Читать книгу Das Ende - Матс Страндберг - Страница 12
NOCH VIER WOCHEN UND ZWEI TAGE SIMON
ОглавлениеSobald ich den Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür stecke, fängt Bumbum an zu bellen. Und als ich sie öffne, hallt es durch das gesamte Treppenhaus. Ich ziehe die Tür rasch hinter mir zu und beruhige den Hund, bis er still ist. Doch knapp siebzig Kilo Hund, die in einem engen Flur wild im Kreis herumspringen, machen auch ohne zu bellen jede Menge Lärm.
»Ruhig jetzt, alter Junge«, krächze ich und verliere das Gleichgewicht, als ich versuche, mir die Schuhe auszuziehen.
Noch bevor ich wieder auf die Beine komme, fährt mir eine feuchte Zunge übers Gesicht. Ich stolpere ins Bad. Das Pflaster auf meiner Augenbraue, das mir Ali beim Nachglühen verpasst hat, hat sich auf dem Nachhauseweg wieder gelöst und ich entdecke Blutflecken auf meiner Wange. Außerdem ist die Augenbraue geschwollen und tut weh. Ich putze mir überm Waschbecken die Zähne. Als ich mit der Zahnbürste abrutsche und sie mir aus Versehen in den Gaumen ramme, muss ich mich fast übergeben. Ich spüle mir den Mund direkt unterm Wasserhahn aus.
Bei Ali zu Hause herrschte eine merkwürdige Stimmung. Ich glaube, dass wir alle von den kriegsähnlichen Szenen in der Innenstadt total schockiert waren. Ich hatte gehofft, dass Tilda wiederauftauchen würde, und währenddessen viel zu viel getrunken.
Deine Ex ist ’ne verfluchte Hure!
Das hatte die Blondierte mir zugerufen. Ich weiß noch immer nicht, wie sie heißt. Beim Nachglühen hatten wir wieder rumgeknutscht, doch ich war viel zu betrunken und konnte vor ihr nicht verheimlichen, dass ich zwischendurch eine Nachricht an Tilda schrieb. Ich versuchte ihr zu erklären, dass ich mir Sorgen um sie machte und wissen wollte, ob sie dort heil angekommen war, wo sie hinwollte. Daraufhin hatte mir die Blondierte ihren Schnaps ins Gesicht gekippt und alle starrten sie an. Doch Tilda hatte noch immer nicht auf meine Nachricht geantwortet.
Ich bin so wahnsinnig müde. Müder als je zuvor. Wenn ich jetzt das Licht löschen und mich auf den Badezimmervorleger legen würde, würde ich vermutlich durchschlafen, bis der Komet einschlägt und alles vorbei wäre. Doch stattdessen schaffe ich es, mich wieder aufzurichten und mir den Mund abzutrocknen.
Als ich aus dem Bad komme, steht Judette mit rot geränderten Augen im Dunkeln vor mir. Sie trägt ihren Morgenmantel.
»Sorry, wenn ich dich geweckt hab«, sage ich.
»Glaubst du etwa, dass ich schlafen konnte? Du hast versprochen, früh nach Hause zu kommen.«
Sie schiebt mich unsanft in die Küche, wo ich mich schwer auf einen Stuhl fallen lasse. Durch das gekippte Fenster dringt lautes Vogelgezwitscher herein. Inzwischen hat es aufgehört zu regnen und der Himmel ist heller geworden.
»Was ist denn mit deinem Auge passiert?«, fragt Judette, während sie ein Glas Wasser vor mir auf den Tisch stellt. »Warst du etwa doch in der Stadt?«
»Wir hatten es eigentlich überhaupt nicht vor. Es hat sich einfach so ergeben.«
Ihre Augen glühen vor Wut. Ich schaue weg und betrachte stattdessen die Orchideen auf der Fensterbank. Lilafarbener Venusschuh und rosa-gelblich gefärbte Pinocchio. Hübsch und ziemlich teuer. Judette hat sie aus dem Blumenladen in der Storgata, bevor der dichtmachte. Als ich klein war, kannte ich die Namen aller Blumen, die es dort gab. Doch jetzt ist nur noch ein leeres Ladenlokal mit eingeworfenen Scheiben übrig.
»Tut mir leid«, sage ich.
»Hast du dich geprügelt?«
»Nein, mich hat jemand angerempelt, aus Versehen. Es war ein Unfall.«
»Und danach?«
»Wie danach?«
»Was habt ihr nach dem Spiel gemacht?«
»Wir haben zu Hause bei Ali gesessen und uns unterhalten.«
Judette betrachtet mich schweigend und ich weiß, dass es ein Trick ist. Sie wartet, bis ich anfange zu reden, und lässt mich dann mein eigenes Grab schaufeln. Und dennoch kann ich nicht anders, als den Spaten in die Hand zu nehmen und zu graben.
