Читать книгу Das Tal der Untoten - Matthias Albrecht - Страница 8
II
Оглавление„Es ist nicht dein Job. Und auch nicht meine Mutter. Und schon gar nicht diese beschissene Bruchbude hier!“ Nadine erhob sich derart abrupt vom Frühstückstisch, dass ihr Stuhl umkippte. Sie gab ihm einen Tritt, dann stellte sie ihn wieder auf die Füße. Allerdings mit allem Nachdruck.
„Ja“, knurrte ich. „Poltre nur rum. Dass die da unten auch was von haben.“
„Is’ mir scheißegal“, sagte sie etwas ruhiger und wandte sich dem Geschirrspüler zu.
„Was is’ dann der Grund? Etwa ich?“
Sie fuhr herum. „Was glaubst du wohl?“
Ein paar Sekunden lang überlegte ich, ob es sinnvoll sei, mit ihr zu streiten. Ach was, es würde nur ein Wort das andere ergeben. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck. Er bedeutete Krieg. Und sie würde diesen Krieg gewinnen. Wie immer.
Ich stand auf und ging zur Küchentür.
„Wo willst du hin?“
„Ins Bad.“
„Ziehst du wieder den Schwanz ein, statt endlich mal Farbe zu bekennen? Wann wachst du eigentlich auf aus deiner Traumwelt? Wann kann man mal vernünftig mit dir reden?“
Ich antwortete nicht, zog die Badezimmertür hinter mir zu und schob den Riegel vor. Sie donnerte mit den Fäusten gegen die Füllung. „Du Ignorant! – Hey, aufgewacht! Hallo! Is’ mit Ihnen alles okay da drin?“
Und ich wachte auf. Sicherlich infolge des Lärms. Vielleicht aber auch, weil Nadine mich plötzlich siezte. Ich blinzelte in die Helligkeit. Einen Moment später wusste ich, wo ich war. Ich drehte den Kopf nach links, aber das Gesicht hinter der Seitenscheibe verschwand zu schnell, um mich dessen Züge erkennen zu lassen. Die Decke war verrutscht. Ich zog sie empor und öffnete die Tür.
„Mann, ich hab echt gedacht, Sie sann tot. Hierher, Harris, Fuß!“ Sie nahm ihren Hund an die Leine, wendete sich dann wieder mir zu. „Alter, ich hab vielleicht gegen die Türe gehämmert. Mir tun noch die Hände weh. Und Harris hat gekläfft, was das Zeug hielt. Hamm Sie sich verfahr’n oder so?“
„Ja“, sagte ich, noch nicht recht bei Sinnen. „Ja, so könnte man’s nennen.“
„So könnte man’s?“, lachte sie. „Sie wissen’s also net genau. Alter, Sie hamm geratzt wie ’n Bär. Hamm Sie sich irgendwas reingezogen gestern Abend?“
„Was – reingezogen?“
„Hey, Sie wissen schon.“ Sie fuhr sich mit dem Rücken des linken Zeigefingers an der Nase entlang.
„Ah, eh – nein, nein, ich habe mir nichts – reingezogen. Wer, wer sind Sie?“
„Ich bin Patty“, sagte sie. „Und das hier ist Harris.“
Wie auf Kommando begann der Hund wieder zu kläffen.
„Mein Name ist Albers.“
„Aus, Harris! Platz!“ Der Köter legte sich gehorsam hin, hechelte und wedelte mit dem Schwanz, während er mich fixierte.
