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Kapitel 3
Die Reise beginnt

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Nichts von dem, was Sie in diesem Buch lesen, wäre passiert, wenn wir Leilah nicht in dieser schwülen Nacht im Januar getroffen hätten. Wenn wir sie nicht bemerkt hätten oder nicht umgedreht hätten, um sie wiederzufinden, wären wir nicht nach Medina weitergefahren. Wir hätten unsere Heimreise angetreten, um in unseren geschäftigen Alltag zurückzukehren. In ein Leben, das so weit weg von dieser Bundesstraße mit ihrer rissigen Asphaltfahrbahn war, wie man nur sein konnte.

Ich bin Journalist. Zu dem Zeitpunkt war ich bereits acht Jahre für die britische Tageszeitung Daily Mirror als Feature-Redakteur tätig. Meine Welt drehte sich um die gläsernen Bürotürme der Canary Wharf – dem geldgetränkten Business-Sektor Londons –, die Grünflächen des Royal Borough of Greenwich, die vollen U-Bahn-Plattformen, die Doppeldecker-Busse und alles, was man dazwischen sonst noch sehen und hören konnte. Als frischgebackener Absolvent eines Journalistik-Studiums war ich von Piers Morgan – der zwischenzeitlich eine Talkshow im amerikanischen Fernsehen hatte – eingestellt worden und hatte mich schnell an das rasante, stressige Leben eines Boulevard-Reporters gewöhnt. Von einem Moment zum Nächsten konnte ich ans andere Ende der Welt abkommandiert werden oder zu einem Londoner Nobel-Hotel geschickt werden, um dort einen berühmten Fernsehstar zu interviewen oder eine Undercover-Mission zugeteilt bekommen. Es gab nichts, was man von mir im Namen der Zeitung nicht hätte verlangen können. Egal, ob ich nun „I Dreamed a Dream“ vor der Haustür des Britain’ sGot Talent2-Stars Susan Boyles singen sollte, um zu sehen, wie viele Klicks ich dafür auf Youtube bekommen würde. Egal, ob ich in einem lebensechten Bärenkostüm im Regierungsflügel des Westminster-Palastes herumlaufen musste oder einen Fisch in einer Kochshow filetieren sollte, während Sternekoch Michael Roux Jr. kritisch zusah. Ich kam jeden Morgen auf die Arbeit und wusste nicht, wo ich an dem Tag enden, in welchem Zustand ich mich befinden oder ob ich es überhaupt abends nach Hause schaffen würde.

Ich hatte bereits in Brasilien gelebt und mit Straßenmädchen in Belo Horizonte, einer der größten Städte Brasiliens, gearbeitet. Das Leid ausgesetzter Straßenkinder hatte mich berührt und ich war aus diesem Grund vor meinem Studium dorthin gereist. Schnell wurde mir klar, dass es in diesem Land eine Gruppe gab, um die sich keiner kümmerte: die Mädchen. Daher beteiligte ich mich an der Gründung des Hilfsprojekts „Meninadança“ – zu Deutsch „Mädchentanz“ –, mit dem wir versuchten, Straßenmädchen mit dem Angebot kostenloser Tanzstunden zu erreichen. Es gab ein Haus in der Innenstadt, wo sich die Mädchen tagsüber aufhielten, später kamen dann noch Wohnhäuser dazu, in denen sie leben konnten. Das Tanzprojekt war effektiv: Es half den Mädchen, ihren Selbstwert und ihr Potenzial zu entdecken. Und es half vielen letztendlich auch dabei, die Straße für immer hinter sich zu lassen. Das war vor zehn Jahren gewesen. Obwohl mich diese Erfahrung immer begleitet hat, war sie doch zu einer Erinnerung verblasst, zu einem dieser „nachschulischen“ Abenteuer, das man erlebt, bevor man in der „echten“ Welt – dem Arbeitsleben – hängenbleibt.

Dean Brodys Welt war sogar noch weiter entfernt von der obskuren Bundesstraße in Brasilien. In seiner kanadischen Heimat war er ein aufsteigender Stern in der Country-Szene. Er war es gewohnt, vor tausenden Menschen zu spielen, im Fernsehen und im Radio gefeiert zu werden und sich mit der Zuneigung einer immer größer werdenden Armee von Fans herumschlagen zu müssen. Seine erste Single erreichte sofort die Top 40-Charts sowohl in den USA als auch in Kanada, und er wurde für fünf der größten kanadischen Musikpreise nominiert. Während wir auf der staubigen brasilianischen Bundesstraße unterwegs waren, belegte seine damals aktuelle Single schon einen Monat lang den ersten Platz der kanadischen Charts.

