Читать книгу Die Verunglückten - Matthias Bormuth - Страница 11
V.
ОглавлениеAuch wenn Jean Améry, Ingeborg Bachmann und Uwe Johnson den kollektiven Kampf um die gesellschaftliche Umwälzung der Verhältnisse aus wesentlich größerer Entfernung nicht ohne innere Leidenschaft und Teilnahme beobachteten, entwickelten sie nie solch »konkrete Utopien«. Ihre Nähe zu Ernst Bloch und seinem Prinzip Hoffnung bestand vielmehr darin, dass sie im Unglück der Zeit als Schriftsteller vor allem individuell-literarische Gestalten der Erlösung suchten. Jean Améry strebte mit seinen zeitkritischen Essays die Versöhnung zwischen jüdischen Opfern und deutschen Tätern an, selbst ahnend, dass sein prophetischer Versuch, der traumatischen Geschichte nachträglich Sinn zu verleihen, sich als vergeblich erweisen könnte. Ingeborg Bachmann zelebrierte, angeregt durch die Lektüre Robert Musils, literarisch schon früh den »anderen Zustand«, der jedoch als »mystisches« und »ekstatisches« Erlebnis keine unmittelbaren politischen Folgen hatte. Einzig in der Begegnung mit Paul Celan und seiner Dichtung schien ihr eine Form der persönlichen und gedanklichen Erlösung angesichts des Holocaust für Momente möglich zu sein. Später suchte Bachmann als Gegenpol zu ihrer Rationalität nicht nur im Projekt der Todesarten ästhetische Zuflucht. Immer öfter strebte sie jenseits der Worte ekstatische Zustände durch erotische Erlebnisse und lebenszerstörende Drogen an. Uwe Johnson war ein exzessiver Alkoholiker, der besorgte Stimmen mit der Auskunft beruhigte, er wisse zu viel. Gleichwohl blieb ihm die Literatur ein Medium, der politischen Sehnsucht nach einer gerechteren Welt Ausdruck zu geben. Nachdem der Prager Frühling, seine dezente Utopie, erstickt worden war, setzte Johnson dem »Manifest der Zweitausend Worte« im Epos der Jahrestage ein literarisches Denkmal und schloss mit den Worten: »Wenn ihr wissen wollt, was an Sozialismus möglich ist zu unseren Zeiten, lernt Tschechisch, Leute!«
Worin damals intellektuell der Unterschied zwischen diesen drei Schriftstellern und Hans Magnus Enzensberger lag, der wesentlich stärker das Anliegen von Ulrike Meinhof teilte, lässt sich gut an seiner Begegnung mit Hannah Arendt veranschaulichen. Sie hatte Enzensberger schätzen gelernt, als er seine fulminante Kritik an der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ihrer Berichterstattung zum Eichmann-Prozess formuliert hatte. Er wiederum hatte als junger Mann begeistert Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft gelesen, das ihn davor bewahrt habe, dem naiven Glauben an die östliche Sache zu verfallen. Aber nachdem sie sich 1965 in New York in Arendts Wohnung in der Upper West Side Manhattans persönlich begegnet waren, blieb es bei diesem einen höflichen Treffen. Arendt konnte sich später für eine Besprechung im Merkur »nicht Enzensberger oder einen der eingeschworenen Marxisten« vorstellen, wie sie deutlich an dessen Herausgeber schrieb. Dass sein Gespräch mit Hannah Arendt gescheitert war, rückte Enzensberger auf Nachfrage ihres Biographen Thomas Wild in ein mildes Licht; es komme nicht darauf an, »in Arendts Wohnung zu sitzen«: »Was Hannah Arendt mir zu sagen und zu geben hatte, stand in ihren Büchern.«
Dagegen war Hannah Arendt begeistert von Ingeborg Bachmann, die sie sich nach dem Treffen im New Yorker Goethe-Haus als deutsche Übersetzerin von Eichmann in Jerusalem wünschte: »Wir denken in vielen Dingen ähnlich und sie wird nicht so schockiert sein wie vielleicht mancher andere.« Auch Uwe Johnson folgte nicht dem Zeitgeist des emphatischen Theoretisierens, das die deutschen Intellektuellen zu Arendts Bestürzung so mochten. Im Mai 1965 schrieb sie ihrem Lehrer Karl Jaspers: »A propos deutsche Schriftsteller: Sind augenblicklich alle hier, Grass und Johnson habe ich kennengelernt, darüber mündlich. Und Enzensberger ist im Anzug. Der Mangel an gesundem Menschenverstand ist oft zum Verzweifeln.« Durch den Kreis der New York Intellectuals war Arendt einen angelsächsischen Liberalismus und Pragmatismus gewohnt, dem seit Stalins Moskauer Prozessen jedes Liebäugeln mit dem Marxismus als politischer Utopie naiv erschien.
