Читать книгу Laktatexpress - Im Tal der Ortsschildsprinter - Matt Gelpe - Страница 53
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DAS BALZVERHALTEN GESCHLECHTSREIFER MARATHONISTI
Die Spezies der Radfahrer teilt sich seit Humboldts Erkenntnissen in drei wesentliche Kategorien: a) die Rennradfahrer, b) die Trimmfahrer und c) die seit Gary Fisher mutierten, auf Wald- und Feldwegen lebenden Mountainbiker. Heute wollen wir uns einmal der letztgenannten Spezies widmen und sie in ihrem natürlichen Lebensraum beobachten.
GRZIMEKS MEMOIREN
Diese äußerst putzigen, durchaus leistungsorientiert und immer mit Helm auftretenden Lebewesen rotten sich zwei Mal im Jahr zu sogenannten Festivals zusammen. Aus aller Welt kommen sie dann auf kleinster Fläche zusammen, um mit neuestem Material oder besonders coolem Aussehen ihre Artgenossen zu beeindrucken.
Gut zu beobachten auf diesen Festivals sind vielfältige Mutationen der Gattung Cyclus stollus. Zu nennen wären da an erster Stelle die oberkörperfreien Downhiller, die durch gehäuftes Auftreten in kunterbunten Plastikklamotten am Sessellift ihr Revier zu markieren gedenken. In ihrem Lebensraum konkurrieren sie mit den langhubigen Freeridern, die durch überflüssig weite Hosen und mit Tinnef vollgestopften Rucksäcken versuchen, sich gegen die anderen Artgenossen als einzige von der Bike autorisierte Spezies abzugrenzen. Von diesem Evolutionszweig stammen auch die coolen Sonnenbrillenposer ab, die im Eiscafé sehr detailliert über den Federweg der Betten aus dem Sauerlandstern referieren können.
Aber nicht diesen medienaffinen Randgruppen, die mit Radfahren eigentlich kaum noch etwas zu tun haben, gilt meine Aufmerksamkeit, ich habe es vielmehr auf eine andere, sehr kohärente Familie abgesehen: auf die kurzstreckigen Tourenschnecken und natürlich die laktatsüchtigen Marathonisti. Also begab ich mich an einem Sonntag um 5.00 Uhr in der Früh auf die Pirsch ins Sauerland…
STARTPIRSCH
Kaum ist die Sonne über die Wipfel der sauerländischen Nordmanntanne geklettert, tummeln sich die ersten sponsorbunt gescheckten Exemplare übereifrig im Startbereich. Mit hoher Trittfrequenz werden kleine Rampen hochgesprintet und der Puls auf Trab gebracht. Treffen zwei zusammen, erzählen sie sich pfauenhaft die nettesten Geschichten. Wortfetzen wie »noch erkältet«, »voll aus dem Training raus« oder »einfach nur mal sehen, wie es läuft…« signalisieren dem Konkurrenten: Vorsicht, da hat einer Topform! Zurückgeplustert wird dann meist mit »chronische Bronchitis«, »eitrige Angina« oder »das 24-Stunden-Rennen von gestern steckt mir noch in den Knochen…«
WIE DIE LEMMINGE
Nach diesem verbalen Vorgeplänkel begeben sich die Marathonisti artig an ihre Startplätze. Diese Aufstellung ist zumindest in Willingen absolut nicht artgerecht: Mehr als 3.000 wackere Zweiradler in sechs engen Startblöcken. Da geht’s den Hähnchen vom Wiesenhof ja noch besser. Auffallend nur, dass sehr viele kurzstreckige Tourenschnecken einen vorderen Startplatz ergattern und so schon am ersten Anstieg für ungeheuren Lärm und Verzweiflung unter den rennorientierten Langschnäblern sorgen. So gesehen fahren von den 3.000 angereisten Vertretern der Spezies nur etwa 150 ein Rennen, und der Rest fährt mehr oder weniger zufrieden hinterher.
FEED-ZONE
An der ersten Verpflegung am Diemelsee ist es dann interessant, die unterschiedlichen Strategien der Nahrungsaufnahme zu studieren. Die ersten Biker, die so etwas wie die Führungsrolle in der Nahrungskette einnehmen, knallen mit Tempo 50 durch die säuberlich aufgebauten Reihen von Getränkebechern. Sie brauchen keine Stopps an den Tränken, denn sie haben nette Artgenossen so dressiert, dass diese an jeder Steigung mit frischen 0,3-Liter-Flaschen peinlichst genau abgewogener isotonischer Labe am Wege stehen. Ersatzlaufräder und natürlich auch Ketten haben sie ebenfalls noch dabei. Hier merkt der Artenkundler, dass es bei dieser Jagd durch die Sauerländer Savanne um Gramm und Sekunden geht und jeder Fehler über Antilope oder Regenwurm entscheidet.