Dean war in einer kleinen Viehzüchter-Stadt am Fuße der Rocky Mountains aufgewachsen, wo er auch seine Frau Iris kennengelernt hatte. Wie die meisten Jungen in der Stadt fing er mit fünfzehn Jahren an, im örtlichen Sägewerk zu arbeiten. Nachts saß er unter dem Sternenhimmel, spielte Lieder auf einer alten Gitarre und träumte davon, eines Tages berühmt zu sein. Im Alter von sechsundzwanzig machten Iris und er sich auf, um diesen Traum zu verwirklichen. Sie packten all ihre Habseligkeiten in einen Wohnwagen und reisten ins 3200 Kilometer entfernte Nashville im amerikanischen Bundesstaat Tennessee. Vier Jahre später unterzeichnete Dean seinen ersten Plattenvertrag. Natürlich war es hilfreich gewesen, in die Wiege der Country-Musik gezogen zu sein, aber den Durchbruch verdankte er allein seiner kraftvollen Stimme und seinem Gefühl für gute Liedtexte.

Obwohl Dean noch nie in Brasilien gewesen war, lagen ihm und seiner Frau die Mädchen, die rund um den Globus in Prostitution und Menschenhandel verstrickt waren, schon immer am Herzen – auch, als die beiden noch in ihrer heimatlichen Kleinstadt lebten. Als Christ mit einem Herzen für die Armen und Verletzlichen hatte er oft mit dem Gedanken gespielt, im Ausland mit hilfsbedürftigen Kindern zu arbeiten. Letztendlich musste er aber eine klare Entscheidung treffen, und seine Wahl fiel darauf, sich ganz auf seine Musik zu konzentrieren. Als seine Karriere langsam ins Rollen kam, fasste Dean einen weiteren Entschluss – ein Versprechen an sich selbst: Sollte er jemals Erfolg haben, würde er diesen Erfolg nutzen, um etwas in der Welt zu bewirken und zu bewegen. Es war ein Versprechen, das er nie vergaß.

Wir liefen uns im März 2010 zum ersten Mal über den Weg. Es war der Beginn einer innigen Freundschaft und einer außergewöhnlichen Reise. Meine Frau Dani und ich waren gerade umgezogen und erwarteten unser erstes Kind. Es war an der Zeit, sich einzurichten, niederzulassen und auf die Familie zu konzentrieren. Wir konnten nicht ahnen, dass sich unser Leben komplett anders entwickeln würde.

Der Grund dafür war ein Buch, das ich 2003 geschrieben hatte. Es hieß Remember me, Rescue me (Anm. d. Übs.: „Vergiss mich nicht und rette mich“) und beschrieb eine unvergessliche Reise durch Brasilien. Eine Reise, die mir die Augen öffnete. Mein Visum war zu dem Zeitpunkt fast abgelaufen, mein Platz an der Universität – mit dem Schwerpunkt Journalistik – bereits gesichert. So beschloss ich, die verbleibende Zeit zu nutzen und durchs Land zu reisen, um dem Problem der Kinderprostitution auf den Grund zu gehen. Schon während der Arbeit mit den Straßenmädchen in Belo Horizonte war mir dieses Problem häufiger begegnet. Was ich dann auf meiner Reise vorfand, brach mir das Herz: Junge Mädchen, einige erst elf Jahre alt, waren in dieses groteske Geschäft verwickelt, dessen Spuren man in Brasilien fast überall entdecken konnte – in Touristenzielen wie Recife oder Fortaleza, aber auch in abgelegenen Bergarbeiterstädtchen im Amazonasgebiet.

Die Reise dauerte fünf Monate und ich legte über 8000 Kilometer zurück. Am Ende blieb mir gerade genug Zeit, um in ein Flugzeug zu steigen und nach Hause zu fliegen. Ich zog nach London und begann mein Journalistik-Studium an der City University. Meine Erlebnisse in Brasilien fasste ich zwischen den Vorlesungen zu einem Buch zusammen. Nachdem ich das Manuskript beim Verleger abgeliefert hatte, wurde ich jedoch in den Bann eines völlig anderen Lebensstils gezogen: einer Welt, in der sich alles um exklusive Reportagen und Deadlines drehte und es lange Tage gab, die allein von Eilmeldungen bestimmt wurden. Bevor es mir richtig bewusst werden konnte, waren die Mädchen, die ich während der nervenaufreibenden Reise getroffen hatte, zu bloßen Erinnerungen verblasst und mein Buch nur noch ein vergriffener Schmöker.

