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Kapitel 4
Auf der Suche nach Leilah

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„Na so was, junger Mann! Ich hätte nie gedacht, dass ich dich wiedersehen würde. Was machst du hier?“ Abigail breitete ihre Arme aus und ich umarmte sie herzlich. Seit fast zehn Jahren hatten wir uns nicht gesehen, waren aber alte Freunde. Wir hatten einander während meiner Arbeit mit den Straßenmädchen der Landeshauptstadt Belo Horizonte kennengelernt, als Abigail noch die Leiterin des Jugendamts in Governador Valadares war. Damals hatte sie mir bei meinen Recherchen für Remember Me, Rescue Me geholfen, indem sie mich zu Polizei-Razzien in Bordellen und Strip-Clubs mitnahm und mir die Welt der sogenannten „1,99-Mädchen“ zeigte – Mädchen, die man so nannte, weil sie ihren Körper für eine Handvoll Centavos verkauften.

Inzwischen waren drei Monate vergangen, seitdem ich mit meiner Familie nach Brasilien gezogen war. Unser Umzug war anstrengend gewesen, aber nicht strapaziöser als erwartet. Wir hatten wieder von ganz vorne angefangen: Ausweise beantragt, eine Wohnung gefunden, Möbel gekauft, Bankkonten eröffnet, eine Kindertagesstätte für Milo organisiert und hundert weitere Dinge erledigt, mit denen wir nicht gerechnet hatten. Wir waren kurz davor, uns heimisch zu fühlen.

Ich hatte auch damit angefangen, als freischaffender Journalist zu arbeiten. Glücklicherweise hatte ich damit Erfolg – fast jeden Tag wurde einer meiner Artikel in einer englischen Zeitung abgedruckt. Bis jetzt hatte ich über so gut wie alles geschrieben: Über einen Fußball-Star, der einer Frau aus Versehen in die Hand geschossen hatte, über die Geburt eines zweiköpfigen Babys sowie über einen Mann, der an einem brasilianischen Flughafen mit einem Koffer voller lebender Fische aufgegriffen wurde.

Dean hatte es trotz überfülltem Terminkalender geschafft, nach Brasilien zu kommen, sodass wir unsere Reise auf der BR-116 fortsetzen konnten. Wir entschieden uns, wieder in Governador Valadares zu starten, wo wir die kleine Leilah getroffen hatten, und uns von dort aus nach Norden vorzuarbeiten. Das ganze letzte Jahr über war Leilah nicht aus Deans Gedanken verschwunden, selbst als er durch Kanada tourte, sich auf Preisverleihungen blicken ließ und Radio- und Fernsehauftritte hatte. Manchmal schrieb er mir E-Mails wie „Sitze in meinem Hotelzimmer und frage mich, was Leilah gerade macht“. Je mehr er über sie nachdachte, desto mehr wollte er sie aufspüren und einen Weg finden, ihr zu helfen.

Als wir in Valadares eintrafen, fuhren wir sofort zu Abigails Haus. Wenn uns jemand helfen könnte, Leilah zu finden, dann war das Abigail. Bei unserer Begrüßung fiel mir sofort auf, dass sie anders aussah als die starke, energische Frau, die ich in Erinnerung hatte: älter, dünner, zerbrechlicher. Sie teilte uns mit, dass sie mit Kehlkopfkrebs zu kämpfen gehabt habe. Ihre Speicheldrüsen produzierten keinen Speichel mehr, weswegen sie dauernd Wasser zu sich nehmen musste und die Anweisung von ihrem Arzt hatte, sich nicht mehr in die Arbeit zu stürzen, die einst ihr Leben bestimmt hatte. Das werde sie aber nicht davon abhalten uns zu helfen, versicherte sie uns, während sie sich bereit machte, uns zu begleiten.

Während sie uns durch das Labyrinth staubiger Gassen auf die BR-116 lotste, fragte ich, ob sie denn die Arbeit im Jugendamt vermisse. Ihre Antwort schockierte mich.

