Читать книгу Besondere Zeiten - Matthias Deigner - Страница 10
Noch 36 Minuten Tina Lauer
Оглавление»Die Musik steckt nicht in den Noten. Sondern in der Stille dazwischen.«
Wolfgang Amadeus Mozart
Alles ist schwarz. Fast schwarz. Schemenhaft zeichnen sich Lichtquellen ab. Pulsierende Stempel gewonnener Eindrücke. Ihre Lungenflügel füllen sich mit Luft. In das schwarze Pulsieren mischen sich tobende Gedanken. Sie kreisen um das, was sein wird; um das, was sein könnte; um das, was nicht sein darf. Langsam entweicht die Luft aus ihr. Gedanken wegblasen. Bis nichts mehr da ist. Nur noch ein weißes Blatt, nur noch reine Konzentration.
Sophie atmet noch ein paar Mal tief ein und wieder aus. Nur um sicherzugehen, dass nichts mehr da ist. Nicht mehr, was sie aufhalten könnte. Dann öffnet sie ihre Augen und blickt auf die graue Betonwand. Sie legt die Finger der rechten Hand an ihre Halsschlagader. Ruhige, gleichmäßige Schläge. 65 pro Minute. Metronomisch genau. Sophie genießt es, wenn ihr Körper funktioniert. Wenn er eins ist mit ihrem Willen. Mit der linken Hand klopft sie doppelt so schnell auf ihren Oberschenkel. Noch 36 Minuten.
Sie greift nach dem Meisterinstrument, das sie von ihrem Großvater geerbt hat. Er wäre so stolz, wenn er sie jetzt sehen könnte. Würde vor ihr sitzen, sie anlächeln und den ersten Ton herbeisehnen.
Mit einer flinken Handbewegung legt Sophie das weiße Baumwolltuch auf ihre Schulter und den Kinnhalter, setzt die Geige an, legt das Kinn darauf. Die rechte Hand greift nach dem Bogen. Wolfgang Amadeus Mozart, Violinkonzert Nr. 3 in G-Dur, Köchelverzeichnis 216. Die feinen Rosshaare ihres Bogens versetzen die Saiten in Schwingung. Die ersten Töne erklingen. Kein Stück hat sie öfter gespielt. Ihr Körper wird von einer Welle Endorphine geflutet. Sie steigern ihre Konzentration. Jeder Ton, jedes Crescendo, jedes Ritardando ist in ihr. Sie hört es, spürt es, weiß es: Noch nie war sie so gut. Noch nie so bereit. Der fensterlose Überraum füllt sich mit einer Klaviatur an Tönen. Noch einmal die Kadenz. Wenn nur nicht … Noch einmal der dritte Satz. Diese eine Passage, bei der sie jedes Mal besonders aufpassen muss. Doch nicht der Hauch einer Unsicherheit.
Dann, endlich, huscht ein zufriedenes Lächeln über ihr Gesicht. Es ist genug.
Die letzten Töne verhallen in den dunklen Ecken des winzigen Raumes. Behutsam bettet sie das Instrument zurück in den Geigenkasten, spannt den Bogen ab und legt ihn ebenfalls an seinen gewohnten Platz. Noch 23 Minuten.
Alles in ihr ist bereit. Sie fühlt sich gut, konzentriert, gefasst. Nichts wird sie aufhalten können. Fast nichts … Sie hat sie gehört – ihre Mitstreiter, ihre Konkurrenz – vorhin, als sie an den Räumen vorbeiging. Gute Musizierende, keine Frage. Aber so gut wie sie? Nein, ganz bestimmt nicht. Sie weiß, dass sie die Beste ist – die Beste sein kann. Sie muss es nur im richtigen Moment abrufen. Nein, da ist niemand, der sie aufhalten wird. Niemand! Aber vielleicht ... etwas ... Noch 21 Minuten.
