Читать книгу Undercover Boss - Mathilde Berg - Страница 14
ОглавлениеHannah
Bepackt wie ein Maulesel bugsiere ich die neuen Errungenschaften vom Einkaufsbummel auf dem Fahrrad. Wie jeden Mittwoch besuche ich meine Mutter. Ich bleibe vor der Haustür stehen und kann das Abendessen schon riechen. Erst jetzt merke ich, wie hungrig ich bin. Zur Bestätigung macht sich mein Magen lautstark bemerkbar.
Der Schlüssel ist natürlich bis nach unten in den hintersten Winkel meiner Handtasche gerutscht. Mir bleibt nichts übrig, als sie auszuräumen. Trotz intensivem Suchen bleibt der Schlüssel jedoch unauffindbar. Mir wird heiß und kalt. Tausend Gedanken jagen mir durch den Kopf. Tränen schießen mir in die Augen. Wie soll ich nachher in meine Wohnung kommen? Paul und Gisbert brauchen ihr Futter. Verzweiflung macht sich in mir breit. Der schöne Nachmittag ist wie weggeblasen, und ich kann nur hoffen, dass nachher der Fahrradkeller nicht abgeschlossen ist, damit ich zumindest an meinen Zweitschlüssel komme. Ich greife in die Hosentasche, um mein Taschentuch raus zu holen und fördere stattdessen meinen Schlüsselbund zutage. Ich brauche einen Moment und schaue den Gegenstand in meiner Hand verdutzt an, dann erinnere ich mich wieder. Um diesem Tohuwabohu vorzubeugen, habe ich den Schlüssel vorsorglich in die vordere Tasche meiner Jeans verfrachtet. Ein bisschen muss ich über mich selbst lachen. Mit der flachen Hand klatsche ich mir auf die Stirn. Wo habe ich nur meine Gedanken? Leider weiß ich das nur zu genau. Auf dem Weg hierher habe ich über Lars nachgedacht. Die Frage, ob die Sache mit dem Kerl das ist, wonach es ausgesehen hat, lässt mich nicht mehr los.
Ich betrete das Treppenhaus, husche zur Wohnung von meiner Mutter und öffnete die Tür. Der Duft nach gutem Essen schlägt mir intensiv entgegen.
„Hannah? Bist du das?“
„Ja! Erwartest du noch jemanden?“
Sie lacht und kommt zu mir. „Nein, eigentlich nicht. Oh, du warst in der Stadt?“
„Ja, ich brauchte mal dringend was Neues.“
„Hmm, gibt es dafür einen besonderen Anlass?“ Sie nimmt mich zur Begrüßung in den Arm.
„Nein, wieso? Ich kann mir doch mal was zum Anziehen kaufen!“
„Ja, ja, schon. Diese Boutique führt nur im Allgemeinen sehr ausgefallene, modische Kleidung.“
„Ach, meinen alten Kram konnte ich nicht mehr sehen. Außerdem habe ich demnächst eine Art Meeting. Zu dem Anlass habe ich etwas Passendes gebraucht.“
„Oh, ist es das, was ich denke?“
„Nein, das ist es nicht“, nehme ich ihr gleich den Wind aus den Segeln. Ich weiß, wie sehnlich sie sich wünscht, dass mein Volontariat bald vorbei ist. Vermutlich genauso wie ich. „Ich treffe mich mit Kollegen aus der Abteilung. So eine Art Teambuilding-Maßnahme. Weißt du?“
„Aha! Wir haben das früher Date genannt.“
„Was gibt es denn Leckeres zum Abendessen? Hmmm, das riecht einfach köstlich. Pflaster treten macht echt hungrig!“, versuche ich, meine Mutter abzulenken, denn es duftet unverkennbar nach Rouladen.