„Ach, ich bin schon lange vor dem Krebs müde geworden von diesem Verein.“

„Aber … das war doch deine große Leidenschaft. Was ist passiert?“

„Politik, Matt. Die Politiker haben damit angefangen, uns vorzuschreiben, wie wir unsere Arbeit zu tun haben. Wo wir eingreifen dürfen und wo nicht. Ich habe versucht, weiterzumachen, aber dann gab es einen Zwischenfall und mir wurde klar, dass ich da raus musste.“

Abigail erzählte uns dann, wie sie und ihre Kollegen auf die Spur eines organisierten Kinderprostitutionsrings gestoßen waren, in den auch ausländische Touristen verwickelt waren, die für die Paragliding-Meisterschaften in der Stadt waren. Valadares ist die Welthauptstadt des Paraglidings. Hier werden auch die jährlich stattfindenden Meisterschaften auf dem Gipfel des berühmten Ibituruna-Bergs, einem 1123 Meter hohen Berg aus Vulkangestein, ausgetragen. Das Jugendamt war gerade im Begriff, loszulegen und Verhaftungen vornehmen zu lassen, als eine Anweisung aus dem Stadtrat kam.

„Uns wurde gesagt, dass wir die Sache ruhen lassen und nichts gegen die Kinderprostitution im Dunstkreis der Sportler und Zuschauer unternehmen sollten. Jemand nahm mich beiseite und erklärte mir doch tatsächlich: ‚Paragliding ist die einzige Touristenattraktion, die diese Stadt hat. Wir können es uns nicht leisten, das zu gefährden.‘ Da entschied ich, dass es Zeit war, den Job hinzuschmeißen.“

Da das Jugendamt von da an in den Händen der Politiker war, und deren Interessen dem Auftrag des Amts zuwiderliefen, war das Prostitutionsproblem der Stadt eskaliert. Abigail berichtete weiter, es gebe nun gar keine Razzien und Polizei-Einsätze mehr. „Sie wollen nicht, dass jemand auf das Problem aufmerksam wird und damit für schlechte Publicity sorgt. Ich bin mir sicher, dass es entlang der ganzen Bundesstraße genau so läuft. Die da oben möchten lieber so tun, als würde diese Tragödie nicht existieren.“

Dasselbe sei auch einer Freundin von ihr passiert, die in der favela der Stadt – Turmalina genannt – mit gefährdeten Mädchen gearbeitet hatte, erzählte uns Abigail. „Sie hatte herausgefunden, dass es Polizisten gab, die die Mädchen in ihrem Stadtteil für sexuelle Gefälligkeiten bezahlten. Trotz ihrer Anzeige an die verantwortliche Dienststelle gab es keine Reaktion. Am Ende hat sie sich so bedroht gefühlt, dass sie wegziehen musste.“

Die Turmalina erstreckt sich entlang der BR-116, wo die eng aneinander gepressten Häuser teilweise mit der Rückseite direkt an die lärmende Fahrbahn gebaut waren. Dies war der schlimmste Stadtteil in Valadares; in den Zeitungen fanden sich fast täglich Berichte über örtliche Verbrechen. Der Name war gleichbedeutend mit Gewalt, Drogenbanden und erschreckenden sozialen Problemen. Es war jedoch auch der Ort, der in der Nähe der Stelle lag, an der wir Leilah vor einem Jahr getroffen hatten. Wir beschlossen, dort mit unserer Suche zu beginnen.

Abigail hatte einen Bekannten, der uns vielleicht weiterhelfen würde: Der Besitzer einer Apotheke, der, wie sie uns erzählte, jeden in Turmalina kenne. Als wir die BR-116 verließen, quälten wir uns vergeblich über eine Stunde lang durch das Labyrinth der Straßen, Hügel und Sackgassen der favela. Oft kamen wir an Stellen vorbei, an denen wir zwanzig Minuten zuvor schon einmal gewesen waren. Abigial gab letztlich zu, dass wir uns verfahren hatten. Dean und ich fragten uns, wie wir ein unauffälliges, kleines Mädchen in diesem wuchernden Stadtdschungel überhaupt finden sollten.