„Albers? Komischer Vorname.“
„Mein Familienname“, sagte ich. „Mein Vorname ist Walter.“
„Walter?“ Sie legte den Kopf zur Seite und schaute mir ins Gesicht, als ob ich einen Witz gerissen und sie die Pointe nicht verstanden hätte. „So sehn Sie gar net aus.“
„Was denken Sie“, fragte ich amüsiert, „wie jemand aussehen müsste, der Walter heißt?“
„Na – jedenfalls viel älter. Sie sann doch höchstens Mitte dreißig.“
„Volltreffer“, sagte ich und staunte. „Genau fünfunddreißig. Sie können gut schätzen.“
„Man kriegt hier draußen mit der Zeit ’nen Blick dafür. Jedenfalls klingt Walter altmodisch.“
„Das müssen Sie meinen Eltern sagen. Die fanden den Namen toll. Mein Großvater hieß auch so.“
„Sorry, ich wollt Ihnen net zu nahe treten; Sie könn’ ja nischt dafür.“
„Richtig“, lächelte ich und fragte, um das Thema zu wechseln: „Is’ ’n das da für ’ne Sorte?“
Mein Gott, Walter, tausend andere Fragen wären wichtiger gewesen! Ich war eben noch immer nicht ganz bei mir.
Patty zuckte mit den Schultern. „Weiß net. Hab ich von Mello, was mein Bruder is’. Wohl irgend ’ne Mischung aus Dobermann und Bulldogge.“
„Ja? So. Ich hab keine Ahnung von Hunderassen.“
„Na ja“, gluckste sie. „Rasse is’ gut …“
Eine unbedachte Bewegung – meine Decke fiel aus dem Wagen. Ich wollte schnell die Tür schließen, erwischte jedoch den Griff nicht sofort.
„Oh Mann“, sagte sie mit großen Augen, ohne den Blick von meinem nackten Hintern zu wenden. „Sie sann net allein da drin, was?“
Die Tür fiel ins Schloss, dann erinnerte ich mich der toten Batterie, die mich die Scheibe nicht herunterfahren ließ und öffnete die Tür wieder einen Spalt.
„Hören Sie – eh – Patty – könnten Sie mir die Decke geben, ja? Meine Sachen sind sämtlich durchgeweicht worden letzte Nacht. Tut mir leid, dass ich Ihnen so …“
Sie lachte, kam heran, hob die Decke auf und reichte sie mir durch den Spalt. „Mann, Sie brauchen sich net zu schähnieren. Sann net der erste, den ich so zu sehen krieg’. Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, sagen Sie’s nur.“
„Ich bin von der Straße abgekommen. Gestern Abend. Während des Gewitters.“
Und dann erzählte ich ihr in Kurzform von mir und meinem Pech. Als ich fertig war, stand sie noch eine Weile mit leicht geöffnetem Mund und abwesendem Gesichtsausdruck da, als fiele es ihr schwer, das eben Gehörte zu verdauen.
Die Sekunden, bevor sie aufzutauen begann, langten zu, sie mir näher zu betrachten: Sie trug schulterlanges, dunkelblondes, gelocktes Haar, war schlank, ja fast schon dünn zu nennen, hatte ein Allerweltgesicht und so gut wie kein „Holz vor der Hütte“. Darüber hinaus schien sie nicht viel von modischer Kleidung zu halten. Verblichene hellblaue Jeans, ein rot-weiß-kariertes Holzfällerhemd, dem man das Streunen durch Wald und Unterholz deutlich ansah und ein paar derbe Freizeitschuhe waren ihr Outfit. Alles in allem fühlte man sich als Mann von ihrem Anblick weder abgestoßen noch übermäßig angezogen. Sie war das, was man umgangssprachlich als „Graue Maus“ bezeichnet.
„Alter Falter“, entfuhr es ihr schließlich. „Wenn Sie das der Versicherung erzählen, kriegen Sie keinen Pfennig.“ Sie reckte den Kopf und betrachtete sich die Gegend hinter dem Wagen. „Reifenspuren sann da jedenfalls net. Das müssen Sie geträumt haben.“
Ich sprang aus dem Fahrzeug, lief ein paar Schritte zum Heck und blieb wie angewurzelt stehen. Sie hatte recht: Weit und breit keine Spuren zu sehen. Wie war das möglich? Hatte sich der Waldboden über Nacht bereits derart regeneriert, dass …
„Soll ich Ihnen wieder Ihre Decke bringen?“, hörte ich es hinter mir glucksen. „Oder kommen Sie auch so klar?“
Ich fuhr herum, bedeckte eine gewisse Stelle meines Körpers mit den Händen. Ein besonders geistreiches Gesicht mochte ich dabei nicht gemacht haben, denn sie lachte laut auf.