Danach kommt in kleineren Gruppen die durchaus ambitionierte Kategorie Marathonisti amateuristi. Diese fällt an der Labestation durch nicht minder beherrschendes Auftreten auf. Für den Laien unverständliche Kurzbefehle wie »ISO!!« werden in den Raum gebrüllt. Und die freiwilligen Helfer an den Theken sind allesamt Laien. Das führt zu tumultartigen Szenen, auch weil manchmal ein Teil der Horde durchfahren will, der eine oder andere Affe aber ohne anzuzeigen einfach zu den Bananen abbiegt.
Ist diese Spezies durch, kehrt erst mal Ruhe ein. Vereinzelt kommen nun Biker durch, die von den erfahrenen Radkundlern »Selbstverpfleger« genannt werden und am bestem mit Kamelen zu vergleichen sind. Sie haben sich vor Beginn des Marathons eine proppenvolle Drei-Liter-Trinkblase auf den Rücken geschnallt. Das macht zusammen mit den zwei 0,75er-Flaschen satte fünf Kilo Mehrgewicht. Damit kommt man an einem regnerischen Tag schon mal ohne Zwischenstopp bis zur zweiten Verpflegungsstelle. Diese Spezies ist bei allen Bikern gleichermaßen gefürchtet. Den Langsameren frisst sie beim Auffüllen der Vorräte sämtliche Tapeziertische leer. Und auch den schnelleren Marathonisti aus den hinteren Startblöcken sind sie ein Graus: Die Bezeichnung »Kamel« versteht nur, wer schon mal hinter einem solchen Exemplar im Trail warten musste.
ALLESFRESSER UND STREUNER
Die Sonne steht inzwischen fast senkrecht über dem Diemelsee. 30 Kilometer mit dem MTB können halt mitunter ganz schon lange dauern. An der Verpflegung herrscht ein Trubel wie in der Serengeti am einzigen Wassertümpel im Umkreis von hundert Kilometern. Da sind Horden von locker lachenden Tourenfahrern, die sich über die perfekt ausgeschilderte Strecke freuen. Sie probieren auch noch den letzten Kuchen, fragen ob es alkoholfreies Bier gibt. Gerne verharren sie im Schatten der Schirme, bis irgendwann einer der Rudelführer zum Aufbruch mahnt. Man hat ja immerhin noch drei Wassertümpel anzufahren, bevor im Ziel die Mutter aller Labestationen wartet.
Zwischendrin wuselt noch die Unterkategorie der Allesfresser an den Tischen herum. Eine nicht zu vernachlässigende Spezies. Sie streunt von Tisch zu Tisch und stopft sich alles Essbare wahllos in den Mund. Hauptsache, der Nachbar bekommt es nicht ab. Riegel werden kurzerhand gleich in Großhandelsdimensionen in den Trikottaschen versenkt, dass man problemlos halb Eritrea davon ernähren könnte – ist ja im Startpreis inbegriffen. Und damit sich das Startgeld richtig lohnt, wird noch die Frage hinterhergeschickt: »Habt ihr auch Gels?« Als ob Hyänen Gel bräuchten… Für die Haare, oder was? Aber bevor das Haltbarkeitsdatum überschritten wird, bitte sehr. Wir sehen uns bei eBay.
Zurück im Ziel sammelt sich die komplette Population wieder. Der Veranstalter hat ein Holzgerüst aufgebaut, um die Rudelführer aus aller Welt zu ködern. Die steigen dann auch artig angelockt von Blechpokalen aufs Podium und dürfen sich über Jagdtrophäen wie alte Drahtreifen freuen. Das Publikum kürt die Oberrudelführer des Tages mit rhythmischem Händeklatschen.
Alle anderen Artgenossen scheint dieses Gehabe allerdings nur peripher zu berühren. Sie haben sich urplötzlich in Eisdielenbiker zurückverwandelt. Nur die Startnummer zeichnet sie noch als stolze Marathonisti aus. Aber das interessiert im Tierreich keinen länger als drei Tage. Und so geht er weiter, der wiederkehrende Zyklus von Regeneration und Belastung. Der kontinuierliche Prozess der ewigen Auslese und des andauernden Balzrituals.
Fressen und gefressen werden – und nirgends schützender Windschatten! So ist das harte und einfache Gesetz der Savanne.