„Du kannst ihn jederzeit zum Essen mitbringen, das weißt du!“
„Ja, Mama!“
„Du brauchst mir nicht zu verheimlichen, dass du einen Freund hast.“
„Ich weiß, Mama!“
„Und warum machst du dann so ein Geheimnis daraus?“
„Mache ich gar nicht.“
„Und warum bringst du ihn nicht einfach mit?“
„Weil ich keinen Freund habe. Es ist nur ein Firmen … Dingsbums. Mehr nicht.“
„So, so. Ich glaube dir kein Wort.“
„Ist es aber. Können wir jetzt von was anderem reden?“
„Ich dachte, du würdest dich mir anvertrauen!“
„Mama! Nun sei doch nicht gleich eingeschnappt.“
„Bin ich gar nicht.“
„Wohl!“
„Hmm!“
Ich setze mich an den Küchentisch, und meine Mutter serviert das Essen, das sie stundenlang zubereitet hat. Sie ist wirklich eine gute Köchin.
„Ich finde es gut, wenn du unter Leute gehst. Mal was anderes siehst. Dir muss ja langsam die Decke auf den Kopf fallen.“
„Was hast du denn? Ich gehe zur Arbeit, habe einen Nebenjob …“
„Apropos Nebenjob. Am Samstag haben wir einen großen Auftrag. Da könnte ich dich gut gebrauchen. Könntest du mal wieder kurzfristig einspringen?“
„Samstag?“
„Es ist auch nicht lange. Nur der Empfang und die Essensausgabe. Danach kommen wir allein klar. Wir haben so viele Kranke im Moment. Es wäre wirklich eine große Hilfe, wenn du einspringen könntest.“
„Ich kann leider nicht! Sorry.“
„So? Warum denn nicht?“
„Weil ich schon eine Verabredung habe.“ Das zusätzliche Geld könnte ich, gerade nach meinem Shoppingtrip, zwar gut gebrauchen, aber wenn ich jetzt Lars absage, sieht das aus, als ob ich feige wäre und mich um das Treffen mit ihm drücken würde. Diese Genugtuung gönne ich ihm einfach nicht.
„Oh, da hast du dein Date?“
„Es ist kein Date! Nur eine harmlose Verabredung. Mehr nicht. Ehrlich!“
„Und wenn du später zu deinem Treffen gehst? Es wird auch gut bezahlt.“
„Nein, wirklich nicht. Wir essen zusammen. Würde gern ein paar Scheinchen dazuverdienen, aber diesmal passt es nicht.“
„Na gut!“ Sie schaut mit einem wissenden Lächeln auf ihren Teller und isst weiter, als ob nichts gewesen wäre. Meine Mutter ist sehr hartnäckig und gibt ansonsten nicht so schnell auf. An ihrem Blick kann ich sehen, dass sie sich ihren Teil denkt. Die entstandene Stille, wo nur das Geklapper von Messer und Gabel auf dem Porzellan zu hören ist, wird immer lauter. Die Spannung steigert sich wie ein Luftballon, der kurz vom Zerplatzen ist.
Schließlich kann ich es nicht mehr ertragen. „Was?“
„Hmm?“ Sie schaut mich fragend an, als hätte ich sie aus ihren Gedanken gerissen. „Nichts, alles ist gut!“
Es macht mich wahnsinnig, wenn sie so rumdruckst. „Nun mach doch kein Drama daraus, wenn ich mal nicht bei euch aushelfen kann.“
„Mach ich gar nicht!“
„Sondern?“
„Ach, ich schwelge ein wenig in Erinnerungen. Ich habe gerade an deinen Papa denken müssen. Wie wir uns kennengelernt haben. Ich war auf den ersten Blick in ihn verliebt. Ihn musste ich aber erst noch von mir überzeugen.“
„Bitte keine Details!“
„Ich habe Gerd zu uns nach Hause eingeladen. Meine Eltern waren an diesem Abend zum Kartenspielen bei den Wischnefkys.“
„Mama, ich weiß nicht, ob ich das jetzt hören möchte.“
„Ich habe für ihn gekocht!“
„Und?“ Ich bin mir nicht sicher, worauf meine Mutter hinauswill. „Was hat das mit mir zu tun?“
„Hannah, liebe geht durch den Magen!“
Jetzt fällt bei mir der Groschen. „Oh! Die Sachlage mit meinem Kollegen und mir ist völlig anders als du denkst. Wir sind am ersten Tag furchtbar aneinandergeraten. Er ist ein Machomann wie er im Buche steht. Wir müssen aber nun mal miteinander arbeiten und sitzen zudem noch in einem Büro. Dieses Treffen ist mehr ein Friedenstreffen. Abgesehen davon hat er ganz andere Ambitionen, glaub mir. Mehr als eine aufgewärmte Pizza aus dem Supermarkt erwartet mich nicht. Er, ein Schönling, macht sich garantiert nicht die Finger schmutzig.“
„Tja, wenn das so ist.“
„Es ist so!“
Der weitere Abend verläuft harmonisch. Wir unterhalten uns noch über einige mehr oder weniger belanglose Dinge und lachen über den neusten Klatsch im Treppenhaus, bis ich aufbrechen muss.