„Hören Sie, ich mache Ihnen einen Vorschlag: Bis zur Mühle isses net allzu weit. Ich laufe zurück und hole Ihnen trockene Sachen. Sie bleiben hier und überlegen sich derweilen eine neue Erklärung. Denn mit der, die Sie mir da gerade auftischten, können Sie keinen Preis gewinnen. Höchstens ’nen lebenslangen Aufenthalt in ’ner Klappse. Komm, Harris, bei Fuß!“
Ich starrte ihr nach, in diesem Moment nicht ahnend, wie nahe sie der Wahrheit kam und hielt noch immer die Hände vor meinen – Sie wissen schon.
So stand ich eine ganze Weile, bis mir einfiel, wieder nach dem Handy zu sehen.
Kein Netz! Ich hatte nichts anderes erwartet. Und der Sprinter sagte auch keinen Ton. Meine Hoffnung, die Batterie könnte sich über die Stunden etwas erholt haben, wurde schmählich enttäuscht. Doch wozu das Fahrzeug starten wollen? Ich stand mitten im Wald auf einer kleinen Lichtung, rings umgeben von undurchdringlichem Dickicht. Wohin hätte ich fahren sollen?
Die Stunden verrannen, und Patty ließ sich nicht blicken. Irgendetwas musste sie aufgehalten haben, wo doch die Mühle ganz in der Nähe liegen sollte. Ich gewann allmählich den Eindruck, dass sie gar nicht gewillt war, zurück zu kommen. Möglicherweise war ich ihr nicht geheuer. Wie auch die Situation, in der ich mich befand. Jedenfalls hatte ich nun genug Zeit, mir darüber klar zu werden, dass ich tief in der Scheiße saß. In der ich die letzten zwei Zigaretten rauchte und an Nadine dachte, die jetzt wohl meinen Umschlag auf dem Küchentisch gefunden haben mochte.
Hallo Nadine,
ich habe über alles gründlich nachgedacht. Ich werde dir den Gefallen tun. Wenn du eine Auszeit willst – bitte. Ich weiß zwar nicht, wofür die gut sein soll, da ich meine Meinung ohnehin nicht ändern werde, aber okay. Ich bin der Letzte, der sich dir – uns – in den Weg stellen will. Kann nur sein, dass diese Auszeit am Ende länger dauert, als du es dir wünschst. Hauptsache, du bereust es eines Tages nicht …
Die letzte Bemerkung hätte ich mir verkneifen können, das wurde mir gerade bewusst. Sie klang irgendwie kindisch. Nein, eher wie eine Drohung. Wie etwas nicht Umkehrbares. Und darüberhinaus wirklich reichlich albern. Was sollte sie an einer Auszeit – wie lange diese auch währen möge – bereuen? Sie hatte sie ja selbst gewollt. Ja, wenn ich vorhätte, niemals zu ihr zurückzukehren, dann bekäme dieser Zusatz immerhin einen gewissen …
… Sinn?!
Hundegebell riss mich aus dieser verzweifelten Rückbetrachtung. Ich war irgendwie dankbar dafür. Zunächst gewahrte ich Harris, der vorausrannte, sich wie toll gebärdete und an der Fahrertür hochsprang. Dann Patty mit einer Tüte in der Hand. Und schließlich ihren Begleiter.
Komische Konstellation der Gefühle: Eigentlich hätte ich mich mehr vor ihr als vor ihm genieren müssen, und doch wäre es mir lieber gewesen, wenn ich es nach wie vor mit ihr allein zu tun gehabt hätte. Und meinetwegen mit Harris.
