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Fall Johnson »Ja, klar, der kanadische Sport hatte eine Dopingkultur«
ОглавлениеFall: Ben Johnson, Leichtathlet
Zeit: 1988
Land: Kanada
Relevanz: Die Überführung des 100-Meter-Olympiasiegers beleuchtet bisher unbekannte Abgründe und bringt weltweit Bewegung in den Anti-Doping-Kampf.
Rolle von Matthias Kamber: Sein Magglinger Labor ist für die Analytik der Dopingkontrollen beim Leichtathletik-Meeting »Weltklasse Zürich« vom 17. August verantwortlich. Wochen später muss Kamber die Analysen-Unterlagen einer bestimmten Probennummer zwecks Überprüfung dem Internationalen Leichtathletikverband (IAAF) aushändigen. Beim überprüften Test handelt es sich um Johnsons Probe aus Zürich. Zudem lanciert Kamber eine Zusammenarbeit mit dem nach dem Fall Johnson neu geschaffenen Canadian Centre for Drug Free Sport und gehört zum Expertengremium, das ab 1988 die Europaratskonvention gegen Doping ausarbeitet. 31 Jahre später trifft er in Ottawa Paul Melia und Doug MacQuarrie, zwei kanadische Anti-Doping-Kämpfer. Mit Melia verbindet ihn eine Bekanntschaft seit den späten achtziger Jahren.
Ein Sommertag 2019 in Ottawa, 31 Jahre nach diesem legendär großen Dopingfall. Paul Melia trägt ein dunkelblaues Polo-Shirt und helle Chino-Hosen, ein 66-jähriger, ewig junger Mann. Melia leitet das Canadian Centre for Ethics in Sport (CCES), das in Ottawa beheimatet ist – aber vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn es den Fall Ben Johnson nicht gegeben hätte.
Auch Melia war ein Fan von Johnson, »ja, würde ich sagen«, wer war das nicht damals in Kanada? Das 100-Meter-Rennen bei den Olympischen Sommerspielen 1988 in Seoul schaute sich Melia dennoch nicht im TV an. Er hatte anderes zu tun.
Und vom positiven Dopingtest hörte er im Auto, am Radio. Johnson gedopt! Zuerst war Melia geschockt. Später fühlte er Wut und Verrat.
Johnson gedopt? Es gab alle möglichen Versionen – dass es Johnson abstritt; dass er als Einzeltäter herhalten musste; dass seine Dopingprobe manipuliert worden sei.
Heute sagt Paul Melia: »Ja, klar, der kanadische Sport hatte eine Dopingkultur. Und ja, es war immer eine Reaktion auf Dopingfälle, nie ein Vorhersehen.«
Aber für diese Einsicht und Erkenntnis brauchte es einen Untersuchungsbericht von 638 Seiten.
Den Anfang nahm diese Geschichte in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul, bei den Sommerspielen 1988. Am 24. September hatte Ben Johnson den 100-Meter-Endlauf gewonnen, das Bild des Triumphs ging um die Welt – wie Johnson nach links schaute, wo Carl Lewis als Zweiter einlief. Der Amerikaner Lewis, Johnsons großer Rivale mit dem eleganten, ausgreifenden Laufstil, gegen den bulligen Kanadier, explosiv, kraftvoll. Johnson gewann in der Zeit von 9 Sekunden 79, Weltrekord. Und das Tempo blieb hoch.
Am 24. September 1988 also: der Lauf zu Gold. Ministerpräsident Brian Mulroney gratuliert Johnson telefonisch aus Ottawa, denn wer war kein Johnson-Fan damals in Kanada.
