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Fall Günthör »Ich finde, ich hielt mich immer an die Regeln«

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Fall: Werner Günthör, Leichtathlet

Zeit: 1988 bis 1993

Land: Schweiz

Relevanz: Es geht um die im gesamten deutschsprachigen Raum geführte Diskussion betreffend Abgrenzung von Therapie, Substitution und Verbot von Dopingmitteln — und um die Frage, ob ein Einsatz von Dopingmitteln erlaubt ist, wenn er nicht nachweisbar ist, etwa wegen fehlender überraschender Kontrollen außerhalb der Wettkämpfe.

Rolle von Matthias Kamber? Er gehört zur Doping-Untersuchungskommission (DUK), die 1992 mit der Aufarbeitung der Doping-Vorwürfe gegen Günthör beauftragt wird. Weitere Kommissionsmitglieder sind der Medizinprofessor Max Hess, der Rechtsanwalt Hans Bodmer und der Hormonspezialist Gérald Theintz.

21. Januar 1993, Gesprächsbeginn: früher Abend. Es war ein Gespräch der Doping-Untersuchungskommission (DUK), die in der Schweiz gegründet worden war, nachdem der Kugelstoßer Werner Günthör wiederholt mit Dopingvorwürfen konfrontiert worden war. Günthör war von der DUK zu einem Gespräch eingeladen worden, ebenso Jean-Pierre Egger, sein Trainer, und Bernhard Segesser, sein Arzt. Zudem: Georges Kennel, der Präsident der Fachkommission für Dopingbekämpfung, Heinz Keller, der Direktor der Eidgenössischen Sportschule in Magglingen (ESSM), sowie Hans Howald, der ehemalige Leiter des Forschungsinstituts der ESSM. Die Gespräche fanden zwischen dem 21. Januar und dem 23. Februar 1993 statt. Und die Person, die am frühen Abend des 21. Januar Rede und Antwort stand, sagte etwa, heute sei es bereits suspekt, wenn man bloß das Wort Hormone verwende. Und es sei störend, wenn andere Sportler wie X, Y oder Z nach Dopingvergehen anders behandelt würden. Und sowieso: Doping sei in der Schweiz ein eher kleines Problem.

Die Person nannte X, Y, Z namentlich. Aber darum geht es nicht. Sondern vielmehr darum, wie sehr das Dopingproblem relativiert und mit Fingern auf andere gezeigt wurde. Es war der Zeitgeist.

Begonnen hatte diese Geschichte in Deutschland drei Jahre zuvor. »Das Zeug hat mich wild gemacht«, titelte das Magazin »Der Spiegel« Ende März 1990. Der Artikel zeigte auf, wie Mediziner, Trainer und Athleten in der Bundesrepublik manipulieren, der Titel bezog sich auf einen Ringer, der sechs Monate lang fast täglich Testosteron habe schlucken müssen – auf Anweisung des Trainers. Es hieß auch, an fast allen sportmedizinischen Instituten Deutschlands werde nach Dopingmitteln geforscht, nicht zuletzt als Folge des Mauerfalls und der nun öffentlichen Erkenntnis, dass in der damaligen DDR systematisch Anabolika verwendet worden waren. Viele ehemalige ostdeutsche Trainer und Mediziner erhielten im neuen deutschen Sportsystem eine Beschäftigung, obwohl deren Dopingvergangenheit nicht aufgearbeitet worden war. Auch Manfred Donike, der Anti-Doping-Pionier, geriet plötzlich in die Kritik, der »Spiegel« schrieb ihm eine »dubiose Rolle zwischen Gehilfe und Polizist« zu, was »wohl auch systembedingt« sei – »für seine Dopingjagd wird er mit öffentlichen Mitteln ausgestattet. Gleichzeitig aber sind ihm auch Privatliquidationen erlaubt.« Es sollte eine Diskussion für Jahrzehnte sein: die Finanzierung des Anti-Doping-Kampfs.