„Ich hab hier was zum Anziehen. Nischt Besonderes, aber bis heim zu uns wird’s gehen. In der Mühle sehen wir dann zu, dass Ihre Sachen trocken werden.“ Sie schob mir die Tüte durch den Türspalt.
„Ich dachte schon, Sie hätten mich vergessen.“
„Ach woher denn. Aber ohne Harris hätt ich net mehr hergefunden. Und der war für einige Zeit net auffindbar.“
„Er war nicht – auffindbar?“, staunte ich.
„Na, Harris is nu mal kein Schoßhündchen. Der kann sich frei bewegen im Tal. Und wann er auf ’n interessantes Wild trifft oder Hunde, die er net leiden kann, da is er nu mal hin und weg. Ich hab ’ne Zeitlang gebraucht, ihn zu finden. Was glauben Sie, wo er war?“
„Ich denke, das entzieht sich meiner Kenntnis.“
„An den Fischteichen!“
„Ach was.“
„Ja, wirklich. Er hatte wohl gerade ’ne Spur verfolgt, die …“
„Patty!“
„Ja?“
„Das ist ja alles sehr interessant, aber Sie werden verstehen, dass ich jetzt andere Sorgen habe, als zu erfahren, was Harris bewegte, sich …“
„Oh, natürlich. Sorry. Da rede ich und rede und vergesse dabei …“
„Patty!“
„Hm?“
Ich nickte in Richtung des Mannes, der ein paar Meter vor dem Sprinter stehengeblieben war und die Szene misstrauisch und zugleich neugierig betrachtete.
„Ach – eh – mein Bruder“, lächelte sie. „Der war ganz begierig, den Typen kennenzulernen, der da nackt und mit ’nem Lieferwagen aus’m Nichts kommend einfach so im Wald rumsteht.“ Und flüsternd setzte sie hinzu: „Mello is’ ganz harmlos, es sei denn, dass er denkt, man würde ihn verarschen woll’n. Also überlegen Sie, was Sie sagen.“
Na toll, dachte ich, während ich eine verblichene, doch wenigstens saubere, graue Freizeithose und ein ebenso farbenfrohes T-Shirt aus dem Beutel zog – Unterwäsche war nicht dabei – und mir diesen Mello nebenbei betrachtete. Er war, wie seine Schwester, keine Schönheit, um es gelinde auszudrücken. Mit seinem Bullterrier-Gesicht, der plattgedrückten Nase und dem leicht vorgeschobenen Unterkiefer, vermittelte er keinen vertrauenserweckenden Eindruck. Auch schien er von Ordnung und Sauberkeit nicht allzu viel zu halten. Insgeheim vermutete ich eine heimliche, Jahrzehnte zurückliegende, Liaison seiner Vorfahren mit denen des allerliebsten Harris.
So schmuddelig er auch aussah – auf ein Accessoire schien er stolz zu sein, und das war seine auffällige Gürtelschnalle, über welche seine Linke liebevoll strich: Ein handtellergroßes Oval mit ineinander verschlungenen Schlangenreliefs aus matter Bronze. Die tiefer gelegenen Stellen schimmerten wie schwarzer Onyx.
„Wenn Sie soweit sann, können wir los“, sagte Patty und setzte schmunzelnd hinzu: „Den Transporter müssen Sie allerdings hierlassen.“
„Kann ihn mir ja auch schlecht untern Arm klemmen“.
Ich hatte mich „in Schale“ geworfen und stieg aus. „Eigentlich müsste ich hierbleiben. Ich hab da jede Menge Pakete drin, und wenn jemand kommt und den Sprinter ausräumt, kann ich mich frischmachen.“
„Dann schließen Sie ihn doch ab.“
Ich musste angesichts ihrer Naivität lachen. „Das werde ich auch, aber wenn ihn jemand findet, hat er alle Zeit der Welt, ihn aufzubrechen und leerzuräumen.“
„Was ist denn so Wertvolles in den Paketen?“
„Keine Ahnung, ich liefre nur aus. Jedenfalls nichts, das wir nicht befördern dürften. Aber es geht ums Prinzip. Und wenn da nur Altpapier drin wäre – ich bin meinen Job los, wenn am Ende was fehlt.“ Und still bei mir dachte ich, dass mein Job wohl schon jetzt keinen Pfifferling mehr wert war.
