Читать книгу Die Straße der verlorenen Töchter - Matt Roper - Страница 7

Kapitel 2
Nicht aufhören

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Die Sonne ging bereits unter und versank hinter den Hügeln am Horizont, als unser von der Fahrt strapaziertes Auto endlich über das staubige Kopfsteinpflaster der Innenstadt von Medina rollte. Es war 18:00 Uhr, und die Ladenbesitzer räumten bereits ihre ausliegenden Waren weg und ließen die Rollläden in ihren Schaufenstern hinunter. Auf dem zentralen Marktplatz herrschte jedoch noch reger Betrieb. Mit Einkaufstaschen beladene Frauen eilten über die vielbefahrene Straße und zogen Kinder hinter sich her. Männer mit ausgefransten Strohhüten saßen in Grüppchen auf dem Weg und spielten Karten oder saßen gemütlich auf den weiß getünchten Mauern des Platzes. Einige der Männer beobachteten uns eindringlich. Man sah ihnen deutlich an, dass sie nicht oft unbekannte Besucher in die Stadt kommen sahen.

Medina ähnelte der Stadt, die wir heute Morgen verlassen hatten, in keiner Weise. Governador Valadares war ein zentraler Industriestandort, ein urbaner Ballungsraum, in dem ernstzunehmende soziale Probleme zu erwarten waren. Medina dagegen war nur eine kleine ländliche Stadtgemeinschaft. So langsam fragten wir uns, ob diese Reise vielleicht umsonst gewesen sei, ob wir uns getäuscht hatten, und ob das, was wir am gestrigen Abend am Rande von Governador Valadares erlebt hatten, in diesem verschlafenen, kleinen Nest überhaupt kein Problem darstellte.

Wir kannten niemanden in Medina, schließlich waren wir spontan aufgebrochen. Daher hatte ich auch nicht versucht, jemanden im Vorfeld zu kontaktieren, der uns hätte helfen können. So entschlossen wir uns, das örtliche Conselho Tutelar – das brasilianische Jugendamt – aufzusuchen, das für den Kinder- und Jugendschutz zuständig und normalerweise am besten über problematische Fälle vor Ort informiert ist. Als wir dort endlich ankamen, fanden wir das Büro geschlossen vor. Wir standen eine Weile vor dem Gebäude, unsere Beine schmerzten von der langen Fahrt. Wir waren uns unsicher, wie wir weiter vorgehen sollten und ob diese Stadt überhaupt eine Übernachtungsmöglichkeit bot.

Ein alter Mann kam den Hügel hoch geschlurft. Seine Haut war wettergegerbt, die Flip-Flops an seinen Füßen hatten ihre besten Tage schon hinter sich. „Sucht ihr Rita?“, fragte er.

„Nein, nein. Wir möchten nur mit jemandem vom Jugendamt reden. Das ist alles“, antwortete ich.

„Das ist Rita“, entgegnete er, „die Leiterin. Sie wohnt in der Straße dort drüben.“ Er wedelte mit seinem knochigen Arm in Richtung einiger baufälliger Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Wir mussten noch mehrere Male nach dem Weg fragen. Einige Frauen, die in einem Türeingang saßen und Maiskörner sortierten, schickten uns zu einem Straßenzug mit ungleichmäßig verteilten Reihenhäuschen. Ein Mann, der sich aus einem Fenster herauslehnte, deutete auf eine lilafarbene Hauswand auf der anderen Seite. Wir folgten seinem Hinweis. Ich betätigte die Türklingel, und wir warteten, während sich die eiserne Gartenpforte wackelnd aufschob.

Rita war eine große Frau mit olivfarbenem Teint und welligem braunen Haar. Sie lächelte uns freundlich zu und bot uns die Hand an, noch bevor wir uns vorstellen konnten.

„Es tut mir sehr leid, dass ich Sie zu Hause störe“, sagte ich. „Ich bin Journalist und komme aus England. Das ist Dean. Er ist Country-Sänger und kommt aus Kanada.“ Rita nickte, als ob sie so etwas jeden Tag hören würde. „Wir versuchen mehr über die Probleme herauszufinden, mit denen die Kinder hier in Medina zu kämpfen haben. Ich habe mich gefragt, ob …“

„Na dann, steht nicht einfach so herum. Kommt doch rein“, sagte sie ohne zu zögern.