25. September: Johnsons A-Probe wird als positiv erklärt.
26. September: Die B-Probe bestätigt den Befund. Doch kein Weltrekord.
Die Kadenz steht für die Fortschritte von Analytik und Kontrollverfahren. Bereits 1984 war am Koreanischen Institut für Wissenschaft und Technologie ein Doping-Kontrollzentrum gegründet worden. Das Labor war bereit, Dopingkontrollen bei den Asien-Spielen 1986 durchzuführen, und erhielt die Akkreditierung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) im September 1987, als erst drittes Labor außerhalb Europas und Nordamerikas. Die Südkoreaner hatten von Anfang an eine enge Kooperation mit dem Kölner Labor von Manfred Donike angestrebt. So waren bei den Asien-Spielen 1986 auch Mitarbeitende des Kölner Labors in Seoul und unterstützten das Kontrolllabor; zudem engagierten die Südkoreaner Donike – wieder er – als wissenschaftlichen Berater. Auf diese Weise bekam das Labor Zugang zu den modernsten Analysemethoden und gelangte so zum damals maximal möglichen Wissen in der noch jungen Analytik von Anabolika. Der Aufwand für Dopingkontrollen war in Seoul so groß wie nie zuvor bei Olympischen Spielen. Das Labor analysierte 1598 Proben, zehn waren positiv. Darunter sechs Gewichtheber, zwei Moderne Fünfkämpfer, ein Judoka – und eben ein Leichtathlet: Ben Johnson, erwischt mit Stanozolol. Stanozolol?
27. September: Johnson wird in Seoul zum Flughafen gefahren, plötzlich geächtet. Rückflug nach Toronto, wo er ausgepfiffen wird. Der Kolumnist einer großen Zeitung schreibt, an Johnson gerichtet: »Danke für die Demütigung, die Peinlichkeit, die internationale Schande.«
30. September: Johnson unterzeichnet eine Erklärung, wonach er betont, nie wissentlich Dopingmittel genommen zu haben. Er sei in den letzten zwei Jahren etwa zehn Mal negativ getestet worden, das letzte Mal am 17. August in Zürich. Er habe in Seoul eine Medaille gewinnen wollen und gewusst, dass alle Medaillengewinner kontrolliert würden, weshalb es keinen plausiblen Grund gebe, Dopingmittel zu nehmen. Deshalb fordere er eine vollständige Untersuchung in dieser Sache. Er begrüße die Möglichkeit, die Unschuld zu beweisen.
5. Oktober: Ministerpräsident Mulroney – Johnson-Fan, oder? – setzt eine Untersuchungskommission unter dem Vorsitz des Richters Charles W. Dubin zu Doping im Sport ein. Beim ersten öffentlichen Hearing fragt Dubin: »Haben wir Kanadier aus den Augen verloren, was sportlicher Wettkampf überhaupt bedeutet? Gibt es einen zu starken Akzent des Publikums und der Medien auf dem Gewinn einer Olympischen Goldmedaille als dem einzig anerkennenswerten Erfolg?«
Bevor der Fall Johnson die Sportwelt bewegte, schien Kanada zu den führenden Nationen im Anti-Doping-Kampf zu gehören. 1983 hatte die kanadische Regierung durch Sport Canada eine für damalige Verhältnisse strikt-moderne Anti-Doping-Politik entwickelt.
Treiber dieser Politik war einerseits die potenziell gesundheitsschädliche Wirkung von Doping; andererseits wollten die Kanadier sichergehen, dass staatlich geförderte Athletinnen und Athleten nicht betrügen. Spitzensportlerinnen und -sportler sollten Vorbilder sein und Jugendliche durch den Anabolikaeinsatz nicht zu ebensolchen Praktiken animieren. Anabolika rufen unter Umständen große gesundheitliche Schäden hervor, besonders bei Jugendlichen, etwa: Wachstumsstopp, Störung des Hormonsystems, Vermännlichung bei jungen Frauen.