„Wer sollte hier schon herkommen?“
Ich nahm meine Unterlippe zwischen die Zähne, zog die Brauen empor und sah sie mit schiefgehaltenen Kopf fragend an. Sie kam jedoch nicht auf das Naheliegende.
„Was denn?“, fragte sie.
„Na was wohl. Sie haben doch auch hierher gefunden.“
„Oh“, lachte sie. „Das lag nur an Harris. Der hatte wohl ’n Reh oder so was aufgescheucht und ist ihm nach. Ich kam kaum hinterher. Na, und dann standen wir vor Ihrem Fluggerät.“
„Fluggerät?“
„Wenn das Ding …“, sie zeigte auf den Sprinter, „… net fliegen kann, wie sann Sie dann hier gelandet? Oder hat Sie ’n Hubschrauber abgesetzt?“
Ich lächelte gequält. „Die Frage haben wir bereits unbeantwortet bleiben lassen müssen. Denken Sie, ich habe inzwischen eine Erklärung dafür? Sagen Sie mir lieber, wo die Mühlenstraße ist.“
Sie deutete über die Schulter hinweg schräg hinter sich, ohne den Blick von mir zu lassen. „Irgendwo dort hinten. Is aber ’n ganzes Stück weg.“
Ich folgte ihrer Geste und schüttelte gedankenverloren den Kopf.
„Na“, meinte sie, „vielleicht klärt sich ja später alles auf. Hierbleiben können Sie jedenfalls net.“
„Nein“, gab ich zu. „Warten Sie noch ’ne Minute, ja? Mir ist da gerade ’ne Idee gekommen.“
Ich riss ein Blatt aus meinem Notizblock, schrieb ein paar Zeilen darauf und heftete den Zettel gut sichtbar an die innere Seite der Frontscheibe. Dann kramte ich meine nassen Sachen zusammen, steckte Handy und Brieftasche ein und verschloss die Türen.
Patty trat näher an das Fahrzeug heran und reckte den Kopf. „Nicht berühren – Polizei ist informiert!“, las sie und ließ ihr allerliebstes Glucksen hören. „Alter Schwede! Wenn die Karre jetzt jemand findet, macht er bestimmt ’nen großen Bogen drum rum.“
Ich runzelte die Stirn. „Haben Sie ’ne bessre Idee?“
Patty wurde schnell wieder ernst. Nur ein verschmitztes Lächeln blieb. „Klar. Tarnung! Doch dafür ist die Kiste zu groß. Wir müssten den halben Wald abholzen.“ Sie wandte sich zum Gehen. „Komm, Harris, machen wir, dass wir heimkommen. Damit wir dem Onkel seine Sachen trocken kriegen.“
Seufzend setzte ich mich in Bewegung, gefolgt von dem Bullterriergesicht, dem bisher noch kein Wort über die Lefzen, pardon, Lippen, gekommen war.
„Wenn wir in Ihrer Mühle sind, rufe ich die Firma an“, sprach ich gegen Pattys Rücken und tastete nach dem Handy. „Die werden schon wissen, was zu tun ist. Es sei denn, ich kriege noch unterwegs ein Netz.“
„Wir hamm kein Telefon“, knurrte Mello hinter mir.
Ah, dachte ich, sprechen kann er auch. Dann stutzte ich. „Sie haben kein Telefon?“
„Brauch ’n mar nich.“
„Auch kein Handy?“
„Nee.“
Einen Augenblick lang war ich sprachlos, während ich weiterging. Dann kam mir eine Erleuchtung: „Oh, ich weiß. Sie kommunizieren lediglich übers Internet per Mail und so. Okay, geht natürlich auch. Dennoch ist es verwunderlich, dass …“
„Hammar ooch nich“, fiel mir dieses Unikum ins Wort.
