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Besondere Zeiten Sissy Leger-Lohr

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Als wäre es heute gewesen, so erschien es Sonja in ihren Erinnerungen. Und immer wieder suchten Alpträume sie heim. Dann erlebte sie erneut diesen nebligen Tag, an dem sich die Sonne standhaft, aber vergeblich bemühte, ein wenig Licht und Wärme hineinzubringen.

Sie spürte den Aufprall, als der Wagen sie traf, den Schmerz, der wie eine lodernde Flamme durch ihren Körper zuckte, spürte, wie sie hochgewirbelt wurde, wie ihr eigener Schrei ihr in den Ohren gellte. Dann gab es nur noch Schwärze.

Seither teilte sich ihre Welt in die Zeit vor und die Zeit nach dem Unfall.

*

Vorher hatte sie ein Leben und Freunde, nahm in der Bank rasant Stufe um Stufe der Karriereleiter, unaufhaltsam, so schien es ihr damals.

Die Zeit nach dem Unfall bestand aus Qualen und Schmerzen. Die Ärzte wurden nicht müde, ihr zu sagen, welch sagenhaftes Glück sie gehabt hätte. Doch Sonja empfand es nicht als Glück. Sie, früher stets gesund und fit, war nun ohne eigenes Verschulden auf den Rollstuhl angewiesen. Es gab beinahe keinen Knochen in ihrem Körper, der nicht mehrfach gebrochen war. Als sich ihre Lunge erholt hatte und sie aus dem künstlichen Koma geholt wurde, standen mehrere Operationen an. Sie bemühte sich eisern, sich ihre Körperfunktionen zurückzuerobern, Stück für Stück. Jedoch, es blieb ein Puzzle. Wenn sie an einer Stelle den Durchbruch geschafft hatte, musste sie an einer anderen weitermachen. Es war mühsam, sich Schritt für Schritt ins Leben zurückzukämpfen, und oft fragte sie sich, ob sie es schaffen würde. Wie lange ihre Kraft, ihre Energie noch reichten.

Dann starrte sie stundenlang auf die Fotos an den Wänden ihrer Wohnung und in ihrem Fotoalbum. Die Bilder zeigten sie, wie sie als Tänzerin der Faschingsgesellschaft durch die Luft gewirbelt wurde. Sie im Spagat. Beim Tauchen. Wie sie, einer Spinne ähnlich, an einer Felswand hing gemäß dem alten Kletterer-Spruch: »Wenn du nicht mehr weiter weißt, spreizen, bis die Hose reißt.«

In diesen Momenten fragte sie sich, ob sie je etwas davon nochmals erleben würde. Ob sich die Mühe lohnte. Wünschte sich ihr Ende herbei. Ruhe. Keine Schmerzen mehr. Ihre Eltern brauchten sich keine Sorgen mehr zu machen. Sie würde ihnen nicht mehr zur Last fallen.

Ihre Gedanken entwickelten ein Eigenleben. Sonja wusste genau, wie sie es anstellen musste. Tabletten hatte sie genug. Nur ein paar zu viel von diesen Gelben hier, und es wäre überstanden. Manchmal schüttete sie sie aus dem Röhrchen, hielt sie in der Hand und kämpfte dagegen an, sie zum Mund zu führen. Bisher hatte der Gedanke, dass es schiefgehen könnte und sie erneut von vorn anfangen müsste, sie davon abgehalten.

Die meisten ihrer Freunde machten sich inzwischen rar. Sonja wagte nicht zu jammern, weil sowieso alle auf Durchzug stellten. Die einen zuckten hilflos die Schultern, andere beschieden ihr, sie müsse eben ihren Zustand akzeptieren und sich damit abfinden. Das kam jedoch für Sonja nicht in Frage. Verbissen übte sie weiter, weil nur die vage Hoffnung sie aufrecht hielt, eines fernen Tages wenigstens ohne ständige Schmerzen zu leben.