Durch die neue Anti-Doping-Politik mussten alle kanadischen Sportverbände, die staatliche Fördermittel erhielten, ein System von Dopingkontrollen im Wettkampf wie auch außerhalb von Wettkämpfen betreiben. Damit nahmen die Kanadier eine Vorreiterrolle ein. Auch Trainer, Mediziner und Administratoren mussten sich den Anti-Doping-Regeln unterwerfen. 1985 erfuhren die Regeln insofern eine Verschärfung, als Athletinnen und Athleten, die Anabolika benutzten oder besaßen, der Ausschluss von staatlichen Förderungen drohte.
Die Macht des Staates.
Trotzdem wurden zwischen 1983 und 1988 mehrere kanadische Athleten des Anabolika-Dopings überführt, unter anderem vier der sieben für die Olympischen Spiele in Seoul qualifizierten Gewichtheber. Wie später bekannt wurde, hatte der Nationalcoach der Gewichtheber, Andrzej Kulesza, im Juni 1987 ein Trainingslager in der Tschechoslowakei durchgeführt, kurz nachdem in Kanada bei den Gewichthebern ein Doping-Kontrollprogramm außerhalb der Wettkämpfe eingeführt worden war. Es gab Abmachungen, wonach die Athleten während des Trainingsaufenthaltes durch einen tschechoslowakischen Trainer mit Namen Émile anabole Steroide und Maskierungsmittel erhielten, und es sollten auch Urintests durchgeführt werden. Jedes Mitglied des kanadischen Teams sollte Émile 50 US-Dollar bezahlen, dafür erhielten sie Anabolika und Anweisungen zu deren Einnahme. Ein anderer Trainer von kanadischen Gewichthebern, Raphael Zuffellato, befand später, die jungen Gewichtheber seien in der Tschechoslowakei einer Versuchung ausgesetzt worden, so als hätte man »einen Alkoholiker in einer Bar eingeschlossen«.
Die Ohnmacht des Staates.
Die Untersuchungskommission unter der Leitung von Charles W. Dubin befragte 119 Zeugen, deren Aussagen auf 14817 Seiten zusammengetragen wurden. Sie sichtete unzählige Dokumente und erstellte eine 638-seitige Analyse. Der Bericht zeigte auf, dass viele Verantwortliche im kanadischen Spitzensport Doping gefördert oder aktiv weggeschaut hatten. So machte die Untersuchung klar, dass Johnson von seinem Trainer Charlie Francis Dopingmittel erhalten hatte – und dass sein Arzt, George Astaphan, die Anabolika besorgt und die Verabreichungspläne erstellt hatte.
Trotzdem untersuchte die Dubin-Kommission auch, ob Johnsons Probe in Seoul verwechselt worden war – was aber nicht der Fall war; ob die Analyse fehlerhaft war – war sie nicht; oder ob Sabotage im Spiel gewesen war – auch dafür gab es keine Hinweise.
Die Sabotagetheorie war immer wieder aufgekommen, Carl Lewis soll dahintergesteckt haben. Aber Donike erklärte alle Einwände als unbegründet. Einerseits war bei der in Seoul verwendeten neuen Analysemethode nicht nach Stanozolol gesucht worden, sondern nach einem Abbauprodukt von Stanozolol, das erst entsteht, wenn der Körper das Dopingmittel verarbeitet hat. Wenn reines Stanozolol in die Probe gemischt worden wäre, hätte daraus kein positiver Befund resultiert. Zudem zeigte Donike auf, dass Johnson ein unterdrücktes Steroidprofil hatte, mit anderen Worten: Johnson hatte nicht nur einmalig Anabolika angewendet. Donike erklärte, Stanozolol-Spuren im Urin seien abhängig von der verwendeten Dosis nach 8 bis 14 Tagen nicht mehr nachweisbar, ein unterdrücktes Steroidprofil könne aber über längere Zeit beobachtet werden.