„Ach …“ Wieder war ich sprachlos, dann kratzte ich den Rest logischen Verstandes hervor, der noch in mir schlummerte. „Aber die Reservierungen beispielsweise. Wie sollen die funktionieren? Etwa nur durch Briefpost?“
Mello schwieg. Er schien seine Tagesration an Worten für heute aufgebraucht zu haben. Statt seiner fragte Patty, ohne sich umzudrehen: „Welche Reservierungen?“
„Na, Sie sprachen doch von einer Mühle. Gibt es da denn keinen Gaststättenbetrieb und keine Übernachtungsmöglichkeiten wie in vielen anderen Mühlen auch?“
„Ah, jetzt versteh ich“, lachte Patty und ich atmete auf. „Sie meinen die Gastwirtschaften im Mühltal.“
„Ja. Klar.“
„Da muss ich Sie enttäuschen. Mit denen haben wir nichts zu tun.“
Zu früh aufgeatmet, Walter!
„Ich dachte, Sie wären in einer der Mühlen angestellt, und …“
„Wir sann net angestellt. Die Mühle gehört uns selbst. Sie werden sie gleich sehen. Ist net mehr weit!“
Ich beschloss, es dem stumpfsinnig hinter mir her trottenden Mello gleichzutun und zu schweigen. Mir wären auch keine Fragen mehr eingefallen, auf die ich befriedigende Antworten hätte erhalten können.
Auf unserem Weg durch den Forst berührten wir weder Straßen noch regelrechte Wege. Nur ausgetretene Pfade und mitunter kleine Lichtungen. Ich blieb meinem Vorsatz treu und äußerte mich nicht dazu. Sicherlich handelte es sich um eine Abkürzung, deren Richtung der Hund vorgab. Und der sollte ja nun weit davon entfernt sein, sich zu verlaufen. Selbst wenn ihm, wie sich Patty ausdrücken würde, „ein interessantes Wild“ in die Quere käme.
Apropos: weit entfernt. Ich traute weder Patty noch Mello zu, etwas mit Einsteins Relativitätstheorie anfangen zu können; deren Prinzip indes schienen beide unterbewusst verinnerlicht zu haben: Es bedeutete noch eine geschlagene halbe Stunde Fußmarsch durch den Wald, bis sich die Worte Pattys „… net mehr weit!“ erfüllten.
Ich weiß nicht, ob die Aufregung der letzten Stunden oder mein leerer Magen schuld waren – mir wurde plötzlich übel. Das Unwohlsein ging jedoch schnell vorüber; innerhalb von Sekunden. Dafür wollten mich meine Beine im Stich lassen. Sie fühlten sich an, als seien sie aus Gummi. Ich bekam es mit einer unerklärlichen Angst zu tun. Angst, weiterzugehen.
„Is’ ’n los?“, fragte Mello hinter mir, der mein Zögern bemerkte und ebenfalls stehenblieb.
„Ich – ich weiß nicht“, antwortete ich. „Ich würde am liebsten wieder umkehren.“
Patty wendete sich nach mir um, tauschte einen Blick mit ihrem Bruder und nickte verstehend. „Glauben Sie mir, Ihr Fahrzeug ist gut aufgehoben, dort, wo es steht.“
„Darum geht es nicht. Irgendwie ist mir flau im Magen. Und ich habe …“ Ich traute mich nicht, zuzugeben, Angst zu haben. Ich hätte nicht begründen können, wovor.
„Sie haben lange nichts gegessen und getrunken, nicht?“
Ich nickte.