Bevor wir uns versahen, saßen Dean und ich auf dem Sofa in Ritas Wohnzimmer, während unsere Gastgeberin in der Küche hantierte. Wir waren überrascht von der sorglosen Art, mit der Rita uns willkommen geheißen hatte. Ein paar Minuten später kam sie mit einer Kanne frischen Kaffees und einem Teller beijús – einem Süßgebäck aus Tapioka-Mehl – wieder. Sie setzte sich uns gegenüber, und ich versuchte noch einmal zu erklären, warum wir unangemeldet auf ihrer Türschwelle aufgetaucht waren.

„Rita, letzte Nacht sind wir einem jungen Mädchen auf der Bundesstraße begegnet, das sich selbst für Geld angeboten hat. Daraufhin haben wir beschlossen, mehr herauszufinden und der Sache auf den Grund zu gehen. Ich weiß auch nicht so recht, warum wir ausgerechnet nach Medina gekommen sind. Aber wir wollten dich fragen, ob du uns vielleicht weiterhelfen könntest…“

Ritas Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht und zum ersten Mal sah sie überrascht aus. Für einen Moment fragte ich mich, ob wir sie mit unserer Annahme, so etwas könne in ihrer Stadt passieren, beleidigt hätten.

Nachdem sie ihre Fassung wiedergefunden hatte, begann sie mit den Worten: „Ich weiß nicht, wie ihr hierhergekommen seid und ich weiß nicht, wie ihr von dieser Stadt erfahren habt, aber … ich glaube, dass ihr Engel sein müsst, die Gott mir geschickt hat.“

Ritas Stimme war voller Schmerz, als sie uns von der unfassbar entsetzlichen Tragödie berichtete: Davon, dass hunderte von Mädchen von ihren eigenen Familien zu einem Leben voller Demütigung und Missbrauch verdammt würden. Dass es Mütter gebe, die ihre eigenen Töchter gegen einen Sack Bohnen eintauschten. Dass einige Mädchen im Alter von zwölf und dreizehn schon an AIDS erkrankt seien. Sie erzählte von weiteren Mädchen, deren Verbleib sie nicht mehr nachverfolgen könne. Mädchen, um die sie sich einst gekümmert hatte, die dann aber eines Tages in einen der Laster stiegen, die auf der BR-116 Richtung Norden oder Süden unterwegs waren, und nie wieder nach Hause zurückkehrten.

„Die Lage ist zum Verzweifeln“, sagte Rita, „Wir verlieren immer mehr von diesen Mädchen. Jede Woche höre ich von einem weiteren Mädchen, das weg ist – irgendwo entlang der Bundesstraße verschwunden. Es ist so, als ob dir der Sand zwischen den Finger zerrinnt und du nichts dagegen tun kannst, außer den Sandkörnern beim Fallen zuzusehen. So sehr ich mich auch bemühe, ich kann die Mädchen nicht vor dem Fall bewahren.“

Ritas Gesicht war tränenüberströmt, während sie sprach. Der Schmerz, den sie so lange zurückgehalten hatte, brach aus ihr heraus. Täglich flehe sie Gott um Hilfe an, sagte sie uns. Die letzten paar Tage seien die schlimmsten gewesen. Sie hatte sich gefragt, wie viel länger sie dieser Katastrophe noch alleine Einhalt gebieten könne. Auch Dean, der neben mir saß, liefen die Tränen übers Gesicht. Ich hatte nichts von dem, was Rita gesagt hatte, übersetzt – dafür war einfach nicht die Zeit gewesen –, aber er verstand trotzdem. Er konnte den Schmerz, die Verzweiflung und Ritas gebrochenes Herz deutlich in ihrem Gesicht sehen.