Paul und Gisbert quieken munter in ihrem Käfig, als ich nach Hause komme. Bevor ich zu Bett gehe, bekommen die beiden frisches Wasser und Futter.
Bei den leisen Schmatzgeräuschen, die sie zufrieden von sich geben, schlafe ich ein.
***
Der Donnerstagvormittag plätschert so dahin. Von Nils bekomme nach der Redaktionssitzung jede Menge Notizen für die Kolumne und einen Bericht auf den Tisch geklatscht.
„Hier, Konfetti, damit du dich nicht langweilst in deinem Traumpalast.“ Dabei macht er eine ausladende Geste. Er ist offensichtlich neidisch auf unser schönes Büro. Ich denke, er kann nachts nicht mehr richtig schlafen, weil er darüber nachdenkt, wie er uns das vorher verschmähte Büro abluchsen kann. Mit seiner unverwechselbaren, schnodderigen Art und Weise baut er sich vor uns auf. „Heute Abend habe ich alles fertig auf dem Tisch, klar? Und du, College-Pfeife, siehst zu, dass du in der Kaffeeküche klar Schiff machst. Kaffee ist schon wieder alle. Habe zum wiederholten Male nur den letzten, abgestandenen Rest abbekommen. Irgendjemand hat mir alles weggesoffen!“ Dabei schaut er grimmig auf Lars’ dampfenden Becher Kaffee.
„Den habe ich mir in einer Thermoskanne selber mitgebracht!“, verteidigt sich Lars.
„Nun fühl dich mal nicht auf die Füße getreten, Prinzesschen. Außerdem haben wir keinen Zucker mehr, und jeder weiß, dass man bei Stress einen höheren Energiebedarf hat. Sonst droht das diabetische Koma …“
„Ich habe Süßstoff anzubieten“, wagt Lars, Nils ins Wort zu fallen.
„Du hältst dich wohl für sehr witzig, was? Beweg’ deinen Arsch in den nächsten Supermarkt und hol’ Zucker! Aber dalli. Du bist sicherlich nicht an einer schlechten Beurteilung interessiert, oder?“
„Ähhh …“ Lars ist sprachlos.
„Dachte ich mir doch, dass wir uns verstehen. Das faule Studentenleben ist vorbei. Zeit, in der Realität anzukommen.“ Er wirft mir einen letzten Blick zu und sagt: „Deadline läuft.“ Dann verlässt er das Büro und knallt dabei so hart die Tür hinter sich zu, dass eins von den neuen Bildern an den Wänden bedrohlich ins Wanken gerät.
„Was war denn das?“
„Darf ich vorstellen: Nils, der Sklaventreiber.“
„Darf der das? So mit uns reden und uns so behandeln?“
„Wo kein Kläger ist, ist auch kein Angeklagter.“
„Aber so was muss doch der Chef erfahren!“
„Herr Gröne?“
„Ja!“
„Der interessiert sich vor allem für die Zahlen. Glaub’ mir, das führt zu nichts. Aus irgendwelchen Gründen hat Nils einen Stein bei ihm im Brett. Das liegt wohl daran, dass er das abliefert, was der Kunde lesen will, und die Auflage steigert. Er sorgt dafür, dass wir uns auf dem Markt gut behaupten können.“
Darauf erwidert Lars nichts mehr. Er steht auf und marschiert in den nächsten Supermarkt.