Damit galt zweierlei. Erstens: Es hatte sich gezeigt, dass die wissenschaftliche Basis der Dopinganalytik 1988 einen großen Fortschritt gemacht hatte. Nicht nur ließ sich nachweisen, dass Stanozolol in Johnsons Körper war, sondern auch, dass Johnson über längere Zeit Anabolika genommen hatte. Damit begann die Erfolgsgeschichte der Verwendung des körpereigenen Steroidprofils in der Dopingbekämpfung als Hinweis auf mögliches Anabolikadoping. Heute bilden diese Steroidprofile einen Teil des biologischen Athletenpasses; die Dopingbekämpfer bekommen dadurch ein Hilfsmittel, um bei unterdrücktem Profil unangekündigte Kontrollen anzusetzen oder eine zusätzliche, teure und sehr empfindliche massenspektroskopische Zusatzuntersuchung durchzuführen.
Zweitens: Die Kanadier hatten ein Dopingproblem. Ausgerechnet sie, die Vorreiter im Kampf gegen Doping.
31 Jahre später sagt Paul Melia, der Anti-Doping-Kämpfer, in Ottawa: »Obwohl wir nicht genau wissen, wie viel gedopt wird, reicht es oft, wenn jemand behauptet, dass alle dopen. So entsteht beim Athleten der Eindruck, dass er nicht gewinnen kann, weil alle anderen dopen. Deshalb steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auch er damit anfängt, allen Gesundheitsrisiken zum Trotz.«
Als Johnson 1988 zu Olympiagold rannte, standen acht Läufer am Start. Sechs davon sollten in den Jahren danach des Dopings überführt werden oder ein Geständnis ablegen.
Aber: Der Fall Johnson hätte wahrscheinlich verhindert werden können – so legte es zumindest der Dubin-Bericht in seiner Akribie nahe.
Bereits 1985 waren Gerüchte aufgekommen, dass in der Trainingsgruppe von Charlie Francis an der Universität von York Anabolika verwendet würden. Glen Bogue, der damalige Manager Athlete Services des kanadischen Leichtathletikverbandes (CTFA), erhielt entsprechende Hinweise. So hatte sich die Physiognomie der Sprinterin Angella Issajenko dramatisch vermännlicht, seit sie unter Francis trainierte. Der 200-Meter-Läufer Atlee Mahon wiederum lehnte Trainings unter Francis ab, weil der Trainer mit Anabolika arbeite. Der Verdacht gegen Francis erhärtete sich, als Bogue einen Telefonanruf des Sprinters Desai Williams erhielt. Williams war ein Konkurrent Johnsons, der auch in Francis’ Gruppe trainierte, im denkwürdigen 100-Meter-Finale 1988 ebenfalls am Start stehen sollte – und der Dubin-Untersuchungskommission gestand, Anabolika verwendet zu haben. Jahre zuvor schon hatte Williams Bogue vorgeschlagen, dass er diesen informiere, wenn Francis Anabolika geliefert bekomme, damit eine überraschende Dopingkontrolle vorgenommen werden könnte. Diesen Vorschlag lehnte Wilfrid Wedemann, der damalige CTFA-Präsident, aber ab. Begründung: Ab 1. Oktober 1986 werde die CTFA ein entsprechendes Kontrollprogramm in den Trainings einführen. Letztlich führte die CTFA das Kontrollprogramm aber erst nach den Ereignissen in Seoul ein.
Eine weitere zentrale Figur im kanadischen Dopingsystem war der Arzt Astaphan, der von 1984 bis 1986 persönlich für Johnsons Dopingprogramm verantwortlich war. Nach 1986 verabreichte Francis auf Astaphans Anweisung hin neben Anabolika auch Inosin und Vitamin-B-12-Injektionen. Astaphan stimmte das Dopingprogramm auf die Trainings- und Wettkampfpläne ab, die Francis für Johnson entworfen hatte. Dabei wurden eher geringe Dosen von Anabolika verwendet, weshalb Johnson oft Wettkämpfe absolvieren konnte, ohne dabei des Dopings überführt zu werden.