Der »Spiegel« erwähnte zudem die Namen dreier Kugelstoßer, die angeblich Anabolika verwendeten: die Deutschen Kalman Konya und Claus-Dieter Föhrenbach – sowie Günthör. Diese Behauptung stützte sich auf eine Magisterarbeit des Studenten Norbert Wolf an der Universität Heidelberg; der »Spiegel« schrieb, betreffend Anabolika habe Günthör 1988 eine »durchschnittliche Dosierung von etwa 12 bis 15 Milligramm« gehabt. Wolf relativierte seine Erkenntnisse umgehend, dem »Blick« sagte er: »So, wie es im ›Spiegel‹ steht, war es nicht gemeint.« Aber der Wirbel war entfacht, denn Günthör zählte zu den Aushängeschildern der Schweizer Leichtathletik – Weltmeister 1987.

Günthörs Arzt, Bernhard Segesser, gab später öffentlich zu, Günthör mehrmals mit Anabolika behandelt zu haben, als »medizinische Maßnahme«, »zu therapeutischen Zwecken«, wie es Anfang Mai 1990 in der »Berner Zeitung« hieß. So habe er Günthör im Winter 1988 nach einer Knieoperation während dreier Wochen Anabolika gegeben, aber auch im Mai 1988, für die Beschleunigung eines Heilungsprozesses vor den Olympischen Spielen in Seoul, bei denen Günthör Bronze gewann. Günthör selber sagte: »Ja, ich habe teilweise über die Art der Kuren Bescheid gewusst. Da es sich um therapeutische Maßnahmen handelte, fand ich es unnötig, darüber zu reden.«

Tatsache ist: Anabolika sind seit 1976 generell verboten, im Wettkampf wie auch außerhalb des Wettkampfes – und auch aus sogenannter therapeutischer oder medizinischer Notwendigkeit sind sie nicht erlaubt.

Aber die Gefahr eines positiven Dopingtests aufgrund Segessers Behandlung war 1988 gering; das Dopingstatut des Schweizerischen Landesverbands für Sport (SLS) trat erst am 1. Januar 1990 in Kraft, vorher gab es in der Schweiz keine Kontrollen außerhalb des Wettkampfes. Segessers Eingeständnis hätte auch nach den damaligen Anti-Doping-Regeln zu einer Sperre Günthörs führen müssen – aber weder die nationalen Instanzen noch der Internationale Leichtathletikverband leiteten eine Untersuchung ein. Wenn kein positiver Test vorlag, fühlte sich keine Instanz verpflichtet, etwas zu unternehmen. Auch hier: unklare Reglemente und Verantwortlichkeiten – der Zeitgeist. In dieser Hinsicht unterschied sich die Schweiz nicht von anderen Ländern. In Kanada war nichts unternommen worden, als 1985 Gerüchte zirkulierten, in der Gruppe von Ben Johnsons Trainer Charlie Francis würden Anabolika verwendet. Und in der Schweiz blieb Günthör unbehelligt.

Bei den Weltmeisterschaften 1991 sicherte er sich zum zweiten Mal Gold.

Auch vor den Olympischen Sommerspielen 1992 gehörte Günthör zum Favoritenkreis – aber wenige Tage vor dem Wettkampf wiederholte der »Spiegel« die Vorwürfe des Anabolikadopings. In der Ausgabe vom 27. Juli 1992 hieß es: »Im Kugelstoßring trifft sich die Doping-Elite. Der Favorit, der Schweizer Werner Günthör, wurde mit Wissen der Funktionäre stark gemacht.« Von einem »Geheimbund aus Ärzten und Funktionären« wurde geschrieben; der Artikel stellte eine Verknüpfung mit der Eidgenössischen Sportschule her – deren »angesehenes Forschungsinstitut« sei an Günthörs »Anabolikakur beteiligt« gewesen.

21. Januar 1993, ein anderes Gespräch vor der DUK: Die eingeladene Person war gefragt worden, ob zwischen 1988 und 1990 konkrete Maßnahmen betreffend Günthör getroffen worden seien. Die Antwort: Derlei Schritte – etwa rückwirkende Strafen gegen Segesser oder Günthör – hätten nicht angemessen gewirkt. Damals seien die Europaratskonvention gegen Doping und das Dopingstatut des SLS forciert worden, was Anstrengung genug gewesen sei. Und: Weil Günthör nie positiv getestet worden sei, habe der Staat keine Handhabe gehabt, um einzuschreiten.

Nicht nur der Zeitgeist also? Auch die Ohnmacht des Staats?