Die Recherchearbeiten sind umfangreich. Lars habe ich, zu meiner Entlastung, die Leserbriefe und das Horoskop übergeben. Damit ist er mehr als nur beschäftigt. Ich weiß beim besten Willen nicht, wie er sein Studium geschafft hat. So hilflos habe ich noch keinen Kollegen gesehen, wenn er vor einem leeren Blatt Papier sitzt – und ich spreche nicht von einer Schreibblockade. Wir alle lieben das Schreiben. Darum haben wir uns schließlich für diesen Beruf entschieden.
„Das ist doch Schwachsinn!“, ruft Lars über den Tisch.
Seit heute Morgen dudelt ein kleines Radio auf der Fensterbank, dass Lars mit einem Tada! aus seinem Rucksack hervorgezaubert hat, als käme ein weißes Kaninchen daraus hervor. Hätte nicht gedacht, dass Musik so entspannend sein kann. Es ist richtig gemütlich in unserem Büro.
„Da schreibt tatsächlich jemand, ich zitiere: ‚Ich möchte jetzt auch Schüßler-Salze wie die heißen Sieben ausprobieren. Ich weiß aber nicht, ob ich dabei was Bestimmtes beachten muss.‘ Haben die kein Internet?“
„Im Heft zweiunddreißig hatten wir einen Bericht über Schüßler-Salze. Die Informationen kannst du dir im Archiv aufrufen. Schreib’ so sachlich und allgemein wie möglich.“
„Okay, aber das ist doch Schwachsinn!“
„Für dich vielleicht, aber für den Leser ist es wichtig und für uns ist es ein Zeichen, dass die Berichte gelesen werden. Somit wissen wir, was unsere Kunden interessiert.“
„Ich dachte immer, die Geschichten der Kummerkasten-Tante wären längst überholt. Das liest doch keiner mehr!“
Es entlockt mir ein Schmunzeln. „Irgendwie müssen doch die leeren Seiten gefüllt werden. Daher auch die Rätselecke, das Horoskop, die Rezeptideen mit Bildern, Reisetipps, Witze und Cartoons. Aber auch Informationen über Gesundheit, die Kolumne und Berichte über andere spannende Themen, um das Fernsehprogramm abzurunden. Je bunter das Drumherum, umso besser. Hast du dich schon mal damit befasst, was für ein Produkt wir herstellen?“
„Produkt? Eine Zeitschrift!“
„Korrekt! Um es ganz präzise zu sagen, eine Fernsehzeitschrift. Was unterscheidet unsere Zeitschrift, Schau-Genau-TV, von anderen Programmzeitschriften, die es auf dem Markt gibt?“
Lars zuckt mit den Achseln.
„Wir bedienen die breite Masse. Leichte Kost, von jedem etwas. Nicht zu politisch, nicht zu viele Boulevard-Geschichten.“
„Zuckerwatte fürs Hirn?“
„Ein wenig vielleicht! Wenn du mehr über die Marktanalysen wissen möchtest, ist Marek Gröne dein Ansprechpartner.“
Still arbeiten wir vor uns hin. Leise ist das Geklapper der Tastatur zu hören. Im Hintergrund dudelt eine fröhliche Melodie aus dem Radio, die die stumpfsinnige Tätigkeit erträglicher macht und locker von der Hand gehen lässt.
„Du, Hannah?“, unterbricht Lars das Schweigen.
„Ja?“
„Also, wegen Samstag …“ Er räuspert sich. Macht eine Pause.
Ich schaue von meinem Bericht auf und blicke ihn über unsere Bildschirme hinweg erwartungsvoll an.