Johnson war der letzte von Dubin vernommene Zeuge. Viele, die vor ihm angehört worden waren, hatten über den eigenen Dopingkonsum gesprochen. Und darüber, wie sie sich mit Johnson darüber unterhalten hätten – und von ihrer Überzeugung, dass Johnson sehr wohl gewusst habe, dass er Dopingmittel nahm. Trotzdem versuchten es die Verteidiger so darzustellen, dass Johnson Opfer gewesen sei und nie davon gewusst habe, verbotene Substanzen zu erhalten. Diese Theorie erhielt insofern Aufwind, als Trainer und Athlet, Francis und Johnson, vom Arzt Astaphan nie das Wort »Stanozolol« gehört hatten. Vielmehr hatte Astaphan stets von einer neuen, nicht nachweisbaren Substanz gesprochen: »Estragol«.
Vor der Dubin-Kommission behauptete Astaphan denn auch, dass er Johnson nicht Stanozolol, sondern »Estragol« gegeben habe. Deshalb müsse Johnson das bei ihm nachgewiesene Stanozolol durch eine andere Quelle erhalten haben. Astaphan wollte das injizierbare Steroid 1985 von einem Ostdeutschen erhalten haben, der gesagt hätte, es würde von vielen DDR-Spitzenathleten benutzt. Sie seien zudem übereingekommen, das Anabolikum »Estragol« zu nennen, um amerikanische Konkurrenten im Unklaren zu lassen. Astaphan ließ sich zudem versichern, dass die Ausschwemmzeit rund elf Tage betrage, ja, dass ein Athlet sogar einen Dopingtest nur drei Tage nach der Injektion negativ überstanden hätte. So beschloss Astaphan, »Estragol« für seine Athletinnen und Athleten anzuwenden. Er habe Francis und dessen Kollegen aber darüber informiert, dass es sich um ein Anabolikum handle.
Quasi den Status einer Kronzeugin erhielt Angella Issajenko. Die Sprinterin sagte einerseits aus, mehrmals mit Johnson über Doping gesprochen zu haben; zudem habe sie ihm 1984 während eines Trainingslagers 1984 in Guadeloupe Anabolika und Wachstumshormone gespritzt. Issajenko war es auch, die der Dubin-Kommission ein paar Ampullen mit »Estragol« aushändigte. Die Analyse zeigte, dass es sich bei »Estragol« um Stanozolol handelte.
Der Unterschied zwischen Stanozolo und Estragol? Keiner. Stanozolol war zu dieser Zeit in Kanada in Tablettenform für Anwendungen beim Menschen unter dem Namen Winstrol® im Verkauf. Stanozolol in injizierbarer Form wurde nur zur Anwendung im Veterinärbereich unter dem Namen Winstrol-V® hergestellt. Verkaufsprotokolle der Herstellerfirma Sterling Drug Ltd. zeigten, dass Astaphan zwischen 1985 und 1987 68 Ampullen (zu 30 Millilitern) und 65 Dosen Tabletten (zu 100 Stück) Winstrol-V® bestellt hatte. Astaphan sagte daraufhin, er habe diese Mittel für einen in der Tiermast tätigen Freund gekauft. Dennoch gilt es heute als erwiesen, dass Astaphan die Athletinnen und Athleten nicht nur mit Anabolika dopte, sondern dazu auch billige Veterinärprodukte verwendete. Und so beleuchtete die Aufarbeitung der Causa Johnson Abgründe der Dopingwelt, wie es kein Dopingfall zuvor getan hatte.
Die Dubin-Untersuchung schloss mit 70 Empfehlungen. Die kanadische Regierung wurde dazu aufgefordert, bei der finanziellen Unterstützung des Sports wieder vermehrt die ursprünglichen Werte des Sports im Auge zu haben und weniger die Anzahl an Medaillen bei großen Wettkämpfen.
