Читать книгу Das Tal der Untoten - Matthias Albrecht - Страница 9
III
ОглавлениеAuf dem Weg zur Mühle trafen wir ein halbes Dutzend Gestalten, die, wie ich, graue Freizeitanzüge trugen. Der Unterschied: Mit dem meinen hätte ich auf dem Wiener Opernball wohl nur mäßige Aufmerksamkeit erregt. Es war jedoch nicht nur der Schmutz, der mich frappierte, sondern auch das Verhalten der Männer. Sie nahmen keine Notiz von uns, ja schienen uns überhaupt nicht zu bemerken. Diese abwesenden, stumpfsinnigen, in die Ferne oder auf den Boden gerichteten Blicke, die halb offenstehenden Münder, die bleichen, ausdruckslosen Gesichter, die langsamen, gleichförmigen Bewegungen – all dies wirkte roboterhaft, als stünden sie unter dem Einfluss von Medikamenten oder Drogen. Sie erinnerten mich an meinen Großvater im Altenpflegeheim. Er litt an Alzheimer und fortgeschrittener Demenz. Ein halbes Jahr vor seinem Ableben lief er genau so ziellos umher wie diese Typen. Nur dass er es auf dem Gang des Heims tat. Mit dem Rollator.
Ich hatte keine Zeit, diese Betrachtungen zu vertiefen. Auf meine Frage hin meinte Patty nur, dass es Bergarbeiter wären, die eine schwere Schicht gehabt hätten und nun nach Hause gingen, um ihren wohlverdienten Feierabend zu genießen.
„Wonach graben die denn?“, fragte ich.
„Oh, nach allem Möglichen. Ich weiß das selbst net so genau. Mit den Bergleuten hab ich net so viel zu tun. Kümmre mich eher um die Korbflechterei. Jetzt kommen Sie erst mal rein, damit wir Ihre nassen Klamotten trocken kriegen.“
Wir betraten das Mühlengebäude. Über der Tür war eine Inschrift aus verschnörkelten Buchstaben angebracht. Ich hatte keine Zeit, sie zu entziffern. Von einem engen Flur aus zweigten einige Türen ab. Patty wandte sich einer steilen, hölzernen Treppe zu und begann sie zu erklimmen. Es lag ein dumpfer, säuerlicher Geruch in der Luft.
„Stoßen Sie sich net den Kopf am Sturz. Hier sann die Decken sehr niedrig.“
„Sie arbeiten also in der Korbflechterei?“ Ich fragte nur, um etwas zu sagen. Um meine Sicherheit wieder zu gewinnen. Denn ich fühlte mich hier irgendwie deplatziert.
„Ja. Geht mit der Zeit ganz schön über die Finger. Und die Zehen.“
„Die Zehen?“ Ich war überrascht. „Ich wusste gar nicht, dass man die dafür benötigt.“
„Dann haben Sie noch nie gesehen, wie ’n Weidenkorb entsteht, net wahr?“
„Ehrlich gesagt nicht. Ich nehme an, ihr verkauft die Körbe. Alles könnt ihr ja bestimmt nicht selbst herstellen, was zum Leben so benötigt wird.“
„Richtig. Aber auch Gemüse, Obst, Eier und Fleisch bieten wir auf den Märkten an. Dafür kaufen wir dann Salz, Seife, Werkzeuge und so ’n Zeugs. Ansonsten sind wir sehr genügsam. Wir brauchen keinen Luxus.“
„Ja, davon bin ich überzeugt“, sagte ich und folgte ihr in einen kleinen Raum im ersten Stock. Er war recht spärlich eingerichtet. Das Mobiliar schien obendrein bunt zusammengewürfelt zu sein – kaum etwas passte geschmacklich zueinander. Überdies gab es nichts, das unbeschädigt war. Ich hatte den Verdacht, dass Patty und ihre Gesinnungsgenossen regelmäßig die Sperrmüllplätze plünderten, denn selbst im An- und Verkauf wären hochwertigere Möbelstücke zu ergattern gewesen. Doch dafür reichte wohl das Geld nicht.
Ein Kaminofen, der auch bessere Tage gesehen haben mochte, verbreitete wohlige Wärme.
„Ruhen Sie sich aus“, sagte Patty und wies auf eine Couch, die allem Anschein nach ebenfalls von anno dazumal stammte. Immerhin lag eine saubere Decke darauf. Ich setzte mich, während Patty meine feuchten Sachen auf eine vor den Ofen gespannte Leine hing.