Lars sieht auf seine Schreibtischunterlage. Mit den Händen traktiert er nervös einen Kugelschreiber. Er dreht das Griffrohr auf, friemelt die Mine raus und bastelt alles wieder zusammen.
„Ich … ich muss absagen“, platzt er schließlich hervor.
„Oh!“ Ich schlucke und versuche, die plötzlich aufkommende Enttäuschung, die mich selber überrascht, zu verdrängen.
Eigentlich habe ich es von Anfang an gewusst, ja, praktisch erwartet, dass er es nicht ernst gemeint hat und einen Rückzieher machen würde. Trotzdem tut es verdammt weh, in meiner Herzgegend, und mein Magen zieht sich zusammen.
Und ich blöde Kuh habe mich verrückt gemacht, was ich am Samstag anziehen soll! Gott sei Dank habe ich die Quittungen aufgehoben und die Etikette von meinen neuen Sachen noch nicht abgeschnitten. Somit wird es wenigstens kein finanzieller Reinfall.
Ich versuche, nicht zu enttäuscht zu klingen. „Nicht so schlimm! Ich habe auch noch eine andere Verabredung am Samstag. Das wollte ich dir schon den ganzen Tag sagen. Bin nur noch nicht dazu gekommen. Also, mach dir keinen Kopf. Außerdem war das mit unserem Treffen doch eh nicht so eine gute Idee.“
Mit einem lautem Klack, bricht der Klipp von der Druckhülse ab.
„Ach so!“ Jetzt klingt er enttäuscht. Eventuell interpretiere ich da auch zu viel hinein. So gefühlsduselig habe ich ihn nicht eingeschätzt. Das ist eigentlich etwas für, na ja … Jedenfalls nichts für gestandene Männer. „Warum denn nicht?“
„Weil … Zum einen: Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps. Zum anderen wird es nicht gern in diesem Unternehmen gesehen, wenn sich männliche und weibliche Kollegen privat treffen. Liebelei am Arbeitsplatz, und so. Nicht, dass wir je … Versteh mich nicht falsch, aber die Gerüchteküche und die Stille Post sind hier nicht zu unterschätzen. Im Nu müssen wir in der Chefetage zum Report antreten, und ich habe echt keinen Bock, deswegen meinen Job zu verlieren.“
Mittlerweile hat er den Kugelschreiber in seine Einzelteile zerlegt. Ohne großen Erfolg versucht Lars, die Druckfeder wieder auf die Miene zu schieben.
Ich greife in die Handtasche, die in der untersten Schreibtischschublade liegt, um mein Handy herauszuholen. Jetzt kann ich meiner Mutter doch noch für Samstag zuzusagen. Die zusätzlichen Scheinchen kann ich gut gebrauchen.
„Eigentlich wollte ich dich fragen, ob wir den Termin auf morgen Abend vorverlegen könnten.“
„Oh! Damit habe ich jetzt nicht gerechnet“, gebe ich ehrlich zu. Ärgere mich jedoch gleich im Nachhinein, dass ich mehr von mir preisgebe als mir lieb ist.
„Wieso?“
„Na ja, keine Ahnung“, druckse ich herum. „Du hast sicherlich Besseres zu tun als dich mit mir zu treffen!“
„Nö, eigentlich nicht. Wie kommst du darauf?“, fragt er verblüfft.
„Wir sind doch völlig verschieden. Schau dich doch an. Du siehst aus, als wärst du aus einem Modekatalog gestiegen, und ich … ich bin eben nur ich.“
„Ja, und? Gegensätze ziehen sich doch an, habe ich mal gehört.“
„Aber kein Schönling einen Struwwelpeter!“
„Du hast ja eine seltsame Wahrnehmungskraft! Dein Aussehen scheint dich sehr zu beschäftigen, wenn du schon wieder davon anfängst. Hast du kein Körperbewusstsein?“
„Doch!“
„Und? Ist irgendetwas nicht okay mit deiner Verpackung?“
„Was soll das denn jetzt heißen? Natürlich weiß ich, wie ich aussehe. Ich bin nur zu klein.“ Da ist es schon wieder! Sobald er den Mund aufmacht, bin ich auf Krawall gebürstet. Er hat meinen empfindlichsten Punkt getroffen. Pikiert recke ich mich, um ein paar Zentimeter größer zu wirken, und zupfe das Shirt zurecht.