Kinderprostitution, erklärte uns Rita, sei eine Lebenseinstellung in Medina. Niemand sei schockiert, wenn er ein zwölfjähriges Mädchen am Straßenrand sah, das ihren Körper zum Verkauf anbot. Jeder hier kenne irgendjemanden, dessen kleine Tochter in einem Bordell an der Bundesstraße „arbeitete“. „Die Eltern sind immer glücklich, wenn ein Mädchen zur Welt kommt“, sagte sie. „Nicht, weil sie sich darauf freuen, dass ihre Tochter irgendwann mit Puppen spielen oder sich verkleiden wird, sondern weil die Familie in etwa zehn Jahren eine zuverlässige Einnahmequelle haben wird.“

Dean und ich waren sprachlos. Wir waren hergekommen, weil wir damit gerechnet hatten, etwas Erschütterndes vorzufinden – aber nicht so etwas. Selbst, wenn dieses Problem ausschließlich Medina betreffen würde, war es immer noch eine Tragödie von alarmierendem Ausmaß. Die Worte des Vorsitzenden des Abgeordnetenhauses kamen uns wieder in den Sinn: „Sie werden hier nichts finden … So etwas passiert hier nicht mehr.“ Ich musste auch an die anderen Menschen denken, die ich in Belo Horizonte, der Landeshauptstadt, kannte. Das waren gebildete und gut informierte Bürger – und trotzdem hatten sie keine Ahnung von dem, was lediglich eine Tagesreise von ihrer Haustür entfernt vor sich ging.

„Aber Rita“, sagte ich, „das ist ein Skandal! Warum weiß das keiner? Warum versucht keiner, etwas dagegen zu unternehmen?“

Rita lehnte sich zu mir. „Matt, abgesehen von den LKW-Fahrern kommt niemand hier in Medina vorbei. Es gibt keine Touristen, keine Ausländer und keine Fernsehkameras. Diese Mädchen sind in Brasilien einfach nichts wert. Das Land hat sie vergessen, ihr Schicksal wird einfach ignoriert. Aus den Augen – aus dem Sinn. Die meisten Leute wollen sogar, dass das so bleibt… Möchtet ihr einige der Mädchen mal kennenlernen?“

* * *

Es war schon dunkel, als wir das heruntergekommene Ziegelhaus erreichten, das nur einige Meter vom Straßenrand der BR-116 entfernt stand. Das Haus wäre in der Dunkelheit kaum zu sehen gewesen, hätte nicht eine einzelne, riskant verdrahtete Glühbirne die Vordertür beleuchtet. Eine Wäscheleine aus Stacheldraht war auf Kopfhöhe am Gebäude angebracht und erfüllte damit wohl eine doppelte Funktion – man hätte sie ebenso als eine Art „Nicht-betreten“-Schild deuten können.

Rita erklärte uns, dass das Haus José gehöre, einem Vater von vier Mädchen im Alter von acht bis sechzehn Jahren. Er arbeitete in einem achtzig Kilometer entfernten Granit-Steinbruch und kam nur alle paar Wochen nach Hause. Währenddessen waren es seine Töchter, die das Geld verdienten, indem sie sich am Rande der Bundesstraße verkauften und ihre eigenen Zimmer dabei als Arbeitsplatz benutzten.

José war zufällig zu Hause, als wir ankamen. Er hinkte und hustete, während er uns in sein Haus einlud. Die Wände waren mit schwarzem Schimmel bedeckt, auf dem Boden verstreut lagen Decken, schmutzige Kleidungsstücke und dreckige Teller. Ich warf einen Blick in einen der anderen Räume. Er war genauso dreckig wie der Rest des Hauses, jedoch konnte man ihn eindeutig als das Zimmer eines Teenagers identifizieren: An den Wänden hingen Poster von Boybands, auf dem Nachtisch stand ein mit Herzchen verzierter Bilderrahmen und ein paar Stofftiere lagen sorgfältig drapiert am Kopfende des Betts.

„Sind Viviane und Sâmia zu Hause?“ frage Rita. Das waren die beiden mittleren Mädchen – zwölf und vierzehn. „Nein, die sind zur Kirche gegangen“, entgegnete José sofort.

Ich sah Rita ein wenig irritiert an. „Das sagen sie immer“, raunte sie mir zu. „Sie glauben, dass sie damit den unangenehmen Fragen der Sozialarbeiter entgehen können.“

Es dauerte nicht lange, bis die beiden Mädchen auftauchten. Mit ihrem dick aufgetragenen Make-Up und ihren figurbetonten Kleidern sahen sie nicht so aus, als seien sie in der Kirche gewesen. Ritas Anwesenheit schien ihnen ein schlechtes Gewissen zu bereiten. Obwohl sie verlegen versuchten, ihr zu erklären, dass sie nur eine rolé – eine kleine Spritztour – gemacht hätten, war ihnen anzumerken, dass sie genau wussten, Rita würde ihnen ihre Geschichte nicht abkaufen.