Vieles, was in der Doping-Bekämpfung in der darauffolgenden Zeit geschah, stand im Licht des Falls Johnson. Auch in Australien trat ein großes Dopingproblem im staatlich geförderten Spitzensport zutage. Enthüllungen, dass im Flaggschiff des australischen Spitzensports, dem Australian Institute of Sport (AIS), systematisch gedopt werde, führten zur Einsetzung einer parlamentarischen Kommission unter dem Senator John Black (»The Black Report«). Die Erkenntnisse zeigten einen Mangel an Engagement von Athleten und Trainern für dopingfreien Sport und eine generelle Unlust von Sportorganisationen, eine Führungsrolle in der Dopingbekämpfung zu übernehmen.
Aber dieses Bild traf damals auch auf etliche andere Länder zu. Es lag auch an der Furcht mancher Spitzenathletinnen und -athleten, die finanzielle Unterstützung zu verlieren, falls ihre Leistungen nachlassen würden. Sowohl in Australien als auch in Kanada führten Dubins Empfehlungen zur Gründung unabhängiger Organisationen zur Dopingbekämpfung: in Kanada zum Canadian Centre for Drug Free Sport unter der Leitung von Paul Melia (heute CCES), in Australien zur Australian Sports Drug Agency (heute Australian Sports Anti-Doping Authority).
In Europa hatten die europäischen Sportminister schon Anfang Juni 1988 beschlossen, der Europarat solle in der Dopingbekämpfung eine Vorreiterrolle einnehmen und eine entsprechende Konvention verabschieden. In den Jahren zuvor hatte sich in vielen europäischen Ländern die Überzeugung durchgesetzt, dass es im Anti-Doping-Kampf eines größeren staatlichen Engagements bedurfte – aus sportethischen, aber auch aus gesundheitlichen Gründen. Es hatte aufsehenerregende Doping- und Todesfälle gegeben: 1960 war der Däne Knud Jensen gestorben, 1967 der Brite Tom Simpson, beide wegen einer Überdosis des Aufputschmittels Amphetamin, beide Radfahrer. 1968 starb der deutsche Boxer Jupp Elze, Dopingmittel hatten sein Schmerzempfinden stark eingeschränkt. Und 1987 erlag die deutsche Siebenkämpferin Birgit Dressel einem toxisch-allergischen Schock, ausgelöst durch eine Vielzahl eingenommener Medikamente, darunter auch zwei Anabolikapräparate. Gerade Simpsons Tod am mythischen Tour-de-France-Berg Mont Ventoux gilt bis heute als frühes Mahnmal der Zerstörungskraft von Doping.
1984 beschlossen die europäischen Sportminister die Verabschiedung der »Europäischen Charta gegen Doping im Sport«, die das IOC unterstützte und zu einer Internationalen Olympischen Charta ausbaute. Für die Arbeiten an einer Konvention des Europarats hatte der Fall Johnson einen beschleunigenden Effekt. Schon am 1. Juni 1989 nahm das zuständige Gremium des Europarates einen Konventionstext an und veröffentlichte ihn; am 1. März 1990 erhielt die »Europäische Konvention gegen Doping« ihre Gültigkeit – als erstes internationales Anti-Doping-Abkommen mit Gesetzeskraft. Als Hauptziele galten die Verminderung und – wenn möglich – Eliminierung von Doping im Sport, die innerstaatliche Koordination der Dopingbekämpfung und die zwischenstaatliche Harmonisierung der Bekämpfungsmaßnahmen.
Die Folgen des Falls Ben Johnson für die Schweiz
Als 16. Land ratifizierte die Schweiz die Europaratskonvention, zum 1. Januar 1993 trat sie in Kraft. Damit übernahm der Bund wesentliche Verantwortung im Anti-Doping-Kampf und stockte die finanziellen Mittel signifikant auf. Daraufhin wurde in der Schweiz das sogenannte »3-Säulen-Prinzip in der Dopingbekämpfung« mit Kontrollen, Prävention und Forschung eingeführt. Für die Kontrollen war wie bisher der privatrechtliche Sport verantwortlich (und wurde ab 1993 mit zusätzlichen finanziellen Mitteln des Bundes unterstützt), für die Prävention und Forschung stand neu die Eidgenössische Sportschule in Magglingen (heute Bundesamt für Sport BASPO) in der Pflicht.