Genau in dem Moment, in dem wir aufgeben wollten, erkannte Abigail die Ladenzeile, die wir gesucht hatten. Juninho, der Apotheker, kam soeben aus der Mittagspause. Mit einem Zahnstocher im Mundwinkel fragte er uns: „Ihr sucht die Mädchen, die sich für Sex anbieten? Die kommen hier jeden Abend vorbei, auf dem Weg zur Bundesstraße. Eins der Mädchen wohnt hier um die Ecke. Vielleicht trefft ihr sie dort an.“

Kurze Zeit später standen wir in einer engen Gasse vor einem maroden, hölzernen Zaun. Dahinter zerrte ein Pitbull knurrend an seiner Kette und schnappte immer wieder nach uns. Auf unser Rufen hin kamen drei Mädchen aus dem Haus, alle unterschiedlich groß. Sie hielten Plastikteller in der Hand, von denen sie Essen in ihren Mund schaufelten. Abigail erkannte eins der Mädchen wieder. Sie erzählte uns später, dass die vierzehnjährige Camila bereits im Alter von neun Jahren laufend in Bordellen und auf LKW-Parkplätzen aufgegriffen worden war. Uns gegenüber verneinte Camila zwar, überhaupt etwas mit Prostitution zu tun zu haben, wusste aber trotzdem verdächtig viel über die Mädchen, die sich prostituierten. Als ich ihr ein Foto von Leilah zeigte, das Dean mit seinem iPhone gemacht hatte, erinnerte sie sich sofort. „Sie ist immer mit dabei, wenn wir zur Bundesstraße gehen. Seht ihr, wie klein sie ist? Die anderen Mädchen hassen sie, weil sie viel mehr Arbeit abbekommt. Es gibt viele Trucker, die auf so ein Knochengerüst wie sie stehen.“

„Weißt du, wo sie wohnt?“, fragte ich Camila.

„Nein, aber die ist sowieso nie zu Hause. Aber ich weiß, wo sie ist, wenn sie nicht gerade in einem LKW mitfährt. Hinter Mineral Water, da kannst du sie finden.“

Ich hatte keine Ahnung, was Camila mit „Mineral Water“ – Mineralwasser – meinte, aber Abigail schien es verstanden zu haben. Also verabschiedeten wir uns und gingen weiter. „Das ist der Name der Tankstelle, in deren Umgebung ihr Leilah getroffen habt“, erklärte sie uns auf dem Rückweg zu unserem Auto.

Es war wesentlich einfacher aus Turmalina herauszukommen, und bald schon waren wir im Strom der dahinrauschenden Busse, LKWs und Autos auf der BR-116 unterwegs.

Auf einem Feldweg hinter der Tankstelle trafen wir eine Gruppe von Einheimischen, die bejahten, ein Mädchen zu kennen, auf das Leilahs Beschreibung passte. Nur, dass ihr Name nicht Leilah sei, sondern Leidiane. Sie sei auch nicht fünfzehn, wie wir gedacht hatten, sondern zwölf und habe zwei Geschwister – eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder. Meistens könne man alle drei nachts antreffen, wenn sie neben einem bewachsenen Steinhaufen an einer dunklen Straßenecke kauerten und Crack rauchten.

„Sie ist total abhängig, das arme Ding“, erzählte uns eine Frau. „Wenn sie keine Drogen mehr hat, läuft Leidiane zur Bundesstraße oder zur Tankstelle, sucht sich einen Freier und kommt zurück, um sich neuen Stoff zu kaufen. Eine Tragödie ist das.“

Nachdem ich für Dean übersetzt hatte, was die Frau gesagt hatte, konnte ich ihm ansehen, wie sehr ihm diese Worte zu Herzen gingen. Letztes Jahr schien die Lage des Mädchens schon schrecklich genug. Die Realität, die nun langsam ans Licht kam, war weitaus schlimmer als alles, was wir uns vorgestellt hatten. „Weiß sie, wo die drei wohnen?“ fragte Dean mich.

„Ich habe sie einmal danach gefragt“, antwortete die Frau. „Da hat sie nach da drüben gezeigt, Richtung Wassertürme.“

Wieder war es Abigail, die etwas mit der Wegbeschreibung anfangen konnte. Dean und ich hatten es nicht wahrgenommen, aber wir waren am Morgen an sechs großen Wassertürmen vorbeigefahren, die aus dem wuchernden Stadtgebiet hervorragten. Bis dato war das unser einziger Hinweis, wo wir Leidiane finden könnten. Also fuhren wir durch ein paar enge Straßen zurück zum Highway, in Richtung der Wassertürme.

