh", sagte ich betreten. „Das heißt...“
So, das wars. Nett, dich kennengelernt zu haben.
„Das heißt, wir müssen einen anderen Weg finden, uns regelmäßig zu sehen", sagte Dala.
„Auf jeden Fall!“, pflichtete ich ihr erleichtert bei.
„Wir sollten uns ein gemeinsames Hobby suchen...“
„Gute Idee! Wie wäre es mit-“
„Schwimmen fällt aus.“
Ich lachte. „Na gut, das ist ohnehin von Saat besetzt.“ Saat... Saat würde nicht begeistert sein, wenn ich begann, mich regelmäßig mit Dala zu treffen. Tja, er würde es verkraften müssen. „Wie wäre es mit Tennis?“, schlug ich vor.
„Bloß nicht, in Ballsportarten bin ich eine totale Niete. Wie wär’s mit Malen?“
„Du hast mich noch nie malen gesehen.“
„Komm schon! Ich bring’s dir bei!“, grinste sie aufmunternd. Oder war es siegesgewiss?
„Na von mir aus...", brummte ich. „Aber nur, wenn wir uns ein richtiges Hobby auch noch suchen.“ Ich wich ihrem Boxschlag aus.
„Das ist ein richtiges Hobby! Außerdem machst du schon genug Sport. Die Leute halten dich inzwischen wahrscheinlich für meinen Bodyguard!“
Ich grinste. „Ist doch schön, dann halten sie dich für einen Star.“
Sie reckte die Nase in die Luft und streckte mir die Hand entgegen. „Robinson, meine Autogrammkarten bitte!“
Ich tätschelte beruhigend ihren Arm.
„Also, wann hast du Zeit?“, fragte sie.
„Die Frage muss in den Ferien wohl eher lauten, wann du Zeit hast.“
„Immer, außer zwei Wochen im August, da sind wir in Italien.“
„Großartig!“, freute ich mich. „Ich hatte schon befürchtet, du wärst wieder die ganze Zeit weg.“
„Hilfe, nein! Glaub mir, zwei Wochen bei den Verwandten sind mehr als genug.“
Wie ich vermutet hatte.
„Hast du denn gar nichts vor in den Ferien?“, fragte sie.
Ich verneinte, doch da fiel mir eine alte Abmachung mit Saat wieder ein. „Ach so... Eigentlich hat Saat mir letztes Jahr versprochen, dass wir im Sommer nach Oslo fahren würden.“
„Wie schön! Was macht ihr dort?“
Ich zögerte. War nun der Zeitpunkt gekommen, Dala endlich von meiner Amnesie zu erzählen? Seit sie herausgefunden hatte, dass meine Eltern gestorben waren, hatte sie mich nie nach meiner Vergangenheit gefragt.
„Was ist?“, fragte Dala und sah mich forschend an.
Mir blieb wohl nichts anderes übrig, ich wollte sie nicht belügen. Sie würde deshalb doch bestimmt nicht anders zu mir stehen...?
„Ich möchte nach Oslo, weil es mir helfen könnte, mich zu erinnern", sagte ich zu meinen Händen. „An mein früheres Leben. Dala, ich habe dir das bisher nicht erzählt, weil ich mich geschämt habe... Ich habe letzten Sommer mein Gedächtnis verloren. Ich kann mich an nichts erinnern, was vor diesem Zeitpunkt in meinem Leben passiert ist.“
Jetzt war es also heraus. Ich wartete, dass sie etwas sagte, doch sie blieb stumm. Ich hob meinen Blick und was ich sah, war schlimmer als alles, was ich befürchtet hatte. Sie war bleich, ihr Mund stand offen und sie starrte mich an. In ihren Augen lagen Schock und Horror. Noch bevor ich irgendetwas sagen konnte, sprang sie auf.
„Tut mir leid!“, sagte sie heiser, drehte sich um und rannte den Gang entlang. „Halt!“, rief sie dem Busfahrer zu, der gerade die Türen schließen wollte. „Ich muss hier noch raus!“
Dann war sie fort.