Was der Fall Ben Johnson in der Schweiz ebenfalls bewirkte: eine Veränderung des Analyseverfahrens von Dopingproben. Von 1967 bis 1988 war das Magglinger Labor für die Analytik der Dopingproben in der Schweiz verantwortlich gewesen, so auch beim Leichtathletik-Meeting »Weltklasse Zürich« vom 17. August 1988. Bei dieser Veranstaltung waren Johnson und Carl Lewis also schon gut einen Monat vor dem olympischen 100-Meter-Finalrennen aufeinandergetroffen. Es war das erste Johnson-Lewis-Duell seit fast einem Jahr. Johnson verursachte zuerst einen Fehlstart, im zweiten Versuch beendete er das Rennen in Zürich als Dritter, hinter dem Sieger Lewis und Calvin Smith.
Mehrere Wochen vergingen, Johnson flog in Seoul auf, bis die Schweizer im Oktober die Analyse-Unterlagen einer bestimmten Probennummer zwecks Überprüfung dem Internationalen Leichtathletikverband (IAAF) aushändigen mussten. Manfred Donike, der Leiter des Kölner Anti-Doping-Labors, begutachtete die Unterlagen, fand aber keine Fehler, die Probe war negativ. Zudem bestätigte Donike die Vermutung der Schweizer, dass es sich beim überprüften Test um die Probe von Johnson gehandelt hatte. Trotz fehlerfreier Arbeit reifte im Magglinger Labor die Erkenntnis, dass es mit der damaligen Ausrüstung immer schwieriger und aufwändiger würde, neuartige Anabolika wie Stanozolol nachzuweisen oder ein verlässliches Steroidprofil zu erstellen. Wohl war in Magglingen ein hochauflösendes Massenspektrometer vorhanden, das 1987 von der Universität Basel übernommen worden war; es handelte sich aber eher um ein Gerät für Forschungszwecke, das nicht für die Routineanalytik taugte. Die Anschaffung von routinetauglichen, kleineren Gaschromatographen — gekoppelt mit einem Massenspektrometer — lehnte der Schweizer Sport als zu teuer ab. Dieser Entscheid und die Diskussionen um die zukünftig geforderten höheren Qualitätsansprüche bewogen die Schweizer dazu, per Ende 1988 die Akkreditierung des Labors an das IOC zurückzugeben. Danach untersuchte bis 1992 das Labor in Köln die Schweizer Dopingproben, ab März 1992 übernahm diese Arbeit das Laboratoire Suisse d’Analyse du Dopage an der Universität Lausanne.
Die Ausgestaltung der Konvention fiel mit dem Zusammenbruch des Ostblocks zusammen. Etliche osteuropäische Staaten mussten auch ihr Sportsystem neu aufbauen. Der Europarat versuchte mit Netzwerken und Vermittlung von Experten zu helfen. So ratifizierten bis 1997 die meisten ehemaligen kommunistischen Länder die Europaratskonvention gegen Doping und gingen damit die Verpflichtung ein, Doping zu bekämpfen.
Als zugewandte Länder traten sogar Australien und Kanada dieser Europaratskonvention bei. Und die Schweiz? Auch sie beschloss die Ratifizierung – und 1992 die Einführung einer Doping-Untersuchungskommission.
Alles gut also im Anti-Doping-Kampf, global, national?
Wie sagte Melia im Sommer 2019 in Ottawa: »Für unser Kontrollprogramm genossen wir stets große Unterstützung. Aber dafür, die Werte der Jugendlichen so zu entwickeln, dass sie vor den Versuchungen des Dopings bis ins Erwachsenenalter geschützt sind, dafür, unsere Ideen umzusetzen und die wahren Werte des Sports zu schützen – dafür hatten wir nie den vollständigen Support.«