„Okay. Machen wir ’ne Pause.“ Sie nestelte an ihrer Umhängetasche herum, öffnete sie und holte eine kleine Flasche hervor. „’n Schluck Cola? Was anderes hab ich leider nicht.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Oder ’ne Zigarette?“ Sie hielt mir ein Plastiketui hin. „Beruhigt den Magen.“
Ein Internist hätte ob dieser im Brustton der Überzeugung hervorgebrachten Behauptung die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, doch Patty meinte es gut, und mir waren die Zigaretten ohnehin ausgegangen, also griff ich zu.
„Danke. Oh, das ist die letzte, wie ich sehe.“
„Macht nichts, hab noch ’n Päckchen.“
Wir setzten uns auf einen liegenden Baumstamm und rauchten. Mello hockte abseits, spielte mit seiner Gürtelschnalle, kraulte Harris und warf dann und wann einen Blick zu uns herüber.
Bereits nach den ersten drei Zügen wich der Druck in mir, und ich fühlte mich mit jeder Sekunde etwas besser.
„Okay“, sagte ich schließlich und erhob mich. „Ich glaube, wir können weiter. Keine Ahnung, was mit mir los war.“
Sofort setzte sich Harris, als hätte er meine Worte verstanden, wieder an die Spitze unserer Gruppe.
„Wahrscheinlich nur Nikotinentzug“, schmunzelte Patty. „In der Mühle können Sie sich mit Zigaretten versorgen.“
„Haben Sie da auch was zu essen? Bezahl ich natürlich.“
„Sie werden bald was Kräftigendes bekommen. Da vorn ist schon das Teufelstal.“ Sie nickte mit dem Kopf in die Richtung. „Keine zweihundert Meter mehr.“
Sie hakte sich bei mir ein und zog mich mit sich. Dabei redete sie ununterbrochen auf mich ein. Das unerklärliche Gefühl der Angst war vollständig gewichen. Ich fühlte mich zwar noch immer mau, doch wollte ich mir vor einer jungen Frau keine Blöße geben und nicht als Schlappschwanz dastehen. Also riss ich mich zusammen. In meinem Rücken hörte ich Mello grunzen.
Der dichte, kalte Nebel, der das Tal – von der Anhöhe aus betrachtet – wie ein breiter, milchiger Fluss durchzog, lichtete sich zusehends, und als wir die Sohle erreichten, war er fast völlig verschwunden. Der Anblick, der sich mir jetzt bot, ließ mich den Schritt verhalten und die Hand mitsamt des – noch immer kein Netz findenden – Handys senken: Mittelalterlich wirkende Holzhütten und langgestreckte, einstöckige Blockhäuser zogen sich wie eine Kette durch den engen Grund, hier und da von Gattern und Gehegen unterbrochen, in denen sowohl Ziegen als auch andere Nutztiere gehalten wurden. Aus der Mitte der Dächer vieler größerer Häuser – Schornsteine im eigentlichen Sinne sah ich keine – quoll dünner Rauch und mischte sich in der Höhe mit dem Nebel. Unsere Sonne sah ich als matten Fleck am Himmel prangen, welcher das Auge nicht blendete. Die Lichtverhältnisse hier unten ähnelten somit denen, wie sie eine Morgendämmerung bei leichtbewölktem Firmament hervorzubringen imstande ist. Ein paar abgemagerte Hunde streunten umher und verzogen sich schleunigst mit eingezogenen Schwänzen, als Harris kurz Laut gab. Sie hatten wohl schlechte Erfahrung mit ihm gemacht.
„Weiter!“, knurrte es hinter mir, dann fühlte ich einen zwar sanften, doch mit allem Nachdruck geführten Stoß im Rücken. Mir lag eine Entgegnung auf der Zunge, doch als ich mich nach Mello umblickte, verkniff ich sie mir und wandte meinen Blick wieder nach vorn. Er hatte ein Grinsen aufgesetzt, das wohl jovial und um Nachsicht bittend wirken sollte, doch gerade diese Emotion nicht in mir auslöste. Es war das Lächeln eines Menschen, der es seit Jahrzehnten nicht mehr praktiziert hatte und nun spontan zur Schau zu stellen versuchte.
