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Erwachen Heike Roloff

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Herr Johanson öffnete die Augen. Wie an jedem Morgen in den letzten Jahren spürte er das Unglück. Es war noch vor ihm erwacht und trommelte seit einer halben Stunde schmerzhaft gegen seine Brust. Von innen.

Herr Johanson hatte viel über dieses Unglück nachgedacht.

Es schien ihm aus einer unerschöpflichen Quelle des Begehrens zuzufließen, auf deren Grund das Nichtverwirklichte seines Lebens in jedem Moment Wünsche formte.

An diesem besonderen Morgen sollte sich Herr Johanson das erste Mal die Frage stellen, ob es nicht doch an der Zeit sei, alles zu verändern. Er dachte an eine kleine Drei-Zimmer-Küche-Diele-Bad-Wohnung mit Gäste-WC, Letzteres aus beruflichen Gründen. Er dachte an eine andere Frau in einer anderen Stadt. An eine größere andere neue frische Liebe. Kurz dachte Herr Johanson an einen anderen Herrn Johanson, einen schlanken, inspirierten, sexy Mann.

Dann stellte sich Herr Johanson vor, wie er seiner Frau beim Frühstück mitteilen würde, dass er gedenke, sich eine eigene 3 ZKDB-Wohnung zu nehmen. Mit Gäste-WC.

Er sah, wie in den ohnehin traurigen Augen seiner Frau jeder Sinn, den ihr Leben noch hatte, erlosch, und wie die Kraft, die noch da war, aus ihrem Körper floss. Er konnte sie als alte Frau mit der Einkaufstasche in der Hand sehen, wie sie allein durch die Straßen der Stadt ging, in der sie beide seit vielen Jahren lebten.

Ganz kurz überlegte Herr Johanson, ob er sich nicht etwas vormachte, ob nicht – ganz im Gegenteil – seine Frau aufblühen würde, wenn er gegangen sein würde, ob sie nicht in kürzester Zeit eine neue Liebe finden und der traurige Ausdruck ihrer Augen in einen Ausdruck von Befreiung und Glück verwandelt würde. Er wusste es nicht. Konnte die eine Vorstellung genau so wenig ertragen wie die andere.

An dieser Stelle fragte sich Herr Johanson, ob es wohl Liebe sei, dass er bei der Vorstellung, seine Frau zu verlassen, Schmerz empfand. Seit längerer Zeit schon war er auf der Suche nach seiner Liebe, die ihm verloren gegangen zu sein schien in der Zeit.

Je länger er allerdings suchte, desto mehr entzog sich ihm alles, was er jemals über Liebe gedacht, und alles, was er dafür gehalten hatte. Dafür fand er diesen Schmerz und einiges andere, durchaus von Wert, zweifelsfrei.

So fand er, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, Verlässlichkeit – seine eigene, ihre auch – und Vertrautheit. Er kannte seine Frau gut; ihre Art zu denken, ihr Lachen an den guten Tagen, das Besondere eben, das sie ausmachte.

Er wusste um den Schmerz in ihren gerundeten Schultern, die diese Form durch das Tragen und Nähren der gemeinsamen Söhne angenommen hatten.

Er kannte die Narben und Furchen, die das Leben in ihren Körper geschlagen hatte, und all dies schuf eine tiefe Bindung. Gleichzeitig stieß es ihn ab als klare Spiegelung seines eigenen Alterns.

Etwas war vorbei und doch fühlte er sich nicht frei. Unfähig zu gehen, verharrte er an dem Platz, an den ihn das Leben vor so vielen Jahren gestellt hatte, versorgte und behütete, was er sich einst vertraut gemacht hatte, und weinte in dem inneren Raum, der nur ihm gehörte.

Bei diesem Gedanken hielt Herr Johanson inne.

Entdeckte im gleichen Moment, dass es diesen Raum so nie gegeben hatte und nie geben würde. Es war etwas Ungetrenntes zwischen ihm und seiner Frau. Auch zwischen ihm und den Kindern, das konnte er spüren, und diese Erkenntnis versetzte ihn in großes Erstaunen. Es gab keine Trennung, und so musste sein Schmerz auch ihr Schmerz sein.

Herr Johanson lauschte in den neu gefundenen offenen Raum und hörte mit einem Mal das unermessliche Weinen der Anderen. Lautes und leise wimmerndes, verzweifeltes und schmerzerfülltes Weinen. Mitfühlend hörte er zu und verspürte nur noch den einen Wunsch, dass sich dieses Leid auflösen und in Glück verwandeln möge.

Das erste Mal in seinem Leben fühlte sich Herr Johanson eingebunden und als Teil einer Ganzheit. Vergleichbar vielleicht einem einzelnen Faden in einem großen vielfarbigen Teppich, der von schöpferischen Kräften weise geknüpft wurde; Tag für Tag, Jahr für Jahr. Im Strom der Zeit wurde sein Schicksal verbunden mit dem vieler anderer, nach einem Muster, das er von dem Punkt aus, an dem er gerade stand, nicht zu erkennen vermochte.

Erst beim Blick zurück konnte er sehen, dass es gut gewesen war, denn in diesem Moment des Schauens war sein Denken und Fühlen frei von Zorn oder Vorwurf.

Machtvoll fühlte Herr Johanson den alles verbindenden Strom, der sein Handeln lenkte, und er überließ sich dieser Kraft erstmals ohne Gegenwehr. Wurde selbst zum Strom.

Vollkommen befreit von Unglück und Leid schlug er die Bettdecke zurück und stand leise auf. Er würde nun mit dem Hund gehen, während seine Frau wie immer das gemeinsame Frühstück zubereitete. Alles und nichts hatte sich verändert, und es war gut so, wie es war.

Besondere Zeiten

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