Die dunkelhäutigen Mädchen sahen älter aus, als sie tatsächlich waren. Nur gelegentlich schimmerten in einem verlegenen Lächeln oder in einer kindlichen Formulierung die Kinder durch, die sie noch waren. Sie waren mit eingehakten Armen angekommen und hatten sich während des Gesprächs die ganze Zeit nicht losgelassen.

Während unserer Unterhaltung standen wir am Rand der Fahrbahn, wo die vorbeifahrenden Trucks unsere Stimmen übertönten und den Boden unter unseren Füßen beben ließen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es möglich sei, jemals in einem der nur wenige Meter entfernten, modrigen Mädchenzimmer in Ruhe zu schlafen. Für die Mädchen musste es wesentlich schlimmer sein. Die Räume waren für sie ein Albtraum, dem sie nicht entkommen konnten, eine Erinnerung an die Demütigungen und an den Missbrauch, dem sie täglich ausgesetzt waren. Selbst ihre eigenen Betten waren die Kulisse für unzählige gewalttätige und herzlose Momente, in denen ihnen sukzessive die kindliche Unschuld geraubt wurde.

Wir verließen diesen dunklen, bedrückenden Ort, nachdem uns Viviane und Saˆmia versichert hatten, sie würden ins Haus gehen und sich sofort schlafen legen. Aber als wir zurückblickten, liefen die Mädchen bereits wieder Arm in Arm Richtung Bundesstraße und wurden bald von der Dunkelheit verschluckt.

Vom Rand der BR-116 aus waren es nur wenige Minuten zum Haus der zwölfjährigen Letícia. Während wir dorthin liefen, unterrichtete uns Rita von den tragischen Begebenheiten dieses Straßenabschnitts. „Seht ihr das Haus dort drüben? Das war früher ein Bordell, das sich auf minderjährige Mädchen spezialisiert hatte. Wir konnten es zwar dichtmachen, aber es wurde wenige Monate später wieder eröffnet… Und die Tankstelle da hinten? Letzte Woche habe ich ein elfjähriges Mädchen dabei erwischt, wie sie in einen Truck stieg. Der Fahrer hatte ihr versprochen, er würde sie mit zum Strand nach Porto Seguro nehmen.“

Letícia lebte in einem dieser bunt gestrichenen Reihenhäuser, von denen wir schon so viele in Medina gesehen hatten. Der Stadtteil, Várzea Grande, war laut Rita eine brutale Gegend, die von Drogenbanden beherrscht und nicht selten durch grausame Gang-Morde erschüttert wurde. Letícias Haus war ein krasser Gegensatz zu dem Gebäude, das wir gerade besucht hatten. Es war zwar ärmlich eingerichtet, aber gepflegt und ordentlich. Armando, der Vater des Mädchens, spiegelte dies wider: Seine Haare waren sorgsam gekämmt, und er trug eine saubere Hose sowie ein langärmliges Hemd.

Uns wurde schnell klar, dass die Probleme in dieser Familie zwar nicht dieselben waren wie bei der letzten, jedoch nicht weniger tragisch. Armando ging regelmäßig zur Kirche und bemühte sich sehr um seine Tochter, für die er nur das Beste wollte. Zu seinem Schrecken musste er feststellen, dass der Albtraum der Kinderprostitution von Medina auch seine Familie ergriffen hatte. Im Gegensatz zum Rest seines Äußeren verrieten die unterlaufenen Augen und das abgemagerte Gesicht, dass Armando ein gequälter Mann war, der sich verzweifelt dagegen wehrte, seine heißgeliebte, kleine Tochter zu verlieren.

„Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich kann nachts kaum schlafen“, sagte er. „Letícia war früher so ein liebes Mädchen. Sie war immer in der Kirche. Sang sogar im Chor mit. Sie ist doch gerade erst zwölf! Die Sorgen machen mich krank. Wenn ich nur daran denke, was dort draußen mit ihr passiert…“

Es sei vor einem Jahr geschehen, erzählte er uns. Letícia war bei ihrer Mutter in São Paulo gewesen, Brasiliens größter Stadt. Das Mädchen hatte sich sehr nach ihrer Mutter gesehnt.