Auf Medienkonferenzen vor den Olympischen Spielen 1992 wollten vor allem deutsche Journalisten von Günthör wissen, wie oft er in den letzten Monaten im Training kontrolliert worden sei. Stets musste er zugeben, nie getestet worden zu sein, weil er nicht ausgelost worden war. In der Tat wurden in der Schweiz damals alle Kontrollen außerhalb der Wettkämpfe unter notarieller Aufsicht ausgelost. Dieses Verfahren war dem Willen nach absoluter Fairness gegenüber den Athletinnen und Athleten geschuldet; es sollten keine Diskussionen aufkommen über Bevorzugung oder eben Nicht-Bevorzugung. Im Rückblick ist klar, dass gerade in der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele die Athletinnen und Athleten mehrmals überraschend hätten getestet werden sollen; aber dafür fehlten der zuständigen Fachkommission für Dopingbekämpfung (FDB) die reglementarischen Mittel. Vor unangemeldeten Kontrollen waren die Schweizer Athletinnen und Athleten weiterhin gefeit. Wer ausgelost war, hatte innerhalb von drei Tagen bei einem regionalen Abnahmezentrum zu erscheinen. Auch darin zeigt sich, wie sehr der Anti-Doping-Kampf damals am Anfang stand. Ein weiteres Beispiel: Der FDB-Präsident Kennel stand auch dem Schweizerischen Leichtathletikverband vor, womit grundsätzlich die Möglichkeit eines Interessenkonflikts vorlag.

Der Zeitgeist.

Den Kugelstoß-Wettkampf bei den Olympischen Spielen in Barcelona beendete Günthör auf dem vierten Platz. Auf Platz eins und zwei lagen die Amerikaner Mike Stulce und Jim Doehring, zwei Athleten, die der »Spiegel« ebenfalls mit Doping in Verbindung gebracht hatte.

Als Reaktion auf die wiederholten Anschuldigungen gegen Günthör, dessen Umfeld und »Magglingen« setzten die Verantwortlichen des privatrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Schweizer Sports am 2. September 1992 die DUK ein; die Leitung übernahm der Berner Medizinprofessor Max Hess. Die DUK hatte den Auftrag, die Vorwürfe aus den »Spiegel«-Artikeln zu untersuchen und etwaige Verbesserungsmaßnahmen für die Dopingbekämpfung vorzuschlagen. Aufgrund der damaligen rechtlichen Grundlagen hatte die DUK den Status einer Sonderkommission, aber keine strafrechtlichen Kompetenzen. Die Zusammenarbeit mit der DUK erfolgte auf freiwilliger Basis, die DUK hatte keine Befugnis, jemanden zur Aussage zu zwingen. Eine Untersuchung wie in Kanada (»Dubin Report«) oder Australien (»The Black Report«) war nicht möglich.

Deshalb gestaltete sich auch die Zusammenarbeit mit den damals führenden Doping-Aufdeckern als schwierig, mit dem deutschen Ehepaar Brigitte Berendonk und Werner Franke. Die beiden wiesen darauf hin, sie besäßen Angaben über Dopingpläne beziehungsweise regelmäßige Dopingaktionen Günthörs, die als Therapie getarnt worden seien – und von denen mehrere Personen wüssten. In einem Brief vom November 1992 an den DUK-Leiter Hess schrieb der Anwalt von Berendonk und Franke, dass die beiden die Namen ihrer Informanten auch weiterhin schützen, die Unterlagen aber gegebenenfalls vor Gericht vorlegen würden.

Auch ein persönliches Gespräch von Hess mit Berendonk und Franke am 22. Februar 1993 in Heidelberg führte zu keinen weiteren konkreten Ergebnissen. Nach dem Besuch in Heidelberg verfasste Hess einen Bericht, der sich wie eine Reisereportage las. So bemerkte er, dass er auf das abgemachte Gespräch habe warten müssen, da die Eheleute Berendonk und Franke ein Basketballspiel ihres Sohnes angeschaut hätten. Inhaltlich warf Hess’ Bericht durchaus den einen oder anderen interessanten neuen Aspekt auf, etwa dass ein Journalist Informationen habe über Abmachungen, dass bei den internationalen Leichtathletikmeetings in Zürich bei gewissen Spitzenathleten keine Dopingtests durchgeführt würden. Doch was brisant klang, verlief im Sande. Auf einen Brief an den betreffenden Journalisten erhielt Hess keine Reaktion.