Ich konnte nicht ahnen, dass Dean Brody jenseits des Atlantiks auf eine Ausgabe des Buches gestoßen war und nach dem ersten Lesen von denselben Gefühlen überwältigt wurde, die ich beim Schreiben auch empfunden hatte: einer Mischung aus Schrecken und Mitgefühl. Er las die letzte Seite auf einem Flug nach Nashville, als er unterwegs war zur Produktion seines zweiten Studio-Albums – dem Album, das die kanadischen Charts im Sturm erobern würde. Den Tränen nahe entschloss er sich, mit mir Kontakt aufzunehmen.

Ich hatte gerade einen vollen Arbeitstag hinter mir und wollte weitere Vorbereitungen für die unmittelbar bevorstehende Ankunft unseres ersten Kindes treffen, als ich mich an den Computer setzte und eine ungeöffnete E-Mail in meinem Postfach entdeckte. Sie fing an mit den Worten „Hi Matt, mein Name ist Dean Brody“. Er schrieb, dass seine Frau Iris und er immer schon Kindern helfen wollten, die in Prostitution verstrickt waren, aber nicht wüssten, wo und wie sie überhaupt damit anfangen sollten. Also begannen sie, das Internet zu durchforsten, um mehr über diese Thematik herauszufinden.

Es hat mich überrascht, dass Brasilien solche Probleme mit Kinderprostitution hat und statistisch zu den „Spitzenreitern“ gehört. Als ich dann dein Buch gelesen habe, hat es mir das Herz gebrochen.

Damit begann ein reger E-Mail-Verkehr zwischen uns beiden, zwei Fremden, die – zumindest auf dem Papier – nicht unterschiedlicher hätten sein können. Ich, der studierte Journalist, der behütet in einer unauffälligen Stadt in Nottinghamshire aufgewachsen war und er, der kanadische Junge vom Land aus den Rocky Mountains, der seine Jugend mit Fischen, Jagen und Holzhacken verbracht hatte. Wir fanden jedoch bald heraus, dass wir sehr viel gemeinsam hatten. Und je länger wir uns unterhielten, desto mehr entdeckte ich, dass Dean meine eigenen Gedanken und Leidenschaften teilte. Er war von demselben Drang zu helfen beseelt, der mich vor Jahren dazu getrieben hatte, ausgesetzten, cracksüchtigen Straßenmädchen in den Großstädten Brasiliens zu helfen.

Fünf Monate nach dem ersten E-Mail-Kontakt arrangierte ich ein Treffen mit Dean und Iris, das in Brasilien stattfinden sollte. Der Gedanke dahinter war, dass sie erst einmal das Land besser kennenlernen und wir gleichzeitig unseren Kontakt vertiefen könnten. Außerdem hätten wir so die Möglichkeit herauszufinden, an welcher Stelle sich die beiden engagieren könnten. In Belo Horizonte kannte ich einen Schulleiter, der mit Jugendlichen aus den brasilianischen Armenvierteln – den favelas arbeitete und den ich kontaktieren wollte.

Nach einem zwölfstündigen Flug von Heathrow aus kam ich auf Rio de Janeiros internationalem Flughafen an. Ich war etwas aufgeregt und freute mich, Dean und Iris endlich kennenzulernen. Aber als ich mein Handy wieder anschaltete, hatte ich eine bestürzt klingende E-Mail in meinem Postfach:

Matt, wir wurden am Flughafen wieder abgewiesen … mir war überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass ich als Kanadier ein Visum brauche, um in Brasilien einzureisen. Es tut mir so leid. Ich habe mich echt mies gefühlt, als ich versucht habe, dir Bescheid zu geben, du aber schon im Flugzeug nach Rio saßest.

Trotz meiner anfänglichen Enttäuschung war ich froh, wieder in Brasilien zu sein und nutzte die Woche, um alte Freunde zu besuchen. Drei Monate später trafen wir uns endlich, allerdings auf kanadischem Boden. Meine Frau Dani, unser Sohn Milo – zu dem Zeitpunkt vier Monate alt – und ich verbrachten eine Woche mit Dean, Iris und ihren beiden Kinder in ihrem Haus in Novia Scotia, das einen atemberaubenden Blick auf den Atlantik bot. Bereits nach wenigen Stunden hatten wir das Gefühl, uns ewig zu kennen. Dean war ein bescheidener Mensch mit einer sanften, angenehmen Stimme, genau das Gegenteil von dem, was man von einem Country-Sänger vielleicht erwartet hätte. Iris war redselig und lebenslustig und verstand sich auf Anhieb mit Dani. So verbrachten wir die Woche damit, in Cafés zu sitzen, am Meer spazieren zu gehen und im Garten sowohl Fußball als auch Football zu spielen. Gleichzeitig redeten wir endlos und schmiedeten Pläne, wie wir den ausgebeuteten Mädchen in Brasilien helfen könnten.