„Dann weißt du ja, dass du eine hübsche Frau bist, mit scharfen Kurven.“
Ich nehme alles zurück. Er ist hinreißend!
Mit Mühe unterdrücke ich den Impuls, mich umzudrehen, obwohl ich genau weiß, dass wir allein im Büro sind. Er kann also mit seinen Worten nur mich gemeint haben.
Mir wird etwas mulmig zumute. In meinem Bauch kribbelt es, als wären dort dreißig Schmetterlinge gefangen, die verzweifelt einen Weg ins Freie suchen.
„Quatsch!“ Mit der Hand mache ich eine wegwerfende Bewegung. „Du nimmst mich auf den Arm.“
Verlegenheit schwingt mit, als er mit sanfter Stimme sagt: „Nein, gar nicht, ich meine das total ernst. Ich mag Frauen mit Kurven.“
Sprachlos schaue ich ihn an. Weiß nicht, was ich davon halten soll, als plötzlich die Druckfeder von dem in Einzelteile zerlegten Kugelschreiber vor ihm mit einem Geräusch, das mich an den hüpfenden Flip aus Biene Maja erinnert, in hohem Bogen quer über den Schreibtisch saust und in den Fransen des hochflorigen Teppichs verschwindet.
Lars blickt dem Geschoss bedeppert hinterher. Die Situation ist so komisch, dass ich lauthals anfange, zu lachen. Als Lars endlich aus seiner Schockstarre erwacht, fällt er in mein Gelächter ein. Es ist ein schönes Lachen, voll und ganz von Herzen kommend. Inzwischen rollen mir die Tränen über die Wangen. Meine Mascara ist sicherlich total verschmiert. Vermutlich sehe ich aus wie ein Pandabär, aber das ist mir im Augenblick völlig egal. Mein Bauch schmerzt, und ich bekomme kaum Luft, dafür aber Seitenstiche. Er sieht, wenn er so lacht, bezaubernd aus. Etwas Spitzbübisches strahlt aus seinen rauchblauen Augen. Der arrogante Zug in seinem Gesicht ist verschwunden und hat Platz gemacht für einen charmanten, aparten Bick, der echt sexy ist.
Wir brauchen etlichen Minuten, um uns mehr oder weniger zu beruhigen, denn jeder Blick zu dem anderen löst einen neuen Lachflash aus.
Großzügig verteile ich Taschentücher, schnäuze meine Nase und versuche, mein Make-up einigermaßen zu retten.
„Ich sollte den Kugelschreiber wieder zusammenbauen. Weißt du, wo diese Feder hingeflogen ist?“
„Ja, in den Teppich vor dem Schreibtisch. Aber schmeiß’ das alte Ding doch einfach weg. Er ist sowieso kaputt, nachdem du ihn so malträtiert hast.“
„Keine schlechte Idee, wenn der Kuli nicht Nils gehören würde. Ich hab ihn versehentlich vorhin mitgenommen und …“
Laut ziehe ich die Luft durch die Zähne ein. „Das ist Nils Kugelschreiber? Du hast seinen heiligen Stift mitgehen lassen?“
„Ja, ist eine blöde Angewohnheit von mir. Aber es ist doch nur ein Kugelschreiber!“
„Nicht für ihn!“
Auf allen vieren krabbeln wir auf dem Teppich und suchen die Druckfeder zwischen den langen Fransen, als die Tür aufgerissen wird. Dem ungebetenen Störenfried strecke ich unfreiwillig den Hintern entgegen. Auf die Idee, dass ich Lars in dieser Haltung einen tiefen Einblick auf meine weiblichen Rundungen gewähre, komme ich nicht.