29. Januar 1993, ein weiteres Gespräch vor der DUK: Die eingeladene Person war damit konfrontiert worden, dass französische Athleten eine Charta unterschreiben würden, wonach sie sich nie dopen würden. Der Gesprächspartner sagte, er sei mehr Realist als Idealist – eine solche Regelung würde für große Wettkämpfe nicht funktionieren, denn heute herrsche das Gesetz des Dschungels. Und: Ohne Doping wäre die Spitze sehr schmal, es gebe sogar Eltern, die Dopingsubstanzen für ihre Kinder verlangen würden. Der Wunsch: die Teilnahme an Großveranstaltungen.

Laut Schlussbericht vom 27. Mai 1993 fand die DUK einerseits keine Anhaltspunkte für die Behauptung, in der Schweiz existiere ein »Geheimbund aus Ärzten und Funktionären«, der Dopingpraktiken schütze und vertusche. Andererseits kam sie zu dem Fazit, dass in der »therapeutischen« Verabreichung von Anabolika durch Segesser vor 1989 ein Verstoß gegen die damals gültigen nationalen und internationalen Reglemente vorgelegen habe, da die Dopingbestimmungen keinerlei Ausnahmen bezüglich der Verabreichung verbotener Substanzen vorsahen. Derlei Anabolikabehandlungen hätten auch im sogenannten Therapiefenster keinen Platz gefunden, das zum 1. Januar 1990 im Rahmen des neuen Dopingstatuts des SLS eingeführt worden war.

Die Meinungsverschiedenheiten halten bis heute an. In einem Buch von 2019 sagt Segesser: »Ich garantiere, dass ich nie einen Sportler leistungsmäßig manipuliert habe. (…) Es ging mir immer darum, dass ein Athlet so schnell wie möglich und so fit wie vor der Verletzung auf die große Bühne zurückkehren konnte.« Segesser räumt ein, Günthör fünfmal mit Anabolika behandelt zu haben, »dabei auch nach einer Diskushernie-Operation Mitte der achtziger Jahre. (…) Es ging bei Werner immer darum, ihn von der Regenerations- oder Rehabilitationsphase wieder auf das Niveau von vorher zu bringen. Um nichts anderes.« Auch in der »Basler Zeitung« vom 30. März 2019 sagte Segesser, die Abgabe von Anabolika sei »für uns kein Doping« gewesen, »sondern gezielte Rehabilitation in einem therapeutischen Fenster, das vom Verband und vom Nationalen Komitee für Elitesport abgesegnet war«.

Dem Therapiefenster haftete etwas Pionierhaftes an – aber es entpuppte sich als Zankapfel. Bei der Einführung 1990 war klar geregelt worden, dass ein Athlet oder eine Athletin innerhalb von 24 Stunden Meldung an die FDB zu erstatten hatte, wenn vom Arzt eine Therapie mit einer dopinghaltigen Substanz verordnet worden war. Ein unabhängiges Gremium von Ärztinnen und Ärzten der FDB entschied daraufhin, ob diese Therapie angemessen war. Zudem war die betroffene Athletin oder der Athlet während der Therapiedauer nicht wettkampffähig. Falls ein Formular nicht oder zu spät einging und eine Kontrolle außerhalb der Wettkämpfe die betreffende verbotene Substanz anzeigte, galt die Probe als positiv.

Die zuständigen Ärztinnen und Ärzte der FDB hatten in der Zeit, in der das Therapiefenster galt, nur wenige Fälle zu behandeln. Insbesondere handelte es sich um Fälle der Anwendung von entzündungshemmenden Medikamenten, deren Verabreichung teilweise verboten war, teilweise nicht. Anträgen zur Anwendung von Anabolika zu therapeutischen Zwecken wären aber nie stattgegeben worden; auch eine nachträgliche Meldung wäre nicht gebilligt worden.