„Aber als sie dort ankam, fiel irgendetwas zwischen den beiden vor – ich weiß auch nicht, was – und meine Tochter lief weg. Am nächsten Morgen fand die Polizei sie bewusstlos in einem Graben.

Sie war vergewaltigt worden. Kurz danach hat es angefangen. Letícia war irgendwie verändert, als sie wieder zu mir kam. Manchmal habe ich sie unter ihrem Bett oder auf dem Wassertank über dem Hausdach gefunden. Sie hatte dort geschlafen. Dann fing sie an, regelmäßig wegzulaufen, sich mit den falschen Leuten zu treffen und in Schwierigkeiten zu geraten. Ich muss mich nur einmal kurz umdrehen – und plötzlich ist sie weg!

Das bringt mich um. Ich schlafe nicht mehr, gehe nicht einmal mehr ins Bett. Ich warte nur an der Türschwelle, dass sie wieder nach Hause kommt. Letícia sieht zwar, was das mit mir macht, aber sie hört trotzdem nicht damit auf.“

Immer, wenn ihr Vater besorgt in die Ferne blickte und darauf wartete, dass seine verlorene Tochter zurückkehren würde, war Letícia auf der BR-116 unterwegs. Sie stieg bei Fernfahrern ein, irrte nachts auf dunklen LKW-Parkplätzen und Tankstellen umher und ließ sich für eine Handvoll Real benutzen und missbrauchen. In einer besonders heftigen Nacht raubte ihr eine Gruppe von Vergewaltigern das letzte Bisschen Würde. Von den Tätern wurde keiner gefasst. Seitdem war Letícia noch selbstzerstörerischer als vorher: Die Polizei fand sie eines Nachts 160 Kilometer entfernt von Medina – im Bett eines fünfundfünfzigjährigen Mannes. Ein anderes Mal wurde sie in einem Bordell im nächsten Bundesstaat aufgegriffen, nachdem eine ältere Prostituierte sie mit einer zerbrochenen Flasche angegriffen hatte. Ihr Vater erzählte uns all das mit zitternder Stimme, als ob er diese Geschichte selbst kaum glauben könnte.

In diesem Moment tauchte Letícia auf – ein kleines, hellhäutiges Mädchen mit schulterlangen braunen Haaren, die sie zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Widerstrebend schlurfte sie in den Raum und ließ sich zwischen Dean und mir auf das Sofa plumpsen. Sie verschränkte ihre Arme abwehrend vor der Brust und hielt ihren Blick auf den Boden gerichtet.

„Letícia, diese Leute würden dir gerne helfen und sind vorbeigekommen, um dich kennenzulernen“, sagte Rita freundlich.

Letícia zuckte mürrisch mit den Schultern.

„Warum läufst du weg?“ fragte ich vorsichtig. „Dein Vater scheint sich große Sorgen um dich zu machen.“ Sie erwiderte nichts, sondern verzog nur schmollend ihre Lippen.

Ich versuchte es nochmal. „Gibt es etwas, das dich davon abhalten würde, wegzulaufen?“

„Weiß nicht.“

„Wenn du irgendetwas mit deinem Leben tun könntest, egal was, was würdest du machen…?“

Letícia lächelte ein wenig verschämt und murmelte: „Ich möchte Rechtsanwältin werden …“ Es war ein Thema, das sie – wenn auch nur für wenige Sekunden – aus ihrem Schneckenhaus herauslockte. Wir ermutigten sie, an ihrem Traum festzuhalten und bestärkten sie darin, dass sie alles sein könnte, was sie sich erhoffte.

Armando saß währenddessen in der Ecke und strahlte bei jedem noch so ungeschickten Wort, das seine Tochter herausbrachte, vor väterlicher Liebe. Wir konnten uns kaum vorstellen, wie qualvoll das Wissen für ihn sein musste, dass seine Tochter sich bald wieder jedem dahergelaufenen Fremden anbieten würde, der sie am nächtlichen Seitenstreifen aufsammelte.

Es war hart für uns, die beiden zu verlassen und Abschied zu nehmen. Wir versprachen, wir würden alles in unserer Macht stehende tun, um zu helfen.

