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Die zwei Wochen Freitörn verbrachte der Koch in seinem Haus. Es stand gleich neben der Kirche in einem ruhigen Warftdorf, wo die See in Hörweite war.

Es war ein kleines Haus aus dem schmutzig gelben Backstein des nördlichen Küstengebiets. Die Fensterrahmen und Türen waren dunkelgrün, das Zeltdach war mit rostroten Pfannen gedeckt. Ein nicht sehr großes Wohnzimmer nahm, abgesehen von der winzigen Diele, das gesamte Erdgeschoss ein. Die Küche, die Waschküche, das Badezimmer und die Toilette waren in einem kleinen Anbau untergebracht. Von der Küche führte eine doppelschlägige Tür in das von Hecken umschlossene Gärtchen, der obere Flügel ließ sich ohne den unteren öffnen. Jeden Morgen konnte Lammert in dieser Tür, die Arme auf den unteren Flügel gestützt, einen Becher Kaffee trinken und eine selbst gedrehte Zigarette rauchen. Er sah den Apfelbaum im Garten, die vom Wind bewegten Wipfel der hohen Bäume rings um die Kirche, die Krähen, die den Turm umkreisten, den Zigarettenrauch, den er ausblies. Das auf BBC World Service eingestellte Radio neben der Spüle lief, aber so leise, dass die Gespräche nicht zu verstehen waren.

In jedem Frühjahr schmirgelte er die Fensterrahmen und Dachleisten ab und lackierte sie neu. Das Gartentor hielt er ebenso hingebungsvoll instand. Besuch bekam er selten, doch mit den Bewohnern der Warft oder dem Bauern im Nachbardorf, bei dem er Milch und Käse kaufte, unterhielt er sich anscheinend ganz selbstverständlich über die konkreten, aber bodenlosen Dinge, die zum Leben in einem kleinen Dorf gehören: Dürre, Viehkrankheiten, Sturmschäden, Ernten, Schädlinge, Feuer, Dünger, Krankheiten, Zuzügler, Geburten, Heiraten, Todesfälle.

Weil er Seemann war, akzeptierten die Einheimischen, dass er jemand von außerhalb blieb und kaum am Dorf- und Vereinsleben teilnahm. Dazu gehörte auch, dass niemand viel mehr über ihn wusste, als dass er vor seinem Wechsel zum Feuerschiff auf der Rotterdam und der Barentsz gekocht hatte. Und dass auch sein Vater Seemann gewesen war. Der eine oder andere vermutete eine Kindheit in Niederländisch-Indien, niemand wusste von dem Lager.

In und an seinem Haus gab es fast nichts, was an seine Vergangenheit erinnerte. Über dem Sofa hing ein Seegemälde, in der Küche ein Barometer. Auf dem Schreibtisch diente ein Pottwalzahn, in den Löcher gebohrt waren, als Stiftehalter. In einem niedrigen Bücherregal standen Bücher über Navigation und Meteorologie, ein paar Seehandbücher mit Titeln wie Pacific Islands, East and West Atlantic und Red Sea. Außerdem die erste Ausgabe von Churchills The Second World War, sechs Bände, ungelesen.

Nur dieses eine Foto gab es, gerahmt auf dem Fernseher, der nie eingeschaltet wurde. Er als lachender Neunjähriger, klein neben seinem Vater im langen Mantel, die Kapitänsmütze auf dem Kopf, das Gesicht starr, als würde er strammstehen, die Fäuste geballt. Neben seinem Vater, kleiner in einem leichten Regenmantel, seine Mutter, das Haar zu einem Knoten aufgesteckt, wütender Blick zur Seite. Sie sind gerade von Bord der Indrapoura gegangen und stehen in Rotterdam auf dem Kai, im Hintergrund dampft ein Liberty-Frachter vorbei.

Die wenigen Dinge aus seiner Vergangenheit, die er aufbewahrt hatte, lagen in einer Truhe auf dem Spitzboden, umständlich über eine Leiter vom Schlafzimmer im Obergeschoss aus zu erreichen. Lammert, der ein wenig hinkte, war auf Leitern bemerkenswert gewandt, was bei der Großen Ablösung sehr von Vorteil war. Doch die kleine Leiter zum Dunkel seiner Vergangenheit war er schon seit Jahren nicht mehr hinaufgestiegen.