Allerdings hatte Arendt 1968 einige Sympathie für die rauschhafte Begeisterung im Pariser Mai, die Daniel Cohn-Bendit, ein Sohn guter Freunde, mit ausgelöst hatte. Sie mochte die subversive Infragestellung erstarrter Strukturen im Geiste einer offenen Räterepublik. Selbst Elias Canetti schilderte die beeindruckende Bewegung, die ihm gerade an der Sorbonne begegnet war: »Die Fenster oben von jungen Menschen besetzt, ein rotes Halstuch um das steinerne Standbild Victor Hugos. Junge Anarchisten rufen ihre Zeitung aus. Atmosphäre von Freiheit, in der jeder zur Rede kommt, niemand mundtot gemacht wird, jede angehört wird.« In Über die Revolution hatte Hannah Arendt einige Jahre vor den revolutionären Aufbrüchen der Studenten die Leistungen der amerikanischen Gründerväter in Erinnerung gerufen. Diese hatten in ihrer demokratischen Verfassung um 1776 dezentrale Strukturen vorgesehen, um unabhängige Meinungsbildungen innerhalb eines pluralen Gemeinwesens zu ermöglichen und so die relative Ordnung des freiheitlichen Individualismus zu sichern. Zu Zeiten des Vietnam-Krieges demonstrierte gerade die studentische Protestbewegung für Arendt erneut die vitale Stärke des revolutionären Erbes der Väter. Im Mai 1966 schrieb sie Jaspers aus Chicago: »Die Studentenunruhen […] waren eigentlich sehr erfreulich. […] Man hat nicht die Polizei gerufen und den Studenten nicht gedroht. Nach drei Tagen sind sie freiwillig wieder abgezogen, haben die ganze Zeit hindurch diskutiert und sich streng an alle parlamentarischen Spielregeln gehalten. Jeder kam zu Wort, jeder wurde gehört, niemand wurde ausgepfiffen, alle Anträge wurden ordnungsgemäß gestellt – kurz, es war in keinem Augenblick ein Mob.«
Jean Améry gehörte mit Arendt zu den liberalen Autoren des Merkur, deren Essays kritische Einsprachen gegenüber der revolutionären Studentenschaft boten. Der österreichische Jude hatte am eigenen Leibe die Qualen erlebt, die eine ideologische Revolution ganz anderer Art in Deutschland über ihn gebracht hatte. Sein Votum entsprach dem, was Jürgen Habermas in der frühen Hochphase der Studentenbewegung als »Linksfaschismus« bezeichnet hatte. Enzensberger gibt in Tumult Einblick in die oft naive bis blindgläubige Parteigängerschaft, der er früher diplomatisch einigen Tribut gezollt hatte, etwa wenn er ein Gespräch mit seiner norwegischen Frau Dagrun erinnert: »Das Bedürfnis nach Religion kann aller Zweifel Herr werden. Mit steinernem Gesicht erklärte dieses zarte Geschöpf mir, die Moskauer Prozesse seien ein Muster der Volksjustiz gewesen, ganz zu schweigen von Trotzki – diesem Verräter sei ganz recht geschehen. Nur die bürgerliche Propaganda verleumde den Kameraden Stalin. Die russischen Kommunisten, die im Gulag zugrunde gegangen sind, seien Volksfeinde gewesen, Revisionisten, Spione. Gewiß hätten übereifrige Funktionäre einzelne Fehler gemacht, aber davon habe Stalin nichts gewußt. Der diabolus ex machina trug in dieser Version den Namen Chruschtschow. Erst mit ihm habe die Agonie der Oktoberrevolution begonnen.«
Dass Hans Magnus Enzensberger sich in jenen Jahren nicht entscheiden konnte, seine Sympathien für revolutionäre Formen der Beglückung gänzlich aufzugeben, ist ihm im Rückblick peinlich. Tatsächlich entwickelte er in seiner »zweideutigen Haltung«, dem »Doppelleben«, wie es in Tumult heißt, nie die persönliche Haftbarkeit des Denkens, die Hannah Arendt bei Ingeborg Bachmann und Uwe Johnson schätzte und die auch Jean Améry mit ihnen verband. Aber Enzensbergers Kunst, sich dem existentiellen Ernst zu entziehen, sobald er zu tief ins eigene Leben einschnitt, bewahrte ihn auch davor, die Radikalisierung in der Tat mitzuvollziehen, die er im Wort so leidenschaftlich gepriesen hatte. Ein Dokument seiner schillernden Ambivalenz ist der Brief, den er Ulrike Meinhof schickte, bevor diese endgültig den Weg des gewaltsamen Kampfes wählte. Enzensberger gibt sich noch den opaken Anschein des Revolutionärs und deutet doch an, wie fern er inwendig dem Tumult schon gerückt war: »Heute, am dritten Adventstag 1969, ist es hier so: die Frankfurter Marxisten-Leninisten haben sich in ML-1, ML-2 und ML-3 aufgespalten. Das Geld wirbelt auf den Straßen herum, und in den Kaufhäusern brüllen die Leute, mit Weihnachtspaketen behangen. Die Befreiung der Menschheit macht große Fortschritte: Pornographie und Mao, alles auf eine Wand geklebt. Niemand weiß mehr, was wahr und was gelogen ist, es geht durcheinander wie ein Haschisch-Bild. […] Ich bin jetzt uralt, aber springe herum wie ein Heupferd. Jeden Tag kommen neue Bücher. Ich habe fast aufgehört, sie zu lesen. […] Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß wir uns nicht umbringen lassen sollten. Meistens weigere ich mich sogar, mich zu ärgern.« Im milden Blick zurück gesteht der altersweise Enzensberger zu, dass schon damals sein revolutionäres Kostüm fadenscheinig geworden war: »Natürlich ahnten die intelligenteren Häuptlinge unter den politischen Köpfen, daß auf einen Schriftsteller, auch wenn er den Mund voll nimmt mit politischen Phrasen, im Grunde kein Verlaß ist.«