Das letzte Haus, zu dem Rita uns brachte, war am schwersten zu erreichen. Es stand auf dem Kamm eines steilen und steinigen Hügels am anderen Ende der Stadt und war eingepfercht zwischen zwei großen, dunklen Felsbrocken. Die ganze Umgebung war unheimlich; keine Spur von Licht, keines der Häuser schien Elektrizität zu haben. Nur das Glimmen einer Zigarette war zu sehen. Die Frau, die die Zigarette in der Hand hielt, hockte neben einem verrottenden Holzzaun. Sie war dünn und hatte kleine, unfreundliche Augen. Rita fragte sie, ob Mariana zu Hause sei. „Die ist nicht hier. Sie ist zur Kirche gegangen“, antwortete ihre Mutter, nahm einen letzten Zug und schnippte den Zigarettenstummel weg. Dieses Mal täuschte mich die Antwort nicht – abgesehen davon war es schon 23:00 Uhr. Wir sagten ihr, dass wir am nächsten Morgen wiederkommen würden. Auf dem Weg zu unserer pousada – unserer Unterkunft für die Nacht – erzählte Rita von Mariana: „Ihre Großmutter und ihre Mutter fingen beide früh an, als Prostituierte zu arbeiten. Damit war klar, dass die gleiche Erwartung auch an Mariana gestellt wurde. Sie hat nie etwas Anderes kennengelernt. Für diese Leute ist es genau so normal, ihre Tochter zu ihrem ersten programa zu schicken, wie sie mit einer Barbiepuppe spielen zu lassen.“

* * *

Marianas Mutter hatte vermutlich nicht damit gerechnet, dass wir am nächsten Morgen um 08:30 Uhr wieder auftauchen würden, lud uns aber trotzdem in ihre Wohnung ein. Sie entschuldigte sich mehrfach für die Unordnung, während sie ein paar abgemagerte Hunde von einem alten, zerschlissenen Sofa scheuchte, um dort Platz für uns zu machen.

Von einer offenen Feuerstelle in der Küche stieg Rauch auf und füllte das ganze Haus. Auf dem Feuer stand ein Kochtopf mit brodelndem Wasser – Marianas Mutter wollte Nudelsuppe zum Mittagessen machen. Nur, dass sie keine Nudeln hatte, lediglich ein paar Hühnerfüße, die sie auf einem Müllhaufen am Markt gefunden hatte. Die Wände waren rußgeschwärzt, der Boden übersät mit Unrat. Überall lag kaputtes Spielzeug, zerrissene Kleidung, Zigarettenstummel. Auf einem Holztischchen stand ein alter Fernseher mit angeschlossenem Videorekorder; wahrscheinlich nur um den Eindruck zu erwecken, das Haus habe einen Stromanschluss.

Maria war eine dünne, abgemagerte Frau. Ihre Hand zitterte leicht, während sie ein Stück Papier aus einem Schulheft riss, um sich daraus eine Zigarette zu drehen. Sie wies ihren jüngeren Sohn an, Mariana, die sich bei den Nachbarn aufhielt, zu holen. Ein paar Minuten später tauchte das Mädchen auf, völlig außer Atem. Sie hatte kindliche Gesichtszüge und ein unschuldiges Lächeln.

Mehr als alle anderen Mädchen, die wir bisher getroffen hatten, erinnerte mich Mariana an die dreizehnjährigen Teenager, die ich von zu Hause kannte. Sie war lebhaft, interessiert an allem, was wir ihr zu erzählen hatten und begeistert, die Bekanntschaft eines Sängers aus Kanada zu machen. Sie zeigte uns ein Poster von ihrem großen Schwarm – Justin Bieber – und war völlig hin und weg, als Dean ihr erzählte, Justin käme ebenfalls aus Kanada. Dann rannte sie los, um ihr Notizheft zu holen; es war voll mit gemalten Herzchen, Blumen und typischen Mädchengedichten.