Auf dem Weg bemerkte ich eine dürre Frau in High Heels und knappem Outfit, die in schnellem Tempo am Bordstein entlang stolzierte. Ich machte Abigail auf die Frau aufmerksam und sie pflichtete meinem Eindruck bei: Obwohl es gerade erst zwei Uhr mittags war und die Sonne herunterbrannte, konnte das nur eine „Bordsteinschwalbe“ sein. Wenn sie zu den erfahreneren Frauen gehörte, die ihrer Arbeit an der Bundesstraße nachgingen, konnte sie uns vielleicht mehr über Leilah oder Leidiane – wie wir jetzt wussten – erzählen. Wir hielten neben ihr an und ich kurbelte meine Fensterscheibe herunter.

Ihr Name war Daiana, sie war fünfundzwanzig und überraschend offen, was ihr Leben anging. Sie war gerade auf dem Weg zum Haus ihrer Mutter, um ihre zweijährige Tochter abzuholen. Sie hatte sie dort gelassen, um auf der Bundesstraße Fernfahrer heranwinken zu können.

„Ich tue das nur, um meine Sucht zu befriedigen“, sagte sie, ihren Arm auf mein Autodach gelehnt. „Das ist tragisch, nicht wahr? Zu Hause wartet ein kleines Mädchen auf mich, und ich bin unterwegs und habe Sex mit widerwärtigen Männern. Und alles nur, damit ich mir so einen kleinen, weißen Klumpen Crack leisten kann. Manchmal schlafe ich sogar hier auf dem Seitenstreifen, damit ich morgens gleich da bin, wenn ich aufwache und dringend einen Schuss brauche. Ich bin echt am Ende.“

Wir zeigten ihr das Foto vom Mädchen im lilafarbenen Kleid.

„Klar kenne ich die – das ist Leidiane. Ich treffe sie oft auf der Straße. Und dann rate ich ihr immer wieder, dass sie mit dem Crack aufhören und sich Hilfe suchen soll. Sie ist so ein verlorenes, kleines Mädchen. Ihre Mutter hat psychische Probleme und Leidiane hat sonst niemanden auf der Welt. Sie wohnt übrigens hinter der dritten Kneipe in der Rua Quatro, der vierten Straße, dort drüben bei den Wassertürmen. Ich hoffe, dass ihr Leidiane helfen könnt, ansonsten ist sie in einem Jahr tot, da bin ich mir sicher.“

Mit dieser Information hatten wir endlich eine Art Adresse und hatten es geschafft, die zahllosen Straßen der Stadt auf ein kleines Gebiet zu beschränken. Aber wir hatten uns zu früh gefreut – unsere Suche nach Leilah war alles andere als beendet. Zwei Stunden lang fuhren wir im Kreis, folgten Hinweisen, die uns nicht weiterbrachten oder sich als falsch erwiesen. Wir fanden etwa heraus, dass es gar keine Rua Quatro im Umkreis der Wassertürme gab. Zwei Mädchen, die gerade ein Auto auf der Straße wuschen, sagten uns, dass wir es eine Straße weiter versuchen sollten, weil dort eine verarmte Familie wohne. Dort kannte keiner Leidiane, aber ein Mann war sich sicher, dass ein Mädchen, das auf die Beschreibung passte, ein paar Straßen weiter, auf einem steilen Hügel lebte.

Wie wir herausfanden, war es die vierte Straße nach oben. Ein Mann in einer Kneipe am Fuße des Hügels schaute sich das Foto genau an und meinte, dass das Mädchen wohl in einer vermieteten Hütte hinter der letzten Bar, die Straße rauf, wohne. Abigail wurde langsam immer nervöser. Dieser Winkel der Stadt war berüchtigtes Gang-Territorium – und wir befanden uns mittendrin. Nicht besonders vertrauenswürdig aussehende Männer schleppten Deans iPhone in dreckige Kneipen und zeigten das Foto ihren Freunden. Zu unserem Leidwesen stellte sich heraus, dass niemand hinter der letzten Bar lebte und keiner der Besucher das Mädchen jemals gesehen hatte. Es schien, als wären wir wieder am Anfang.