Wir beschlossen, zwei Hilfsorganisationen zu gründen – eine in England und eine in Kanada –, mit denen wir Gelder für bereits bestehende Projekte sammeln würden. Das erste Projekt, das wir unterstützen wollten, sollte das in der favela von Belo Horizonte sein, das Mädchen half, erst gar nicht in die Fänge von Prostitution und Gangs zu geraten.

Drei Monate später trafen wir uns in Brasilien, diesmal nicht als Unbekannte, sondern als enge Freunde. In der ersten Woche besuchten wir das Projekt in der favela und nahmen an einer abendlichen Einweihungszeremonie teil, bei der Dean Musik machte. Da er einen der Orte sehen wollte, die ich in meinem Buch beschrieben hatte, machten wir uns auf den Weg gen Osten. – Das war der Tag, an dem wir uns mit dem Vorsitzenden des Abgeordnetenhauses getroffen hatten. Die nächste Stadt auf unserem Weg war das sieben Autostunden entfernte Governador Valadares. Und so geschah es, dass wir in den frühen Morgenstunden kurz vor den heruntergekommenen Ausläufern der Stadt auf das junge Mädchen trafen, das unser Leben für immer verändern sollte.

Diese Begegnung mit Leilah hatte uns tiefer getroffen als wir es anfänglich gedacht hatten. Dean schrieb später an seine Fans:

Ich hatte so etwas wie Kinderprostitution noch nie gesehen. Ich hatte zwar darüber gelesen, darüber diskutiert und wollte etwas dagegen unternehmen, aber es dann tatsächlich aus nächster Nähe zu erleben – das war etwas völlig anderes. Und es hat mich vollkommen fertig gemacht.

Unser kurzer Trip nach Medina hatte ähnlich weitreichende Konsequenzen für unser Leben. Bei unserer Ankunft war ich durchaus darauf vorbereitet gewesen, etwas Schockierendes vorzufinden, aber das Ausmaß der Tragödie kam völlig unerwartet. Die Lage war schlimmer als alles, was wir uns vorgestellt hatten. Sogar schlimmer als das Problem ausgesetzter Straßenkinder, gegen das ich einst gekämpft hatte. Und mitten im Epizentrum befanden sich zahllose verlorene und hilflose Mädchen.

Wieder vereint mit unseren Frauen, verbrachten wir unsere letzten Tage in Brasilien damit, Nachforschungen zu betreiben und unsere nächsten Schritte zu planen. Uns war nur allzu bewusst, dass uns die Erlebnisse im brasilianischen Hinterland nach ein paar Wochen zu Hause nur noch wie ein Traum vorkommen und im Stress des Familien- und Arbeitsalltags verblassen würden. Aus diesem Grund waren wir fest entschlossen, weder die Dringlichkeit der Lage zu vergessen, noch dieses überwältigende Gefühl zu verlieren, alles tun zu wollen, um die Mädchen aus ihrem Albtraum herauszuholen. Wir wollten nicht ohne einen konkreten Plan abreisen.

Und so nahmen wir uns gegenseitig das Versprechen ab, so schnell wie möglich wieder zurückzukehren. Wir würden unsere Reise auf der BR-116 Richtung Norden fortsetzen und die etwa 2700 Kilometer bis zum Ende des Highways weiterfahren – bis nach Fortaleza an die Nord-Ostküste Brasiliens. Die Straße würde uns durch einige der entlegensten Teile des Landes führen, abgeschiedene Landstriche, die häufig von Gesetzlosigkeit, erdrückender Armut und Dürre geplagt waren. Auf dieser Reise würden wir Nachforschungen anstellen, den Dingen auf den Grund gehen und alles dokumentieren, was wir dabei finden würden. Wir würden alles dafür tun, um diese Tragödie ans Tageslicht zu bringen. Währenddessen würden wir weiterhin Gelder aufbringen und die Projekte unterstützen, die unserer Meinung nach den gefährdeten Mädchen helfen könnten.