„Ich denke, in etwas über einer Stunde sann sie trocken. Möchten Sie was essen und trinken?“
„Ich will Ihnen keine Umstände machen“, sagte ich. „Den Hunger habe ich wohl übergangen, doch wenn Sie ’n Schluck Wasser hätten …“
„Haben wir“, lächelte sie und blickte in Richtung Tür, durch die eben eine Kreatur trat, bei deren Anblick ich unwillkürlich an die Hexe Baba Jaga aus den russischen Märchen erinnert wurde. Sie schien an die hundert Jahre alt zu sein und ging so gebückt, dass ich fürchtete, sie könne jeden Augenblick vornüber fallen. Der faltige Mund dieses Wesens hatte längst alle Zähne verloren, dünne, graue Haarsträhnen ragten zu beiden Seiten eines noch graueren Kopftuchs hervor, und sowohl Strickjacke als auch Rock waren wohl seit Jahrzehnten nicht gewaschen worden; es war unmöglich, die Farben zu deuten, welche diesen Kleidungsstücken ursprünglich eigen gewesen waren. In den klauenartigen Händen balancierte die Alte ein Tablett, auf dem ein Krug aus Steingut und ein ebensolcher Becher standen. Sie ging barfuß oder in Strümpfen – genau konnte ich das in Anbetracht des eingetrockneten Schlamms an ihren Füßen nicht erkennen.
„Das ist Melly“, sagte Patty. „Die gute Seele des Hauses. Sie hat was ganz besonders Leckeres für Sie.“
Ich bezweifelte angesichts der Attraktivität der Serviererin, dass es sich bei dem Inhalt des Kruges um etwas Leckeres im wörtlichen Sinne handeln könne und zog ein entsprechendes Gesicht, welches Patty Anlass bot, ihr Glucksen hören zu lassen. Sie nahm der Alten das Tablett ab und stellte es vor mir auf den Tisch.
„Danke Melly, du kannst gehen.“
Melly ließ ein Grunzen hören, welches in einem zischenden Laut endete, als habe jemand den Stöpsel aus einem Schwimmring gezogen. Dabei nickte sie mir zu und verzog den Mund zu einer Grimasse, die wohl ein Lächeln darstellen sollte. Dann drehte sie sich um und schlurfte davon. Mich fröstelte.
Patty hatte indes den Becher gefüllt und setzte ihn mir vor. Dabei schnalzte sie mit der Zunge. „Kennen Sie Kumys?“
Na bitte. Meine Ahnung, den Inhalt des Kruges betreffend, hatte mich nicht getäuscht.
„Kuhmist?“, fragte ich mit gelindem Entsetzen in der Stimme.
Patty lachte. „Kumys! Vergorene Stutenmilch. In der Mongolei ist es Grundnahrungsmittel und Lebenselixier zugleich. In Ermangelung von Pferden nehmen wir die Milch der Ziegen dafür und würzen das Ganze mit Zitronenschalen und einer Priese Ingwer.“
Ich besah mir den Inhalt des Bechers und schnupperte an dessen Rand: Eine weißlich-graue, leicht schäumende Flüssigkeit, welche nach schimmeliger Hefe mit der süßsäuerlichen Note überlagerten Federweißers roch. Wenn dieser Duft auf den Geschmack schließen ließ, zöge ich abgestandenes Wasser aus einer Pfütze vor.
„Nur Mut“, gluckste Patty, die meine Gedanken erriet. „Es schmeckt besser als es riecht.“
„Ich weiß nicht“, zögerte ich. „Hat die – die gute Seele von eben diesen Kuhmi…, eh, Kumys zubereitet?“
„Natürlich. Melly ist die einzige, die das bis zur Perfektion beherrscht. Kein Kumys ist so gut wie ihrer.“
„Trinkt sie ihn auch selbst?“
„Na klar doch. Alle trinken ihn. Nur zu, kosten Sie!“
„Wie alt ist sie?“
„Wer? Melly?“
„Ja.“
„Keine Ahnung.“ Parry zuckte die Schultern. „Weit über neunzig, denke ich.“
Soviel zum Lebenselixier! Ich nahm all meinen Mut zusammen und probierte einen Schluck. Das Zeug schmeckte wie Kefir mit einem Schuss Wodka und ein paar Tropfen Zitronensaft. Etwas bitter mit leichter Schärfe im Nachgang, aber durchaus trinkbar. Möglicherweise lag es ja auch am Durst, der mich das Gesöff positiver beurteilen ließ als es verdiente. Ich nahm noch einen Schluck. Und noch einen. Und …
„Und?“, lauerte Patty auf mein Urteil.
Ich musste unwillkürlich an Nadine denken. Sie hatte – wie wohl alle Frauen – die Angewohnheit, mich mit Fragen zu bombardieren, während ich trank. Da half es auch nicht, ihr klarzumachen, dass ich nicht einfach mittendrin aufhören und ihr antworten konnte, wenn ich so recht „im Zuge“ war. Sie tat es dennoch immer wieder.
Endlich setzte ich den Becher ab und schnappte nach Luft.
Patty griente. „Was sagen Sie, ist das was?“
Ich nickte. „Besser als ich dachte. Ehrlich.“
„Freut mich“, sagte sie und schenkte nach.