In ihrem Alltag spielte die Physiotherapie die Hauptrolle. Viermal die Woche und auch zu Hause trainierte Sonja ihre Arme, um den Rollstuhl bewegen zu können, die Rücken- und Bauchmuskeln gegen die Schmerzen, machte Übungen, um ihre Beine wieder zu spüren und die Füße zu belasten.

Nach dem anstrengenden Training mit ihren Kräften am Ende, brachte Sonja kaum einmal die Energie auf, mit den Freunden auszugehen. Geselligkeiten ging sie jetzt meistens aus dem Weg. Es tat weh, die lauten, fröhlichen Menschen zu beobachten, die sorglos und unbekümmert feierten. Sie, früher so oft Mittelpunkt, fühlte sich neuerdings in Gesellschaft von Menschen einsam. Einsamer als allein. Sie hörte die Stimmen und das Lachen und spürte, dass sie nicht dazugehörte. Nicht mehr. Ihre Probleme waren andere. Sie fühlte sich ausgeschlossen. Ausgestoßen. Eine dunkle Wolke von Traurigkeit schien sich über ihr Leben gebreitet zu haben.

Mike, ihr Physiotherapeut, ermutigte und bestärkte sie, wenn der Kampfgeist sie verlassen wollte. »Hab’ Geduld«, mahnte er. »Das Leben ist etwas völlig anderes als ein Urlaub. Bei der Lebensreise kommt es nicht darauf an, möglichst schnell am Hotel, am Pool oder am Meer anzukommen, um zu entspannen. Hier ist die Reise das Ziel. Da geht es darum, möglichst viele ausgefüllte und spannende Tage zu erleben. Jeden Tag als ein Ziel für sich zu sehen.«

»Ach ja«, höhnte sie, »und kannst du mir vielleicht auch verraten, wie ich das anstellen soll, Mr. Oberschlau?«

Mike ging nicht auf die Provokation ein. »Du solltest eine weitere REHA machen. Dort wirst du genau das lernen. Die kümmern sich da auch um deine Psyche.«

Sonja hangelte sich gerade mit zusammengebissenen Zähnen das vierte Mal am Barren entlang und versuchte, ihre Beine einzusetzen. Das gelang ihr eher mäßig. Ihr Atem ging stoßweise. Trotzdem quetschte sie hervor: »Spinnst du? Mein Kopf ist das Einzige, was bisher reibungslos funktioniert. Ich bin doch nicht verrückt! Meinst du, ich habe nicht genug eigene Probleme? Da muss ich mir nicht vier Wochen die Gesellschaft von menschlichen Wracks wie mir antun, die sich gegenseitig die Tiefs ihres Lebens erzählen.« Ausgepumpt ließ sie sich auf die Matte plumpsen. Sie fühlte sich, als wäre sie mit Anlauf gegen eine Wand gelaufen.

»Ich habe es nicht so gemeint, das weißt du«, begütigte Mike. »Gegen deine Depressionen musst du dringend was unternehmen.«

»Das haben die doch hier auch schon versucht und es nicht hingekriegt.«

Mike schwieg.

»Ich habe wirklich genügend gute Gründe, deprimiert zu sein«, sagte sie eingeschnappt. »Die kann niemand wegzaubern. Deshalb werde ich eben öfter mal deprimiert sein. Warum kann das bloß keiner akzeptieren?«

»Depressionen sind gefährlich. Nimm das nicht auf die leichte Schulter.« Mike sah sie auffordernd an. »Bereit? – Los, noch eine Runde.«

Er half ihr auf und legte ihre Hände auf die beiden Seiten des Barrens.

Nach der Hälfte ächzte sie: »Mike, ich kann nicht mehr. Hilf mir!«

Er trat an ihre Seite. »Doch, du kannst. Du schaffst es. Nur noch drei Mal umgreifen.«

»Nein, Mike. Ich kann nicht. Wirklich!«

»Du strengst dich nicht genug an. Du musst an deine Grenzen gehen und darüber hinaus. Jeden Tag. Wieder und wieder. Dabei ist dir dein Selbstmitleid im Weg.«

Das nannte man wohl »jemandem die Luft rauslassen!« »Ach, und was meinst du, was ich hier tue?«

Sonja ließ sich fallen, robbte zu ihrem Rollstuhl, hievte sich unter Aufbietung aller Kräfte und unter Zurücklassung ihrer Selbstachtung hinein und rollte weg. Was bildete sich dieser Neandertaler ein! Nicht genug anstrengen! Wie kam er bloß darauf?