„Hat jemand von euch meinen Kugelschreiber geklaut? Ihr wisst genau, dass dieser Stift mir gehört. Also, her damit!“
Ertappt fahre ich herum und setze mich auf. Peinliche Röte schießt mir in die Wangen, als mir meine Körperhaltung bewusst wird.
„Sorry, Herr Förster, hier ist er nicht. Vorhin hatte ich ihn auf Ihrem Schreibtisch gesehen“, flunkert Lars Nils an.
„Da ist er aber nicht, verfluchte Scheiße!“
„Vielleicht ist er runtergefallen und liegt jetzt irgendwo auf dem Boden.“
„Da habe ich auch schon gesucht.“
„Dann komme ich gleich und helfe Ihnen beim Suchen. Vier Augen sehen je bekanntlich mehr als zwei.“
„Na, da bin ich aber gespannt!“ Nils donnert die Tür zu, und die Bilder an der Wand wackeln bedrohlich.
„Schleimer!“, zische ich.
Lars zuckt nur mit den Schultern. „Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen.“
„Na gut, du Sprüche-Kasper. Du solltest ihm schleunigst seinen Kuli zurückbringen. Damit versteht er keinen Spaß.“
„Warum eigentlich?“
„Man munkelt, er war ein Geschenk einer Verflossenen.“
„Ähhh …“ Lars verzieht angewidert das Gesicht. „Lass uns bloß die verflixte Feder finden.“
„Wie willst du ihm das kaputte Ding unterjubeln? Der wird ausrasten.“
„Lass mich nur machen!“, sagt er mit einem umwerfenden Grinsen und einem schelmischen Blick, der mich dahinschmelzen lässt.
Die Druckfeder sehen wir gleichzeitig. Als wir beide danach greifen, bin ich etwas schneller. Lars fasst meine Hand. Wir schauen uns an. Sein Gesicht ist meinem ganz nah. Unter seinem gepflegten Dreitagebart ist ein Grübchen versteckt. Um seine rauchblauen Iris ist ein leicht grüner Kranz. Wir verharren in unserer Bewegung. Dann ist dieser magische Moment leider vorbei, und ich reiche ihm die kleine Feder.
„Danke“, haucht er. Schnell hat er den Kuli wieder zusammengebaut und geht zu Nils.
Unter einem Vorwand, etwas ganz Wichtiges kopieren zu müssen, folge ich Lars. In Wirklichkeit bin ich viel zu neugierig darauf, wie er den kaputten Kugelschreiber Nils unterjubeln will.
Erst tut er so, als würde er mitsuchen. Er hätte Schauspieler werden sollen. Plötzlich bückt er sich und hält Nils den Kuli entgegen.
„Schauen Sie, Herr Förster. Da ist er ja!“
„Oh! Aber da habe ich doch nachgesehen.“ Nils krault seinen struppigen Bart und macht ein dümmliches Gesicht.
„Hmmm … anscheinend hat er sich unter den Rollen von Ihrem Stuhl verklemmt, und Sie sind dann darüber gerollt. Hier, er ist leider kaputt.“ Lars präsentiert dem verdutzten Nils seinen geliebten Kugelschreiber mit dem abgebrochenen Klipp.
„So ein Mist, das habe ich gar nicht gemerkt!“ Nils schaut traurig auf die Trümmer in seiner Hand.
„Also dann, Herr Förster. Ich hole Ihnen mal was zu essen. Sie sehen aus, als würden Sie jetzt etwas Ordentliches vertragen können. Chinesisch oder von der Imbissbude?“
„Currywurst und Pommes rot-weiß!“
„Geht klar!“
„Lars?“
„Ja?“ Er dreht sich zu Nils um.
„Kannst mich Nils nennen.“
Lars tippt sich mit dem Zeigefinger an seinen imaginären Hut. Dann geht er an mir vorbei, grinst und zwinkert mir frech zu.
Ich kann nur den Kopf schütteln. Aus diesem Kerl werde ich einfach nicht schlau.