Mir war bewusst, dass mir noch eine wichtige Entscheidung bevorstand. Aus einer Entfernung von tausenden Kilometern – in Großbritannien – würde ich nicht viel erreichen können. Insbesondere dann nicht, wenn sich meine Existenz immer noch um einen stressigen Job drehte, der mein ganzes Leben in Beschlag nahm. Der Gedanke, den Arbeitsplatz aufzugeben, auf den ich stolz war, machte mir Angst. Das geschäftige Tagwerk einer nationalen Tageszeitung war ein erfüllendes Arbeitsumfeld für mich. Meine Frau Dani ist Brasilianerin, aber sie hatte sich daran gewöhnt, in London zu leben und hatte sich nie vorstellen können, wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Vor allem, da wir gerade unsere Familie gegründet hatten. Ihr ging es ähnlich wie mir. Während wir innerhalb der nächsten Tage darüber nachdachten, Freunde und Orte aufzugeben, die uns wichtig geworden waren und unsere Familie zu entwurzeln, um ans andere Ende der Welt zu ziehen, machten sich bei ihr ebenfalls gemischte Gefühle, Sorgen und Bedenken breit.

Doch nachdem wir uns am internationalen Flughafen von Rio de Janeiro von Iris und Dean verabschiedet hatten und in unser Flugzeug gestiegen waren, stand unsere Entscheidung auszuwandern fest. Den Rest des Jahres wollten wir damit verbringen, unseren Umzug nach Brasilien vorzubereiten. Ich würde mein Kündigungsschreiben beim Daily Mirror einreichen, dort noch drei Monate arbeiten, und dann mein Glück als freischaffender Journalist in Brasilien versuchen, um dort unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Ich hatte vor, Berichte und Reportagen aus Brasilien an britische Zeitungen zu verkaufen. Dieser Plan machte uns trotzdem nicht weniger nervös. Ich hatte schon immer in Festanstellung gearbeitet und wusste nicht, ob ich als Freelancer genug verdienen würde, um unsere Rechnungen zu bezahlen. Die Bauchschmerzen, die mir diese Entscheidung bereitete, waren in den kommenden Monaten mein ständiger Begleiter.

* * *

Ein paar Wochen nach unserer Rückkehr rief Dean mich an: „Matt, ich habe ein Lied über Leilah geschrieben. Ich habe mich hingesetzt und es ist einfach aus mir herausgesprudelt. Ich möchte gern wissen, was du darüber denkst.“

Das Lied war eine eindringliche, von Herzen kommende Ballade, die bei mir sofort Erinnerungen an unsere Reise und das Treffen mit dem Mädchen im lila Kleid wachrief. Es wurde so etwas wie der Soundtrack für die nächsten neun Monate, in denen Dani und ich unseren Umzug vorbereiteten, Kirchen und Freundeskreise besuchten und ihnen von unseren Plänen erzählten.

Die Dringlichkeit der Lage war stets präsent, vor allem da ich in regelmäßigem Kontakt zu Rita, der Sozialarbeiterin aus Medina, stand. Jedes Mal, wenn ich sie anrief, schien sich die Situation noch verschlimmert zu haben. Immer mehr junge Mädchen gerieten in die Fänge der Prostitution. Besonders besorgniserregend war Mariana, das dreizehnjährige Mädchen, das für Justin Bieber schwärmte und das von ihrer Mutter zur Prostitution auf die Bundesstraße gezwungen wurde. Rita hatte herausgefunden, dass Mariana weggelaufen war und keiner wusste, wo sie sich gerade aufhielt.

Blinding headlights, the smell of the black diesel fumes.

It ain’t no life for a child as innocent as you.

You’re a lamb among lions.

They take your diamonds and

toss you to the side

of a lonely road in the rain.

And you stand there, torn like a rag doll

as tears streak your face.

Leilah, oh Leilah, you’re a beautiful girl,

precious wild flower of Brazil.

Oh Leilah, oh Leilah, the world forgot you,

but I know that I never will.

Der Geruch von Benzin, grelles Scheinwerferlicht.

Das ist kein Leben für ein unschuldiges Kind wie dich.

Du bist ein Lamm unter Löwen.

Sie nehmen dir das Kostbarste,

stoßen dich in den Regen hinaus,

auf den Wegesrand einer einsamen Straße.

Und du stehst dort, wie eine abgenutzte Stoffpuppe

mit Tränen im Gesicht.