Sonja fuhr im Aufzug ins Erdgeschoss und schnurstracks Richtung Ausgang.

Draußen schüttete es, als wollte die Welt untergehen. Sogar unter den überdachten Gang, den Sonja jetzt entlang rollte, trieb es den Regen. Sie zögerte kurz, dann trat sie den Rückzug an und gesellte sich zu denen, die am Eingang darauf warteten, dass der Regen ein wenig nachließ. Eine Frau mit langen, braunen Haaren und ausgezehrtem Gesicht fiel ihr auf, deren Augen tief in den Höhlen lagen. Sonja kannte sie flüchtig vom Sehen. Ab und zu saß sie im Wartezimmer der Physiotherapie, wenn Sonja herauskam.

Sonja musste sie wohl angestarrt haben, denn die Frau lächelte sie unbefangen an und streckte ihr die Hand entgegen. »Hallo, wir kennen uns von der Physiotherapie. Ich bin Bianca.«

Sonja ergriff die dargebotene Hand. »Ich bin Sonja.«

»Ich habe nicht immer so ausgesehen«, sagte Bianca. »Das macht der Krebs. Blasen-Karzinom. Sehr aggressiv. Tödlich aggressiv.«

Sonja starrte sie entsetzt an. Wie alt mochte sie sein? Anfang, vielleicht Ende dreißig. Ihre ausgemergelten Züge machten es schwer, sie zu schätzen. »Tödlich?«, ächzte Sonja, betroffen von der Unverblümtheit der anderen. »Heißt das …«

»Jep. Die Ärzte geben mir noch ein Jahr. Zwei vielleicht, wenn ich Glück habe.«

Als sie Sonjas Blick sah, fügte sie schnell hinzu: »Es ist in Ordnung. Ich habe meinen Frieden damit gemacht. Es ist nur ... es ist so früh.«

Sonja schwieg bestürzt. Bianca fuhr schließlich fort: »Noch habe ich ja einige Tage vor mir. Und ich werde jeden einzelnen davon nutzen. Ich verschwende keine Zeit.«

»Das habe ich gemerkt!« Diese brutale, unerwartete Offenheit, und das von einer Wildfremden! Sonja fühlte sich wie paralysiert.

»Ja, jeder Tag ist ein neues Ziel. Im Leben wechseln sich Sonne und Regen ab.« Bianca deutete nach draußen. »Schauen Sie, der Regen hört auf.«

Sie zwinkerte Sonja zu. »Manchmal gibt es nach dem Regen wunderschöne Regenbogen.«

Sonja folgte Biancas Handbewegung, und beide betrachteten fasziniert den gigantischen Regenbogen, der sich in der Ferne über der Stadt wölbte.

Schlagartig wurde Sonja bewusst, wie viel Sehnsucht nach Leben in ihr war. Ja, sie hatte Schmerzen. Aber sie lebte! Sie machte Fortschritte. Sie würde sich noch mehr anstrengen! Möglicherweise tatsächlich eine REHA machen. Und zur Not gab es ja den Rollstuhl.

Sie würde dafür sorgen, dass sie bald viele neue Bilder aufhängen konnte.

»Ich fahre zurück zur Physio«, murmelte sie beschämt nach einem Blick auf die Uhr. »Ich habe noch eine Viertelstunde. Aber wenn wir uns das nächste Mal sehen, könnten wir zusammen etwas trinken gehen – wenn Sie wollen?«

»Gerne!« Bianca strahlte. »Ich freue mich darauf.«

Als Sonja ihren Rollstuhl wendete, regnete es noch immer leicht. Doch in den Ecken ihrer Mundwinkel nistete ein Lächeln, denn da war das Wissen um den Regenbogen.

Besondere Zeiten

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