„Unsere Mühle“, sagte Patty in diesem Moment und zeigte in Richtung eines größeren Fachwerkhauses, welches durch einen langgezogenen, überdachten, fensterlosen Übergang mit einem etwas niedrigeren Gebäude gleicher Bauart verbunden war. Rechts davon verbreiterte sich das schmale Tal zu einem kleinen Kessel mit mehreren Teichen inmitten üppig grüner Wiesen. Waren das die Fischteiche, die Patty erwähnt hatte?
„Die beiden einzigen Gebäude, die halbwegs in die Zeit zu passen scheinen“, sagte ich. „Alles andere wirkt uralt und etwas deplatziert. Als habe der Bauherr dieser Schauanlage nicht richtig recherchiert. Vielleicht war es ja auch nur eine Frage des Geldes.“
Patty sah mir eine Sekunde lang verwirrt ins Gesicht, dann vernahm ich ihr lang vermisstes Glucksen. „Oh, ich ahne, was Sie meinen, aber nein, das hamm wir alles selbst gebaut. Wir und unsere – Gehilfen. Hier soll nischt zur Schau gestellt werden. Die zwei Mühlengebäude standen allerdings schon, als wir das Anwesen übernahmen.“
Jetzt dämmerte es mir. „Verstehe. Hätte auch gleich drauf kommen können: Es ist ein Experiment, nicht wahr? Ich meine, so eines wie das der Marsmission, als eine Handvoll künftiger Astronauten, von der Außenwelt abgeschirmt, ein Jahr lang durchhalten und sich selbst versorgen mussten. In gewächshausähnlichen, abgeschotteten …“
„Ich weiß, was Ihnen da vorschwebt, doch es ist kein Experiment“, unterbrach sie mich.
„Oh, dann – dann seid ihr Aussteiger, ja?“
„Aussteiger?“
„Aus der Gesellschaft. Leute, die sich mit den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen nicht arrangieren können oder wollen. Deshalb kein Telefon und keine Computer.“
Ich blickte mich demonstrativ um.
„Und wie ich vermute auch kein Strom, keine Autos, Zentralheizungen oder Ähnliches. Nur mit und von der Natur leben. Ohne technischen Schnickschnack. Ohne den geringsten Luxus. Na, ehrlich gesagt, das wäre nichts für mich.“
„Aussteiger“, sagte Patty mit in sich gekehrtem Blick. „Ja, so könnte man’s nennen.“ Dann sah sie mich an und lächelte. „Ja, Aussteiger. Das ist sogar treffend formuliert. Oh – Sie werden uns ja noch kennenlernen und sicherlich Ihre Meinung ändern. Warten Sie’s nur ab.“ Sie wollte weitergehen, doch ich ergriff einen Augenblick lang ihr Handgelenk.
„Hören Sie, Patty, ich bin Ihnen …“ Ich blickte mich kurz nach Mello um. „… beiden wirklich sehr dankbar. Und ich akzeptiere euer Konzept, ich meine, eure Weltanschauung oder wie man das nennen will. Aber – ich muss unbedingt mit der Zivilisation Verbindung aufnehmen, verstehen Sie? So schnell wie möglich.“
„Das sollen Sie ja auch“, nickte sie. „Aber ’n paar Minuten werden Sie sich noch gedulden müssen. Sobald Sie sich etwas ausgeruht und gestärkt haben und Ihre Sachen trocken sann, bringt Sie Mello hoch zur Autobahn. Einverstanden?“
Ich atmete durch. „Ja. Was bleibt mir auch übrig. Ich meine, nicht dass ich Ihre Gastfreundschaft nicht zu schätzen wüsste, aber …“
Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Langsam drehte ich mich um. Mellos Grinsen entbehrte noch immer jeglicher Anziehungskraft, doch wirkte es nicht mehr so aufgesetzt wie zuvor. Ich nickte ihm zu und ergab mich in mein Schicksal.