Leilah, oh Leilah, du bist wunderschön,

du kostbare Wildblume Brasiliens.

Leilah, oh Leilah, die Welt hat dich vergessen,

aber ich weiß, ich vergesse dich nie.

Eines Tages ereilte uns dann die Nachricht. „Die Polizei hat eine Razzia in einem Bordell fünfzig Kilometer von hier durchgeführt“, teilte uns Rita mit. „Sie haben Mariana und ein anderes, zwölfjähriges Mädchen im Bett mit einem älteren Mann gefunden. Eine Frau war auch anwesend, sie ist die Zuhälterin der beiden. Matt, das Mädchen steckt da so tief drin, dass sie nicht mehr rauskommt. Sie scheint sogar schon von einem Zuhälter-Ring rekrutiert worden zu sein. Ich glaube, wir haben sie verloren. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.“

Ich dachte an das Mädchen mit den strahlenden Augen und den großen Hoffnungen, das so verzweifelt fliehen wollte aus den Fängen einer kaltherzigen Mutter, die sie aufs Grausamste ausbeutete. Wir wandten uns an eine Freundin aus Belo Horizonte, die eine „Ersatzmutter“ für die Straßenmädchen, mit denen wir gearbeitet hatten, gewesen war: Sie sollte den Versuch unternehmen, Mariana aus ihrer Familie herauszunehmen. Doch Marianas Mutter und Großmutter blieben unbeugsam und weigerten sich, sie gehenzulassen. Schließlich war Mariana ihre Geldquelle – eine ertragreiche „Kapitalanlage“. Nachdem wir diese Nachricht bekommen hatten, weinte Dani eine ganze Nacht lang. Sie trauerte um dieses Mädchen, das in einem Käfig aus Missbrauch und Ausbeutung gefangen gehalten wurde – ohne Aussicht auf Hilfe von den Menschen, die ihr eigentlich Liebe entgegenbringen sollten.

Mit der Zeit wurde Marianas Lage immer schlimmer. Einige Wochen später hörten wir, dass sie wieder verschwunden sei. Als sie auftauchte, bemerkte sie, dass sie schwanger war. Wir versuchten noch einmal unsere Freundin hinzuschicken, aber sie stieß erneut auf Widerstand – diesmal in Form von Drogendealern aus dem Ort, die ihr nahe legten, nie wiederzukommen. Als sie nach Belo Horizonte zurückkehrte – ohne Mariana – rief sie mich an:

„Ihre Großmutter hat die Dealer gerufen. Sie hat das Kommando bei sich zu Hause und ist wild entschlossen, Mariana niemals gehenzulassen.“

Drei Monate vor unserem Umzug reichte ich wie geplant meine Kündigung ein. Wir fingen an, fast alles zu verkaufen oder zu verschenken, was wir hatten – Möbel, Bücher, CDs, Besteck, Töpfe und Pfannen –, bis wir unseren gesamten Besitz in nur vier Koffer packen konnten. An meinem letzten Arbeitstag organisierten meine Kollegen eine Abschiedsfeier für mich und überreichten mir meine eigene, eingerahmte Daily Mirror-Titelseite. Die Schlagzeile lautete „From Here to Matternity“ – „Der Weg in den Matterschutz“ – und sollte an eine Aktion erinnern, für die ich als schwangerer Mann verkleidet durch London laufen musste, um die Reaktionen der Passanten aufzunehmen. Auf der Seite war auch ein Bild von mir im Anzug, wie ich mich zusammen mit dem berühmten Naturfilmer David Attenborough in einem Busch verstecke. Unterlegt war es mit einem Spruch des großes Mannes selbst: „Du bist aber nicht richtig für den brasilianischen Regenwald gekleidet, Matt.“

In unserer letzten Nacht in England schlief unser inzwischen achtzehn Monate alter Sohn Milo bei seiner Oma. Sie hatte oft auf ihn aufgepasst, während wir durchs Land reisten, und die beiden waren einander ans Herz gewachsen. Wir standen um vier Uhr morgens auf, um zum Flughafen zu fahren. Meine Mutter konnte ihre Tränen nicht zurückhalten, als sie uns verabschiedete und ihren Enkelsohn ziehen lassen musste, in dem Bewusstsein, ihn lange Zeit nicht wiederzusehen. Einige Stunden später standen wir dann am Rollfeld. Wir waren nervös und angespannt, das Herz schlug uns bis zum Hals – aber wir waren bereit.

2 Britische Castingshow

Die Straße der verlorenen Töchter

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