Dessen ungeachtet stellt sich Günthör bis heute auf den Standpunkt, dass die Behandlung rechtens war. Zu einem Gespräch für dieses Buch war Günthör nicht bereit; »es ist alles geschrieben und gesagt, ich möchte keinen Kommentar abgeben«, sagte er im November 2019 am Telefon. In einer Sendung des Schweizer Fernsehens vom August 2019 indes hatte Günthör gesagt: »Früher gab es das sogenannte Dopingfenster, bei dem man Möglichkeiten hatte zu sagen: Der Athlet hat ein Problem – wie darf man, wie kann man ihn behandeln? Es war eine Zeit, in der das halt möglich war. Und dann nutzt man natürlich die Möglichkeit aus, wenn man das darf.«

Verschiedene Stimmen aus Ärztekreisen äußerten sich immer wieder gegen das Therapiefenster, eher unterschwellig als konkret, weil es die ärztliche Entscheidungsfreiheit und Persönlichkeitsrechte zu stark einschränke. Zudem hieß es, die Therapiemöglichkeit mit Dopingsubstanzen erschwere die ohnehin bereits schwierige Grenzziehung zwischen erlaubter Therapie, Substitution und Doping. Unter Substitution verstand man damals die Verwendung von Anabolika unter ärztlicher Aufsicht. Durch den großen Trainings- und Wettkampfumfang sinkt als natürliche Reaktion die körpereigene Hormonproduktion. Verschiedene Ärzte argumentierten, dass diese erniedrigten Hormonspiegel Zeichen einer Krankheit seien, die therapiert werden müsse. Mit Anabolika eben. Die Einwände gegen das Therapiefenster ließen allerdings außer Acht, dass damit eine höhere Transparenz geschaffen worden war. Doch letztlich führten die Kritiken dazu, dass das Therapiefenster auf Empfehlung der DUK 1994 wieder aus dem Dopingstatut gestrichen wurde.

Das Therapiefenster gilt aber als eigentlicher Vorläufer der 2004 durch die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) eingeführten Medizinischen Ausnahmegenehmigungen (Therapeutic Use Exemption TUE), weil die Frage nach Therapien mit Dopingsubstanzen latent und unausgesprochen bestehen blieb. Es gab wenige Länder oder Sportverbände, die klare Richtlinien hatten, die meisten folgten ungeschriebenen Regeln – oder hatten gar keine Regeln. Erst mit dem Erarbeiten des Welt-Anti-Doping-Codes entstanden 2004 Vorschriften zur weltweiten Harmonisierung medizinischer Anwendungen mit Dopingmitteln.

Neben der Zusammenfassung der Erkenntnisse aus den Gesprächen gab die DUK neun Empfehlungen ab. Unter anderem machte sie klar, dass die Unterstellung der FDB unter den Schweizerischen Landesverband (SLS) fragwürdig sei. Beispiele aus anderen Ländern wie Kanada, Norwegen oder Australien zeigten die Vorteile einer umfassenden Dopingbekämpfung durch wirklich unabhängige Instanzen, die von privatrechtlichen und staatlichen Organen gemeinsam getragen würden. Es dauerte aber bis zum 1. Juli 2008, bis die unabhängige Stiftung Antidoping Schweiz ihre Tätigkeit aufnahm.

Eine andere Empfehlung betraf die Gründung einer zentralen Strafbehörde für Dopingfälle, die, von den einzelnen Sportverbänden unabhängig, als erste Instanz Dopingfälle beurteilen sollte. Demzufolge wurde 2002 die Disziplinarkammer für Dopingfälle von Swiss Olympic geschaffen; sie ist bis heute in der Schweiz erstinstanzlich aktiv. Ein Weiterzug der Urteile an das Internationale Sportschiedsgericht in Lausanne (CAS) ist durch die betroffenen Sportreibenden, deren Sportverbände oder die WADA möglich.

In der TV-Sendung vom August 2019 sagte Günthör auch: »Früher durften Sie auf der Autobahn 200 fahren, und Sie sind es gefahren. Heute darf man noch 120 – waren Sie jetzt eine Raserin oder nicht? Das wäre ja an und für sich die Frage. Rückblickend kann man sagen: Es war korrekt, und heute ist eine andere Zeit. Von dem her ist es ganz, ganz schwierig. Aber man kann so oder so denken. Ich finde, ich hielt mich immer an die Regeln.«

Die Regeln des Zeitgeists.