»Ich hab gedacht, ihr seid sowieso schon zu Bett gegangen und es wäre egal, wann …«
»Unsinn«, unterbricht sie mich. »Du hast keinen Augenblick an uns gedacht.«
Das stimmt nicht. Ich hatte tatsächlich an sie gedacht. Aber in dem Moment waren sie mir eher egal.
Allmählich machen sich die Kopfschmerzen bemerkbar und ich spüre ein heiß glühendes Pochen hinterm Stirnbein.
»Kapierst du überhaupt, wie große Sorgen ich mir gemacht habe?«, fragt Judette. »Glaubst du etwa, ich hab nicht gehört, was in der Stadt los war?«
»Ich wollte doch nur mit meinen Freunden zusammen sein. Die sind mir auch wichtig.«
»Simon«, entgegnet Judette seufzend. »Das Ganze ist einfach so destruktiv.«
»Na und? Was spielt es denn noch für ’ne Rolle? Ist doch sowieso bald alles vorbei.«
»Ich verstehe ja, dass du es so empfindest, aber hast du denn wenigstens Spaß dabei? Für mich sieht es nicht danach aus.«
Jetzt spüre ich die Kopfschmerzen direkt hinter den Augen. Ich nippe leicht am Wasser, das Judette mir hingestellt hat. Es hat kaum meinen Magen erreicht, als es auch schon wieder hochzukommen droht.
»Ich hab jede Menge Spaß«, antworte ich. »Es ist die Zeit meines Lebens.«
»Und wie geht es dir morgen früh?«, fragt sie und lässt mich gar nicht erst antworten. »Jetzt sag mir nicht, dass es keine Rolle spielt.«
Ich schweige.
»Wir müssen versuchen, das Beste aus der Zeit zu machen, die uns noch bleibt«, sagt Judette.
Ich schaue in ihre dunklen Augen und betrachte die Haut ihres Gesichts, die im Licht der Deckenlampe glänzt. Ich vermisse sie so schrecklich. Und ich vermisse mein altes Leben. Plötzlich drohen mich all die Gedanken einzuholen, die ich zu verdrängen versucht habe.
»Ich weiß aber nicht, wie«, entgegne ich leise.
Sie nickt und beugt sich über den Tisch vor.
»Keiner von uns weiß das genau. Aber so wirst du es bestimmt nicht herausfinden.«
Judettes Stimme klingt sanft, so sanft, dass sie all meine Gefühle an die Oberfläche lockt. Aber ich will nicht schon wieder losheulen. Ich bin es so leid, es andauernd zu tun.
Ich räuspere mich, um den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken.
»Wo ist eigentlich Stina?«
»Sie macht einen Hausbesuch.«
Ich erkenne am Tonfall, was Judette damit meint. Schon wieder ein Selbstmord. Stina kümmert sich um die Angehörigen derjenigen, die das Warten auf den Kometen nicht mehr aushalten. Manche nehmen es lieber selbst in die Hand und bringen es hinter sich. Am Anfang konnte ich es überhaupt nicht nachvollziehen, weil es mir so widersprüchlich erschien, sich das Leben zu nehmen, um der Angst vorm Sterben zu entgehen. Doch inzwischen glaube ich, es nur allzu gut zu verstehen. Allerdings nur manchmal, und ich kann mir nicht vorstellen, mir selbst etwas anzutun.
Dessen bin ich mir ziemlich sicher.
»Und wann ist sie losgefahren?«
»Gegen halb elf. Ich habe ihr nicht gesagt, dass du noch nicht zu Hause warst, falls du das wissen willst.«
»Danke.«
»Aber ehrlich gesagt eher ihr zuliebe, nicht deinetwegen. Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen macht. Aber morgen werde ich es ihr sagen.«
»Na super.«
Judettes Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen.
»Aber ich werde mich bessern«, sage ich rasch. »Versprochen.«
Judette entgegnet nichts, sodass meine Worte in der Luft hängen bleiben und wie leere Worthülsen klingen.
»Ich springe kurz unter die Dusche, bevor ich zur Arbeit fahre«, sagt Judette und reibt sich die müden Augen.
»Warum duschst du eigentlich vorher?«
Judette hat den Beruf der Floristin freiwillig gegen den einer Müllfrau ausgetauscht. Der Komet hat sie sozusagen auf die entgegengesetzte Seite der Duftskala katapultiert.
»Um irgendwie wach zu werden«, antwortet sie. »Mein Gott, lass es bitte bald Montag sein, damit wir endlich eine neue Ration Kaffee bekommen.«
Sie streckt ihren Rücken durch und steht vom Stuhl auf. Bumbum hebt erwartungsvoll den Kopf, doch sie tätschelt ihm nur zerstreut das Fell und verlässt dann die Küche.
»Stell dir den Wecker«, ruft sie. »Du musst früh mit ihm Gassi gehen.«