Sophie läuft zum Spiegel. Atmet noch einmal tief ein und aus. Ihre dunkelblonden Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Das ärmelfreie Kleid lässt ihr genug Platz, um die Arme frei zu bewegen. Den fliederfarbenen Stoff hat sie extra danach ausgesucht, unangenehmen Schweißflecken vorzubeugen. Die Schuhe sind elegant, aber mit niedrigen Absätzen. Sie wird sorglos auf die Bühne treten und die Aufnahmeprüfung meistern. Sophie ist zufrieden mit dem, was sie sieht. Nur ein paar letzte Korrekturen. Sie greift nach dem schwarzen Kajal und setzt an, den Lidstrich nachzuziehen. Dann hält sie inne. Eine dicke Fliege hat sich auf ihr Spiegelbild gesetzt. Genau dorthin, wo ihre Nase reflektiert wird. Sophie schluckt. Sie starrt auf die Fliege, die bewegungslos verharrt. Ihr ist, als würde sie Sophie anblicken. Ist es nur eine Fliege, oder ist es mehr? Ihr ist, als blicke die Fliege sie direkt an. War da ein Flackern? Je näher sie der Fliege kommt, desto größer wird das Insekt. Sophie will es wissen, muss es wissen. Ist da mehr? Noch 17 Minuten.
Die Fliege wächst ... verformt sich. Angst steigt in Sophie auf. Sie spürt es. Sieht es. Nein, nicht jetzt … Bitte nicht jetzt … Es darf nicht sein. Sie versucht, die Angst wegzuatmen. Ich bilde mir das nur ein. Da ist nichts. Nicht hier, nicht jetzt. Langsam ein, noch langsamer wieder aus. War der Raum schon vorher so erdrückend? Wie kann man hier überhaupt atmen? Das Insekt ist mittlerweile so groß wie eine Hummel. Mit schweren Flügelschlägen bewegt es sich in eine Ecke des Zimmers. Sophie weiß, dass ihr keine Zeit bleibt. Hektisch kramt sie in ihrem Schminktäschchen nach der weißen Dose mit dem roten Deckel. Die hummelgroße schwarze Fliege nimmt menschliche Züge an. Schon ist sie so groß wie eine Hand. Sie wächst zusammen mit Sophies Angst. Natürlich war sie schon vorher da, schon länger. Sophie hat sie gespürt, es gewusst. Wo ist diese verdammte Dose? Zitternd dreht sie ihre Tasche auf den Kopf, deren Inhalt sich polternd auf dem gefliesten Fußboden verteilt. Sie wühlt zwischen benutzten Taschentüchern, angeknabberten Müsliriegeln, Tampons, Kugelschreibern, Handcreme, Schlüsselbund und Smartphone, doch von der ersehnten Dose keine Spur. Tränen steigen in ihr auf. An alles hat sie gedacht ... nur nicht daran. Noch 13 Minuten.
Eine menschengroße Gestalt kauert Sophie gegenüber. Sie hat ihre Augen, ihre Gesichtsform, ihren Körper. Ihr dunkles Abbild hockt auf den kalten Fliesen und blickt Sophie an. Aus den schwarzen Augen fließen Tränen. Sie formen einen Strom der Traurigkeit, der unaufhaltsam in Sophies Richtung fließt. Sophie will weg, weg von diesem Strom, weg von diesem Ort. Aber sie kann nicht. Ihr Körper sträubt sich gegen jede noch so winzige Bewegung. Wie gelähmt bleibt sie sitzen. Aus weiter Entfernung scheint ihre Geige nach ihr zu rufen. Doch sie hört sie kaum. Langsam verstreichen die Sekunden, ewig dauern die Minuten. 12, 11, 10, 9, ... und versickern doch wie Sand in ihren Händen. Der Strom ist fast bei ihr. Sophie weint stille Tränen. 8, 7, 6 Minuten, ... Dann erreicht er die Füße. Und während ihre Frist abläuft, versinkt Sophie erneut im Sumpf ihrer bipolaren Störung.