Bis heute haben nur sieben Männer die Kugel jemals weiter gestoßen als Werner Günthör, und seit Günthörs bestem Stoß, 1988 in Bern, 22 Meter 75, war für lange Zeit nur noch einer besser, Randy Barnes. Der Amerikaner wurde zweimal des Dopings überführt und nach dem zweiten Verstoß lebenslang gesperrt. Am 5. Oktober 2019 aber übertrafen Günthörs Marke gleich drei Kugelstoßer: Bei den Weltmeisterschaften in Doha schaffte der Amerikaner Joe Kovacs 22,91 m, sein Landsmann Ryan Crouser stieß die Kugel auf 22,90, der Neuseeländer Tomas Walsh ebenso. Die drei hatten schon bei den Olympischen Spielen 2016 gemeinsam auf dem Podest gestanden, damals Crouser vor Kovacs und Walsh. Und wie sagte Crouser einmal: »Es ist wirklich etwas Spezielles, so viele saubere Athleten zu haben, die so weit werfen.«

Es klang, als hätte es all die Diskussionen der früheren Generationen nie gegeben; als wäre es heute ganz einfach, zwischen sauber und nicht sauber zu unterscheiden.

TUE – das Leben in Grauzonen

Nicht anders als das einstige Schweizer Therapiefenster löst die heute weltweit gültige Regelung der Therapeutic Use Exemption (TUE) immer wieder Diskussionen aus. Am meisten Aufsehen erregte eine Hacker-Aktion 2016, die zur Veröffentlichung der Ausnahmegenehmigungen internationaler Spitzensportler führte, etwa der Kunstturnerin Simone Biles, des Diskuswerfers Robert Harting oder der Tennisspielerinnen Venus und Serena Williams. Sie nahmen allesamt verbotene Medikamente, allerdings medizinisch bedingt, ärztlich beglaubigt und von einer unabhängigen TUE-Kommission abgesegnet. Biles erklärte beispielsweise, sie habe eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), die sie seit Kinds-tagen medikamentös behandle, offensichtlich mit Wirkstoffen, die auf der Dopingliste stehen (Stimulanzien). Die TUE-Regelung erlaubt betroffenen Athletinnen und Athleten sowohl eine Therapie als auch die Teilnahme an Wettkämpfen. Für die Bewilligung einer TUE müssen Sporttreibende mehrere Voraussetzungen erfüllen, etwa: dass sie das verbotene Mittel für die Behandlung einer akuten oder chronischen Krankheit benötigen; dass die Substanz höchstwahrscheinlich keine zusätzliche Leistungssteigerung bewirkt; dass es keine angemessenen Behandlungsalternativen gibt. Trotz der klaren Regelung entstanden immer wieder Unklarheiten. Von Bradley Wiggins, dem Tour-de-France-Sieger 2012, hieß es etwa, er habe die TUEs mehrmals erst kurz vor der dreiwöchigen Rundfahrt beantragt. Weil die entsprechenden Substanzen die Bronchien erweitern, ist es gerade im Ausdauersport (Ski-Langlauf, Rad) verbreitet, dass Athletinnen und Athleten TUEs wegen Asthma beantragen, obwohl sie kein Asthma haben.

Seit 2012 sind die gängigsten Asthmamittel zur Inhalation bis zu einer bestimmten Menge ohne TUE erlaubt — und sie werden generell rege benutzt. Die norwegische Delegation, 121 Personen groß, reiste 2018 mit 6000 Dosen Asthmamittel zu den Olympischen Winterspielen 2018 in Pyeongchang. Aber jede Sportnation hat ihren Umgang mit dem Leben im Graubereich. Beat Villiger, der damalige Chief Medical Officer von Swiss Olympic, sagte im Frühling 2008: »Man macht nichts, das verboten ist, und man macht nichts, das Athleten schadet. Andererseits ist es als Arzt von Spitzensportlern falsch, die Grauzonen nicht auszunutzen, wenn es darum geht, die Leistung zu verbessern. Natürlich gibt man Spitzensportlern aus Zeitgründen gelegentlich etwas, wo man bei einem normalen Menschen den natürlichen Heilungsverlauf abwarten würde.«

Der vergiftete Sport

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