Als Rita jedoch auf die harte Realität ihres Lebens zu sprechen kam, wurde sie still. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Irgendwann ging Rita mit Marianas Mutter in ein anderes Zimmer und Mariana nutzte den Moment, um mir etwas zuzuflüstern: „Ich hasse es hier. Wegen meiner Mutter. Sie trinkt. Sie behandelt mich nicht so, wie eine Mutter ihre Tochter behandeln sollte. Ich möchte am liebsten wegrennen und nie wieder zurückkommen!“

Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass Marianas Situation schlimmer war als Rita angenommen hatte. Einen Monat nach unserer Abreise sollten wir die Wahrheit erfahren: Die Mutter und Großmutter zwangen Mariana dazu, sich an die LKW-Fahrer auf der Bundesstraße zu verkaufen. Manchmal begleitete Maria sie selbst dorthin, um einen ordentlichen Preis auszuhandeln und das Geld einzustecken. Ein andermal schickte sie ihre Tochter zu einem der Bordelle, mit der Anweisung, genügend Geld nach Hause zu bringen – sonst habe sie mit einer Tracht Prügel zu rechnen.

Obwohl wir von dieser ganzen, traurigen Geschichte noch nichts wussten, hatte uns das Treffen mit Mariana besonders tief berührt. Irgendetwas war bei ihr anders – vielleicht, weil man ihre furchtbare Einsamkeit und Sehnsucht fast greifbar spüren konnte. Dean und ich waren niedergeschlagen, als wir das Haus verließen. Der Gedanke, dass sie keine Aussicht auf das normale, sorglose Leben eines Teenagers hatte, erschütterte uns. Für die meisten Mädchen war solch ein Leben selbstverständlich, für Mariana hingegen ein schier unerreichbarer Traum.

* * *

Wir brachten Rita zurück zu ihrem Büro und verließen die Stadt auf der BR-116 Richtung Governador Valadares und Rio de Janeiro. Damit ging es auch wieder nach Hause – für mich nach Großbritannien, für Dean nach Kanada.

Das Städtchen wurde im Rückspiegel immer kleiner und verschwand nach einer Weile. Gleichzeitig wurden die Gedanken an die Mädchen und ihre Lebensgeschichten immer eindringlicher und lauter. Sie ließen uns nicht mehr los. Wie konnte so etwas nur möglich sein? Die ganze Ungerechtigkeit, die ganze Tragödie und die ganzen Menschen, die sich mitschuldig an dieser Schande machten. Und Medina war bloß ein kleines Städtchen unter tausend anderen, die an diesem 4500 Kilometer langen Highway lagen.

Das potentielle Ausmaß dieses Skandals schien uns so enorm, dass wir es kaum fassen konnten – und doch wusste niemand davon. Weder in der 800 Kilometer entfernten Landeshauptstadt, noch im tausende von Kilometern entfernten Europa oder Nordamerika. Die meisten Opfer waren junge Mädchen, die gerade das erste Jahrzehnt ihres Lebens hinter sich gelassen hatten und schon unter dem Verlust ihres Selbstwertgefühls leiden mussten; deren Leben nun ein einziger Trümmerhaufen war.

Wir fuhren durch die sich windende, grüne Hügellandschaft, als Dean sich zu mir umdrehte: „Was machen wir jetzt?“ fragte er. „Was auch immer du entscheidest, ich bin dabei.“ Ich dachte angestrengt nach. Ich hatte eine kleine Familie, eine gute Arbeitsstelle und eine Hypothek abzuzahlen – und war damit zu alt, um radikal zu sein und auf meinen Instinkt zu hören. Diese Zeit war vorbei. Und doch schrie alles in mir, dass ich etwas Verrücktes tun müsse, um diesen armen Mädchen zu helfen. Dass ich um jeden Preis etwas unternehmen sollte, um ihnen Hoffnung zu geben und diese Tragödie ans Licht zu bringen. Meine Augen füllten sich mit Tränen, als mir bewusst wurde, wie sehr Gott die verlorenen Töchter dieser brasilianischen Bundesstraße liebte.

„Vergiss, was die Welt als wertvoll ansieht“, schien Gott zu sagen. „Für mich gibt es nichts Wertvolleres als diese Mädchen.“

„Wir werden weitermachen“, dachte ich. Wenn es noch mehr Mädchen gab, die im Albtraum dieses Highways gefangen waren, war es unsere Aufgabe, sie zu finden, der Welt von ihnen zu erzählen und alles zu tun, um ihnen zu helfen. Wir konnten an diesem Punkt nicht einfach aufhören und nach Hause fliegen. Wir mussten weitermachen.

Die Straße der verlorenen Töchter

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