In der nächsten Straße fielen mir einige kleine Ziegelsteinhäuser direkt hinter der Kneipe auf und wir wollten einen letzten Versuch wagen. Aber auch diese Häuser standen leer. Ein Mann, der gerade sein Auto wusch, fragte uns, was wir hier machten und wir zeigten ihm das Foto von Leidiane.

„Ach, das kleine Mädchen, das hier öfter durch die Straßen zieht? Die habe ich gesehen. Aber die wohnt nicht hier, sondern unten am Bach.“

Da ich inzwischen von mehreren Einheimischen gehört hatte, dass sie angeblich wüssten, wo Leidiane wohne, war ich skeptisch und gab ihm dies auch zu verstehen.

„Ich bin hier fast fertig. Ich kann euch dorthin bringen, wenn ihr möchtet“, antwortete er, während er das Wasser für den Schlauch abdrehte.

Wir folgten ihm den Hügel hinunter, zu einem Trampelpfad, der an einem zugemüllten Fluss lag, direkt bei den Wassertürmen. Wir hatten den Pfad auf unserem Hinweg gesehen, aber außer einem zugewachsenen Niemandsland schien sich dort nichts befunden zu haben. Unser Wegbegleiter ließ uns an einem Stacheldrahtzaun stehen, hinter dem ein nicht fertig gebautes Ziegelhaus auf einem staubigen Stück Land stand. Abigail klatschte auf die für Brasilien typische Weise und rief nach den Bewohnern des Hauses. Nachdem keine Antwort kam, ging sie durch die Gartenpforte und klopfte an die Tür, doch das Gebäude war komplett verlassen. Ein alter Mann, der gerade vorbeiging, teilte uns mit, dass dort seit mindestens einem Jahr niemand mehr gewohnt habe.

Wir entschieden uns, aufzugeben. Wir hatten den ganzen Tag gesucht und waren keinen Schritt weitergekommen. Entmutigt kehrten wir zu unserem Auto zurück.

„Wartet!“ rief Dean plötzlich, als wir losfahren wollten. „Da drüben – schaut mal, ist sie das nicht?“ Er zeigte auf ein eingezäuntes Häuschen auf der gegenüberliegenden Straßenseite, das durch das dichte Gestrüpp kaum zu sehen war. Man konnte jedoch den schmalen Umriss eines jungen Mädchens vor dem Haus ausmachen. Wir erkannten sofort das Mädchen im lilafarbenen Kleid, das wir vor fast einem Jahr getroffen hatten. Nur, dass sich ihre Silhouette dieses Mal nicht gegen das Scheinwerferlicht abzeichnete, sondern gegen die Strahlen der Nachmittagssonne. Sie trug auch andere Kleidung: ein crémefarbenes Oberteil, das mit roten Rosen bedruckt war, und kurze Jeans-Shorts, die unförmig auf ihren knochigen Hüften hingen.

Wider Erwarten erkannte sie uns ebenfalls und strahlte über das ganze Gesicht, als wir auf sie zugingen. „Wie habt ihr mich hier gefunden?“, fragte sie uns, nachdem sie Dean und mich umarmt hatte. Bevor wir ihr antworten konnten, war sie schon hinter dem Haus verschwunden, um ihre Geschwister zu holen, deren Namen sie aufgeregt rief.

Leidiane war immer noch dasselbe kindliche, offenherzige Mädchen, das wir damals auf der nächtlichen Bundesstraße getroffen hatten. Ihr Gesicht war im letzten Jahr jedoch merklich gealtert; es sah fast so aus, als würde der Kopf einer älteren Frau auf dem Körper eines Kindes sitzen. Ihre Haare, die sie eigenständig blond gefärbt hatte, waren ungepflegt und zerzaust, ihre Zähne braun und verfault, die Gesichtszüge hager. Sie erinnerte mich an viele der Mädchen, mit denen ich auf den Straßen von Belo Horizonte zu tun gehabt hatte, die sich durch schweren Drogenmissbrauch selbst zerstört und keinen Wert mehr auf ihr Erscheinungsbild oder ihre Körperhygiene gelegt hatten.

