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Strasse der verlorenen Töchter

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Aber sind sie das wirklich, verlorene Töchter? Viele, zu viele der Kinder in diesem berührenden Bericht sind von ihren Vätern, Brüdern, Stiefvätern, Onkeln und Nachbarn missbraucht und von ihren Müttern, Tanten und Großmüttern auf die Straße geschickt worden. Verlorene Kinder sind sie. Aber in viel zu vielen Fällen haben gerade die Menschen, die für ihren Schutz zuständig waren, die sie hätten lieben und umsichtig auf ihrem Weg ins Leben begleiten sollen, sie gebraucht, vermietet, verkauft und ins Elend gestoßen. Diesen Menschen sind die Mädchen nicht verloren gegangen, sie haben sie verstoßen. Dieser Vertrauensbruch wiegt schwer und verdoppelt die Last des gefährlichen Lebens in der erzwungenen Prostitution.

4.500 Kilometer erschütternde Reportage machen deutlich, dass es entlang der BR 116 nicht um Einzelschicksale geht. Der Missbrauch von Tausenden von Kindern hat System. Das beginnt in den Familien, oft ist es eine Geschichte, die vor Jahrzehnten ihren Anfang nahm und wie eine Erbkrankheit von Generation zu Generation weitergegeben wird. Aber es ist nicht nur die Geschichte von Familien, die ihren Kindern die Elternliebe verweigern; es ist zugleich die Krankheit einer Gesellschaft, die den massenhaften täglichen Missbrauch ihrer Kinder duldet – vielleicht sogar billigt. Brasilien hat alle Gesetze und Regelungen, die nötig sind, um dieser Zerstörung von Kinderseelen ein Ende zu setzen. Aber eine Kultur des Wegsehens und Akzeptierens – und vielfach auch der Korruption und der bezahlten Mitwisserschaft – schiebt die Gesetze beiseite und bestimmt das Leben.

Was sind das eigentlich für Männer, die kleine Mädchen mieten, benutzen und dann wegwerfen? Was haben diese Männer darüber gelernt, was ein Mann ist? Was bedeutet männliche Identität für sie? Ein Mann ist stark. Ein Mann nimmt sich, was er braucht, mit Geld oder mit Gewalt. Kinder, Mädchen, Frauen sind dazu da, benutzt zu werden. Für die meisten Jugendlichen in den brasilianischen Favelas ist die erste sexuelle Erfahrung eine Vergewaltigung; die Jungen erleben sie als Täter, die Mädchen als Opfer. In dieser Welt herrschen die Männer, die Frauen gehorchen. Dass auch die Vergewaltiger zu oft selber Opfer waren, bevor sie Täter wurden, dass sie am Ende vielfach Verlierer bleiben, gehört zur Wirklichkeit Brasiliens. Freundschaft zwischen Männern und Frauen, zwischen Jungen und Mädchen ist nicht vorgesehen. Ahnen die Männer, was ihnen in einem Leben fehlt, das ohne Freundschaft, Zuwendung und ehrliche Wertschätzung von Frauen bleibt?

Es ist daher richtig und konsequent, wenn Matt Roper schreibt, dass er zu einer bleibenden Veränderung der Situation die ganze Gemeinde braucht, die Schulen, die Geschäftsleute, die Polizei, den Bürgermeister, die Kirchengemeinden. Nur in einer gemeinsamen Anstrengung der ganzen Gesellschaft lässt sich die Kultur des Missbrauchs und der Abwertung überwinden.

Wie Matt Roper und Dean Brody setzt sich die Kindernothilfe mit vielen Projekten in Brasilien dafür ein, Mädchen und Jungen vor Missbrauch und Gewalt zu schützen, sie zu stärken und ihnen einen guten Start in ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Wo Mädchen schon zu Opfern geworden sind, lernen sie, dass sie wichtig sind und es verdient haben, geliebt zu werden. Mädchen und Jungen lernen andere Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit kennen. Die Mädchen lernen, dass es nicht ihre Bestimmung ist, sich Männern unterzuordnen und ihnen zu Willen zu sein. Die Jungen verstehen, dass es für sie selber besser ist, nicht zu Tätern zu werden, weil sie Freunde gewinnen können, wenn sie Mädchen mit Respekt begegnen. So lässt sich die Erbkrankheit der Gewalt überwinden. Es sind Schritte darauf zu, dass zumindest die nächste Generation verschont bleibt.

Natürlich geht es am Ende dann doch um Einzelschicksale. Um Leilah, Mariana und Joseline. Matt Ropers bewegender und anrührender Bericht ist voll Leidenschaft für die Mädchen auf den Straßen Brasiliens und weckt den dringenden Wunsch, mit daran zu arbeiten, dass all diese Kinder bald ein gutes Leben und schützende Liebe finden.

Duisburg, im November 2015

Christoph Dehn

Stellvertretender Vorsitzender des Vorstands Kindernothilfe e.V.

Die Straße der verlorenen Töchter

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