Читать книгу Laktatexpress - Im Tal der Ortsschildsprinter - Matt Gelpe - Страница 47
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I WANT TO RIDE MY BIKE
Wenn du als Kind in den 50er, 60er oder 70er Jahren aufgewachsen bist, ist es zurückblickend kaum zu glauben, dass wir so lange überleben konnten! Als Kinder saßen wir in Autos ohne Sicherheitsgurte und Airbags. Unsere Bettchen waren angemalt in strahlenden Farben voller Blei und Cadmium. Die Fläschchen aus der Apotheke konnten wir ohne Schwierigkeiten öffnen, genauso wie die Pulle mit dem Bleichmittel. Türen und Schränke waren eine ständige Bedrohung für unsere Fingerchen. Auf dem Fahrrad trugen wir nie einen Helm! Wir tranken aus Wasserhähnen oder Bächen und nicht aus antiseptischen CamelBaks oder silberionisierten Bidons.
Wir bauten unseren Puky-Rädern alles Unnötige dran und wieder ab und entdeckten während der ersten rasenden Abfahrt, dass Weinmann-Bremsen doch was Tolles sind. Wir kamen nach einigen Unfällen auch ohne klar. Wir verließen morgens das Haus zum Spielen. Wir blieben den ganzen Tag weg und kehrten erst nach Hause zurück, wenn die Straßenlaternen angingen. Niemand wusste, wo wir waren, und wir hatten nicht mal ein Handy oder GPS dabei!
Ja, das waren lustige Zeiten, als wir in bunten Klamotten den Monte Brione runterheizten oder als Espoirs mit kratzigen Baumwolltrikots im Unterlenker unserer Sieben-Gang-Raleighs hingen. Wir haben uns geschnitten, brachen uns Knochen, Schulterblätter und Zähne, und niemand wurde deswegen verklagt! Es waren eben Unfälle. Niemand hatte Schuld außer wir selbst. Keiner fragte nach Aufsichtspflicht. Kannst du dich noch an »Unfälle« erinnern? Der Surfschüler, der sich erstmalig ein Carpentari-Rad auslieh und sich prompt das halbe Ohr abriss? Wir haben ihm den Lappen unter ein verschwitztes Stirnband gesteckt und sind ins Krankenhaus gefahren. Damit mussten wir alle leben, denn es interessierte niemanden – und keine Fachzeitschrift schrieb uns vor, wie breit der Lenker sein musste! Wir aßen Kekse auf unseren Touren und Brote mit dick Butter. Wir grillten ständig und wurden trotzdem nicht zu fett. Wir tranken mit unseren Freunden aus einer Flasche, und niemand starb an den Folgen.
Wir hatten keine Playstation, kein Nintendo 64, dafür Indexschaltung, BioPace, Deore XT und mehr Spiel im Steuersatz als heutzutage Federweg. Wir hatten im Studium Freunde. Wir gingen einfach raus und trafen sie auf der Straße. Oder wir marschierten einfach zu deren Heim und klingelten. Manchmal brauchten wir gar nicht zu klingeln und gingen einfach hinein. Ohne Terminkalender, Outlook oder SMS. Keiner fuhr mit dem Auto zum Treffpunkt, keiner brachte uns und keiner holte uns, wir nahmen einfach das Rad. Nicht den Crosser, das MTB, das Zeitfahrrad oder den Renner – einfach das Rad. Wie war das nur möglich?
Wir dachten uns Spiele mit dem Rad aus, mit Holzstöcken und Tennisbällen, mit Baumstämmen und Treppen, und wir versuchten, in Kratern und Skateparks Rad zu fahren. Außerdem tranken wir TRi TOP pur, ohne dass die Prophezeiungen eintrafen, die Plörre würde in unseren Mägen für ewig zu Zuckerklumpen erstarren. Und trotzdem hatten wir mit notorisch leeren Trikottaschen nicht selten einen Hungerast. Meine Freundin fuhr zum Bike-Festival an den Gardasee – und kam mit einem Riesen-Blechpokal zurück! Wir lernten, was ein Leistungstest ist – und wie schlecht wir doch waren. Wir nahmen das Training ernster, disziplinierten uns, wurden besser und besser. Beim Straßentraining durfte nur mitmachen, wer gut war. Wer nicht gut war, musste lernen, mit Enttäuschungen klarzukommen. Basta!
Aber wir wurden auch älter. Die Regenerationszeiten wurden länger, und wer das nicht akzeptierte, landete im Fegefeuer des Übertrainings. Unsere Taten hatten manchmal Konsequenzen. Und keiner konnte sich verstecken. Eine rote Ampel konnte eine Gruppe trennen, ein missachteter Radweg eine endlose Diskussion mit der Polizei herbeiführen. Von hupenden Autos, abgerissenen Rückspiegeln und in Cabrios versenkten, klebrigen Iso-Flüssigkeiten ganz zu schweigen. Wir waren keine Engel auf Rädern. Wir hatten traumhaft schöne Momente auf zwei Rädern. Wir haben aber auch gelernt, dass traumatisch schreckliche Unfälle zum Radsport dazugehören. Nur gut, dass wir fast alle ein Mal mehr aufgestanden, als unter der Leitplanke durchgerutscht sind.
Unsere Generation der Senioren 1/2/3/4 hat eine Fülle von innovativen Entdeckern mit Risikobereitschaft und charismatischen Führungspersönlichkeiten hervorgebracht. Wir hatten Freiheit, Misserfolg, Erfolg und Verantwortung in Beruf und Karriere – und wir hatten den Radsport als Schule, Ausgleich, Ansporn und Lebensinhalt. Mit alldem wussten wir umzugehen. Bis heute… und hoffentlich auch noch in ferner Zukunft.
Du willst wie Freddy Mercury auch nur täglich dein Rad fahren? Du stehst auf das wöchentliche Ausscheidungsrennen mit deinen besten Freunden? Du sehnst dich nach epischen Ritten durch faszinierende Landschaften? Und du genießt montagmorgens am Arbeitsplatz das herrlich brennende Gefühl in deinen Oberschenkeln, und deine Arbeitskollegen können die Milchsäure, die dir in den Pupillen steht, förmlich sehen?
Willkommen in der wunderbaren Welt des Laktatexpress!