Leidiane stellte uns ihre ältere, siebzehnjährige Schwester Vanessa vor, ein großgewachsenes Mädchen, mit abgehärtetem Aussehen, aber von genauso hagerer Statur wie ihre kleine Schwester. Ihr kleiner, redseliger Bruder Lucas war elf und hatte dasselbe hausgemachte Haarfärbemittel für seine lockigen Haare verwendet wie Leidiane. Die drei wollten wissen, warum wir einen ganzen Tag damit verbracht hatten, sie zu suchen.

Ich erklärte ihnen, dass Dean Musiker sei und ein Lied über Leidiane geschrieben habe. „Er möchte mehr über dich wissen und dir helfen. Können wir uns unterhalten?“

Leidiane warf einen Blick hinter sich. „Meine Mutter ist im Haus. Können wir vielleicht irgendwo anders hingehen?“

Wir beschlossen zu einer Eisdiele in der Nähe von Abigails Wohnung zu fahren. Die drei Geschwister kletterten auf den Rücksitz des Autos und unterhielten sich aufgeregt auf dem Weg dorthin.

Während wir uns Deans Lied anhörten, trällerte Leidiane auf dem Rücksitz: „Ich bin berühmt! Ich bin berühmt!“ An der Eisdiele angekommen, beluden Leidiane und ihre Geschwister ihre Plastikschalen mit Eis und bedienten sich reichlich an Keksen, Kuchen und Limonade. Abigail verabschiedete sich in der Zwischenzeit und ging nach Hause.

Unser Gespräch mit Leidiane verlief allerdings nicht so, wie wir es uns vorgestellt hatten: Sie wollte partout nicht zugeben, dass sie sich an der Bundesstraße prostituierte oder dass sie Crack jemals auch nur angerührt habe. „Früher habe ich mal programas gemacht, aber jetzt nicht mehr“, sagte sie, während sie nervös auf ihrem Sitz zappelte.

„Da haben wir aber etwas Anderes gehört, Leidiane. Uns wurde gesagt, dass du dich jede Nacht hinter der Tankstelle Mineral Water aufhältst“, antworte ich ihr.

Leidiane wurde zornig. „Wer hat euch das erzählt? Ich wette, ich weiß, wer das war. Was mischen sich diese Schlampen ein? Das nächste Mal, wenn ich die sehe, werden die was erleben!“

„Wir wollen dir nur helfen. Erinnerst du dich an das, was wir dir bei unserem letzten Treffen gesagt haben? Du verdienst mehr als das hier. Wenn du ein besseres Leben willst, könnten wir …“.

Leidiane hörte jedoch nicht mehr zu. Sie war wie ausgewechselt und rasend vor Zorn. „Was bilden die sich ein?! Ich werde sie umbringen. Das kannst du mir glauben!“, schrie sie. Die anderen Eisdielen-Besucher drehten sich beunruhigt zu uns um.

Dies war nicht mehr das verletzliche Mädchen, das wir auf der Bundesstraße getroffen hatten. Oder das Mädchen, das fröhlich auf dem Rücksitz unseres Autos geträllert hatte. Dies war eine ganz andere Person. Ich erkannte die Anzeichen. Die Anzeichen, dass Leidiane hoffnungslos cracksüchtig war. In der kurzen Zeit, die sie mit uns verbracht hatte, war sie immer unbeständiger geworden, unfähig still zu sitzen und leicht zu verärgern. Ihr Bruder und ihre Schwester zeigten ebenfalls die Symptome von Entzugserscheinungen. Wir wollten gerade aufbrechen, als alle drei anfingen um Geld zu betteln und sofort aggressiv wurden, da wir ihren Forderungen nicht nachkamen.

„Du hast ein Lied über mich geschrieben, du solltest mir also Geld dafür geben“, verlangte Leidiane auf dem Rückweg.

„Wir wollen dir helfen, aber wir werden dir kein Geld für Drogen zur Verfügung stellen“, antwortete ich.

„Ich hab euch doch schon gesagt, dass ich keine Drogen nehme. Gib mir einfach zehn Real, damit ich mir Essen kaufen kann“, entgegnete sie, während sie mit dem Gurt spielte und gegen die Autotür trat.

Vanessa fiel ihr in den Rücken. „Gebt ihr kein Geld, sie wird sich damit nur Crack kaufen. Aber ich – ich will nur essen. Ihr wollt doch nicht, dass ich hungere, oder?“

„Du bist doch diejenige, die das Zeug rauchen wird, du Piranha!“, zischte Leidiane zurück.