„Da ist Alkohol drin, nicht?“
„Nur ’n paar Prozent. Weniger als Bier hat.“
Ich trank noch einen Becher aus. Dann setzte ich ihn ab und rülpste.
„Oh, ’tschuldigung, das – das ist mir so rausgerutscht. Liegt wohl an der Kohlensäure.“
Patty kicherte und stellte den Becher auf das Tablett. „Ein Zeichen, dass es geschmeckt hat. Jetzt legen Sie sich etwas hin. Ich komme bald wieder und schaue nach, ob Ihre Sachen trocken sann.“
„Und dann bringt mich Mello hinauf zur Autobahn? Gibt es nicht irgend eine Ansiedlung in der Nähe?“
„Die nächste Mühle ist über vier Kilometer weit weg. Bis zur Autobahn sann es nur knapp zwei, wenn Sie den kürzesten Weg über den Hang nehmen. In der Nähe ist ein Rastplatz mit einer von diesen Notrufsäulen. Sie wissen schon, wenn man ’n Unfall hatte oder so. Was in Ihrem Fall ja zutreffen dürfte. Mello zeigt Ihnen den Weg.“
Sie ging und ließ mich mit meinen Gedanken allein: Eine Stunde! Zusammen mit dem Fußmarsch höchstens zwei. Ich schaute zur Uhr. Wenn alles glatt läuft, bin ich am frühen Abend zu Hause. Vorher muss ich natürlich in die Firma. Der Wagen! Wie den aus dem Wald kriegen? Finde ich den überhaupt wieder? Ach was, der Hund kennt den Weg. Harris wird uns schon hinbringen. Mich und die Kollegen. Und das Technische Hilfswerk. Und wen sonst noch …
Ich legte mich auf die Couch. Mir war etwas schwindlig. Hatte ich einen Schwips? Diese Müdigkeit. Ich starrte zur holzgetäfelten Decke. Die Balken begannen sich zu drehen. Erst langsam, dann immer schneller.
Weniger als Bier – Nur ’n paar Prozent – Nich der Rede wert – Weit über neunzig – Baba Jaga – Kuhmist –Besser als gedacht – Lebenselixier …
Patty nimmt meine Sachen von der Leine. Ich sehe sie deutlich vor mir. Sie sieht ernst aus. Nicht so fröhlich wie sonst. Und die anderen? Wer sind die? Wieso kann ich mich nicht bewegen? Ich höre mich atmen, aber ich fühle es nicht. Oder atmet ein anderer für mich? Sie reden miteinander, doch verstehe ich ihre Worte nur undeutlich. Als stäke mein Kopf unter Wasser.
Was nun? Wieso legt man mich auf eine Trage und – bringt mich fort? Hinaus aus dem Raum – die Treppe hinab – durch endlose Gänge – ins Freie …
Ich will reden, Fragen stellen, aber ich vermag es nicht. Mein Mund ist wie zugenäht.
Es ist Nacht. Da sind Fackeln und zwei, nein, drei Feuer. Meine Augen brennen, wenn ich direkt in die Lichter schaue. Ich höre Trommeln und sehe nackte, bemalte Körper, die um mich herum tanzen. Masken. Und unmaskierte, aber bemalte Gesichter, die zu Fratzen verzerrt sind. Einige von ihnen halten federgeschmückte Stäbe in den Händen. Zeremonienstäbe? Wer sind diese Leute? Was wollen sie? Was machen sie da?
Da steht ein – Sarg! Was in aller Welt soll ein Sarg hier? Er wird geöffnet. Man legt mich hinein. Bespritzt mich mit einer Flüssigkeit. Einer der Maskenmänner tritt hinzu und wedelt mir mit einem Federbüschel im Gesicht herum, während er Worte in einer mir fremden Sprache murmelt. Ich weiß nicht, was er in der anderen Hand hält. Ich erkenne es nicht.
Ich liege in einem – Sarg?! Warum liege ich in einem Sarg? Denken die, ich sei tot? Bin ich denn tot? Und warum – warum bin ich tot?
Der Sarg wird geschlossen. Dunkelheit umgibt mich. Ich will schreien, aber ich kann nicht. Ich fühle, dass ich wieder getragen werde. Dann abgelegt. Dumpfe Klänge, als schaufle jemand Erde auf den Sargdeckel. ERDE! Sie begraben mich. Sie begraben mich lebendig!
Ich kann mich nicht bewegen. Nicht den kleinen Finger rühren …
Ich bin nicht tot! Lasst mich raus! Ich will nicht sterben! Warum hört mich keiner?
Wie lange reicht die Luft zum Atmen in einem Sarg? Zwei Stunden? Drei, vier, fünf …
Wohl nicht so lange.
Niemals so lange. Niemals so …