Am Morgen nach dem Ablösetag war Lammert schon früh auf. Er stand eine Weile unschlüssig am Fuß der Leiter, wischte mit der Hand Staub von den runden Sprossen, stieg schließlich doch nicht hinauf, sondern ging in die Küche hinunter, öffnete den oberen Flügel der Tür zum Garten, kochte Kaffee, drehte sich eine Zigarette, stützte sich auf den unteren Türflügel und schaute ein paar Minuten in den Garten, in dem es langsam warm wurde.

Dann ging er zur Arbeitsplatte und bestrich eine Scheibe Brot mit Erdnussbutter und Sambal, beides selbst gemacht. Weil er seit frühester Jugend rauchte, war sein Geruchssinn nicht mehr besonders gut, aber den scharfen Duft des Sambals nahm er noch deutlich wahr. Er schraubte den Deckel aufs Glas, schraubte ihn wieder ab, schnupperte noch einmal, ließ die Scheibe Brot unangerührt liegen, ging nach oben und stand wieder vor der Leiter.

Diesmal stieg er hinauf, ein wenig seitlich, die Füße fast parallel zu den Sprossen. Oben legte er die Hände auf die Bodendielen, stemmte sich das letzte Stück hoch und drehte sich im Setzen um, sodass er neben der Truhe landete; die Beine ließ er in der Bodenöffnung baumeln. Er öffnete die Truhe und saugte, ohne viel zu riechen, die Luft ein, die von seiner Vergangenheit aufstieg. Er nahm den Karton mit dem Sextanten seines Vaters in beide Hände, stellte ihn behutsam neben sich auf die Dielen, hob zwei gebatikte Tücher hoch und suchte im Dunkel der Truhe nach dem Kochbuch seiner Mutter, das dort irgendwo liegen musste. Er nahm es heraus und schob es in sein Hemd, packte die Tücher zurück, darauf den Sextanten, schloss die Truhe und stieg die Leiter hinunter.

In der Küche legte er das Kochbuch auf den Tisch und stellte seinen Teller daneben. Er aß die Scheibe Brot, stand auf, wusch den Teller und das Messer ab, wischte die Krümel von der Tischplatte in seine hohle Hand, warf sie durch die halb geöffnete Tür in den Garten, räumte Teller und Messer weg, setzte sich wieder hin und schlug das Kochbuch auf, das seine Mutter in Den Haag benutzt hatte.

Bei den Stamppot-Rezepten hatte seine Mutter ein paar spärlich beschriebene Blätter in das Buch gesteckt. Die Zeit hatte die Tinte verblassen und das dünne Papier vergilben lassen. Lammert stand auf, ging zum Schreibtisch, um seine Lesebrille zu holen, und stellte sich mit den Blättern in den Händen an die Tür zum Garten. Die Handschrift seiner Mutter ließ ihn nicht unberührt. Er fluchte lautlos und starrte aufs Papier. Die ersten Zeilen kannte er auswendig:

Für den kleinen Lammert nach eigenem Geschmack und Belieben zuzubereiten. Dies sind die Grundzutaten, zusammengestellt in den Lagern SOLO und AMBARAWA von deiner Mutter und anderen Frauen. Alles für ungefähr zwei Personen.

»Ungefähr zwei Personen«, brummte er, schüttelte den Kopf und las weiter. Die Rezepte kannte er nicht auswendig, und sie waren in der ungeduldigen Handschrift geschrieben, die er so gut kannte. Er durchstöberte die fünf Blätter, bis er fand, was er suchte: Gulai kambing. Er las die Zutaten, wiederholte sie flüsternd. Bis er nicht nur die Wörter entziffert hatte, sondern auch das Rezept verstand. Vorsichtig bahnte er sich einen Weg durch die Aufzählung, als müsste er einen Schatz unter einem Drachen hervorziehen. Da war sie wieder, seine Mutter, die ihn missbilligend durch die Wörter des Rezepts hindurch anschaute, völlig von ihren eigenen Sorgen, ihrem eigenen Unglück in Beschlag genommen. Er wusste, wo sie übertrieb, was vom Heimweh kam und was vom Hunger, wo sie angab, wo sie nur schwafelte, wo sie beleidigt oder grundlos missmutig war. Immer stand auf diesen Blättern irgendetwas, das alles verdarb und das Leben noch schwieriger machte, als es ohnehin war.

Er ging zum Schreibtisch zurück, nahm ein Heft und begann zu schreiben.

»Ain’t nobody home, baby«, sang er leise. »Once upon a time, a long long time ago, I would follow wherever you want to go … pom pom pom … but now, you beg to let me in, but ain’t nobody home.«

Der Schiffskoch

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