Wir kamen am Haus der Geschwister an, und Dean und ich stiegen aus dem Fahrzeug, um uns zu verabschieden. Vanessa rannte wortlos ins Haus, dicht gefolgt von ihrem Bruder. „Kommt schon“, sagte Leidiane zuckersüß, „nur zehn Real.“

„Tut uns leid.“

„Ihr werdet mir echt nichts geben? Dann braucht ihr erst gar nicht wiederzukommen.“ Sie drehte sich um und ging ebenfalls fort, jedoch nicht zum Haus wie die anderen, sondern in die entgegengesetzte Richtung, dem Rauschen der Autos und LKWs auf der BR-116 entgegen.

Dean und ich setzten uns wieder ins Auto und lenkten unseren Wagen zurück zur Bundesstraße, die uns weiter nach Norden führen würde. Nach der Freude, „Leilah“ – nach der wir so lange gesucht hatten – endlich wiedergefunden zu haben, fühlten wir uns nun völlig ausgelaugt und niedergeschlagen. Besonders Dean. Er hatte so viel Hoffnung in die Begegnung mit dem Mädchen gelegt, für das er das Lied geschrieben hatte. Er hatte sich vorgestellt, dass sie unsere Hilfe annehmen würde. Aber die Realität sah anders aus. Leidiane war erst zwölf Jahre alt – jünger als wir gedacht hatten – und schon vollständig in der Welt der Drogensucht gefangen. Körperlich war sie nicht dazu in der Lage, sich ein Leben ohne die Droge vorzustellen. Sie lebte nur für den nächsten Schuss und würde alles tun, um ihn zu bekommen. Auch wenn das bedeutete, sich in der Fahrerkabine eines LKWs missbrauchen und schlagen zu lassen.

Wir verließen Governador Valadares und fuhren wieder an dem Ort vorbei, an dem wir Leidiane zum ersten Mal gesehen hatten. Ein bestimmter Gedanke quälte Dean.

„Wir sind zu spät gekommen“, sagte er, während er aus dem Fenster sah. „Wir haben ein Jahr gebraucht, um zurückzukehren, und jetzt haben wir sie verloren.“

Wir wussten nicht, ob Leidiane mit ihrem Drogenkonsum angefangen hatte, um den Schmerz ihrer nächtlichen Erfahrungen zu betäuben oder ob sie ihren Körper verkauft hatte, um ihre Sucht zu finanzieren. Das Letztere schien mir wesentlich wahrscheinlicher zu sein. Vor einem Jahr war sie noch ein anderes Mädchen gewesen. Sie schien noch erreichbar zu sein – ein Kind, das gegen ihren Willen in ein höllisches Leben gezwungen worden war, um ihre verarmte Familie ernähren zu können. In diesem einen Jahr war sie kopfüber in ein tiefes Loch gefallen. Da es niemanden gab, der sie hätte auffangen können, war sie ins Bodenlose gestürzt. Jetzt führte sie das tragische Leben eines Mädchens, dem nicht mehr zu helfen war. Und das im Alter von zwölf Jahren.

Aus diesem Grund war unser zweites Zusammentreffen mit „Leilah“ um ein Vielfaches erschütternder und herzzerreißender als das erste. Vielleicht war dies ein Appell an uns. Eine Art Mahnung, dass der Albtraum der Kinderprostitution auf diesem Highway wesentlich komplexer war, als wir angenommen hatten. Diese Mädchen waren nicht nur Opfer ihrer Umstände, sondern auch vieler anderer Einflüsse – wie Süchten, Zuhältern, Dealern, Polizisten und eines unzulänglichen Rechtssystems. Mit Sicherheit sollte uns diese Begegnung mit Leidiane aber auch stets an die Dringlichkeit dieser Tragödie erinnern, daran, dass innerhalb weniger Monate ein wertvolles, junges Leben zerstört werden konnte.

Aber falls wir dachten, dass es bereits das Schlimmste sei, ein Mädchen an die Drogensucht zu verlieren, so hatten wir uns getäuscht. Das Schlimmste stand uns noch bevor.

Die Straße der verlorenen Töchter

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