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Im Nebel (nicht von Hermann Hesse)
ОглавлениеWer die General-Pape-Straße in Berlin kennt und einmal die Strecke von der Dudenstraße zum Südkreuz zurückgelegt hat, weiß wie eng der Gehweg zwischen den parkenden Autos und Kleingartenzäunen ist...
Kurz nach sieben. Ende November.
Während ich meinen müden Leib, gewohnt hektisch, durch die neblig, nasskalte Scheißbrühe eines normalen Arbeitstages, vorbei an Müllsäcken, Autospiegeln und Verkehrsschildern manövriere, kommt mir wetterbedingt das alte Gedicht von Hermann in den Sinn:
"…Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein."
Etwa dreißig Meter entfernt, kommt mir eine scheinbar voll vermummte Frau entgegen.
Eins ist klar: Das wird eng mit uns beiden. Ich – zwar eher drahtige Hyäne mit Bierbauchansatz, sie aber mindestens Nilpferd.
'So', denke ich, 'was nun?'
Ihr Anblick schmeißt unweigerlich den Projektor meines Kopfkinos in Gang. Es läuft: Vorurteile. Und das in einem Linkswähler-Kopf. Was wird sie, als offensichtlich unterdrückte Frau, nun tun? Ihrem Rollenverständnis von Männern und Frauen entsprechend, wird sie gerade nach einer passenden Autolücke linsen, um ein Stück auf der Straße weiterzugehen und mir als Mann gebührend Platz zu machen. Aber gilt das überhaupt für deutsche Männer? Und sehe ich nicht sowieso eher kasachisch aus?
Was soll ich als gut erzogener Gentleman nun tun? Mein Anstand gebietet es, ebenfalls Platz zu machen, um der Dame Unannehmlichkeiten zu ersparen. Aber vielleicht bereite ich sie ihr dadurch ja gerade erst. Ach, hätte ich doch jetzt den Infinity-Zeitstein! Dann könnte ich in einer Art Sozialstudie verschiedene Varianten durchprobieren. Da ich aber weder Doctor Strange noch Marty Mc Fly bin, werde ich wohl in den sauren Entscheidungsapfel beißen müssen. Oder sie halt. Und das Ganze möglichst bald, denn vielmehr als fünf bis sechs potenzielle Fluchtlöcher sind es nicht mehr zwischen uns. Irgendwas murmelt sie vor sich hin. Vielleicht hat sie angefangen zu beten. Was wäre eigentlich, wenn wir beide spontan gleichzeitig auf die Straße flüchteten, uns dort panisch erblickten, durch dieselbe Lücke wieder zurück switchen wollten und uns dabei zwischen zwei Toyotas (nichts ist unmöglich), dicht an dicht, verkeilen würden? Würde das zu einer Art religiös bedingten Kernschmelze oder gar einer spontanen Implosion des Universums führen?
Wie so oft, entscheide ich mich irgendwie gar nicht und dadurch fürs Weiterlaufen. Sie allerdings auch. Gesenkten Hauptes quetsche ich mich an ihr vorbei. Ihr schwerer, dunkler Mantel (doch keine Burka) schrappt über meinen linken Jackenärmel. Das Universum bleibt trotz unserer Berührung vorerst heile.
"Matzeee??"
Ich drehe mich um. "Warte mal kurz. Rate mal wer hier gerade Pape-Straße an mir vorbeilatscht...Du weißt doch noch Matze von der Kita...", sagt sie ins Telefon. Erst jetzt erkenne ich, dass ihr ein Handy am Kopftuch klemmt. "Ayca?", sage ich völlig perplex. "Sorry. Hab' dich gar nicht erkannt."
"Na wie auch, im Nebel?", sagt sie freundlich. "Na Matze, wie geht's denn so in der neuen Kita? Komm doch mal wieder vorbei! Die Kinder fragen oft nach dir."
"Alles klar, Ayca. Mach ich mal. Grüß die anderen. Ich bin spät dran, du kennst mich ja."