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Effata – öffne dich Kapitel 1: das Land der Sicherheit
ОглавлениеEs war einmal oder es war keinmal, wer weiß das schon so genau, ein Geschwisterpaar, Ariko und Jorinda. Sie waren ganz normale Kinder, wie viele auf der weiten Welt. Sie hatten Eltern, sie gingen zur Schule, manchmal gerne, vor allem zum Sportunterricht. Oft fanden sie den Schulalltag auch langweilig und anstrengend, wenn sie irgendeine Arbeit schreiben mussten. Sie pflegten Hobbys wie Reiten und Schwimmen, spielten Blockflöte oder Geige, besaßen einen liebenswerten Patenonkel und eine nette Patentante. Also, eigentlich nichts Nennenswertes, jedenfalls nicht so besonders, als dass es sich lohnen würde, davon zu berichten. Dennoch möchte ich euch von den beiden erzählen, weil sie, im Unterschied zu allen anderen Kindern auf der Welt, einmal in ihrem Leben etwas Außergewöhnliches erlebten. Und das spielte sich so ab.
Ariko und Jorinda machten sich wie immer gemeinsam auf den Weg zur Schule. Unterwegs kamen sie an einer merkwürdigen Mauer vorbei. In dieser waren vier Türen aus Holz eingelassen. Niemals kam dort jemand heraus und niemals ging jemand hinein. Das machte ja auch keinen Sinn, denn hinter dieser Wand befand sich kein Haus. Auf der Rückseite der Mauer gab es die gleichen vier Türen aus Holz. Am oberen Rand stand ein Wort geschrieben, das die beiden nicht verstanden. Es hieß „Effata“, und auf jeder Tür war ein Schild angebracht. Auf dem ersten Schild stand: »Land der Sicherheit«, auf der zweiten Tafel: »Land der Freude«; auf dem dritten Schild: »Land des Segens« und auf dem Vierten und Letzten: »Land der Erwartung«. Die Mauer stand schon so lange in dieser Straße, so dass sie keinem mehr auffiel. Auch die alten Leute wussten nichts über dieses seltsame Bauwerk. Welchem Zweck diente sie? Wem gehörte sie? Man konnte nur sehen, dass die Mauern und Türen uralt waren und sich nicht öffnen ließen.
Eines Morgens hörte Ariko in der Schule im Religionsunterricht die Geschichte aus der Bibel, in der Jesus einen Taubstummen heilte. Dabei sprach er das magische Wort aus: »Effata – öffne dich«. „Aha“, dachte sich Ariko, „das ist also des Rätsels Lösung von der Mauer. Effata heißt: Öffne dich.“ Und weil er gerne Detektivgeschichten las, fing er an, in der Religionsstunde davon zu träumen, wie er das Geheimnis der vier Türen entschlüsselt hatte. In seinen Bildern erschien ein unermesslich großer, unsichtbarer Schatz. Leider konnte er die Geschichte nicht zu Ende träumen, da Frau Heitmann, seine Lehrerin, ihn aufrüttelte, nachdem sie ihn drei Mal etwas gefragt hatte. Doch dieser peinliche Augenblick war nach der Schule schnell vergessen, während er auf seine Schwester Jorinda wartete. Als sie erschien, machten sie sich gemeinsam auf den Weg. „Effata heißt öffne dich“, lautete sein erster Satz. „Na und, wofür ist es gut, das zu wissen?“ fragte Jorinda ziemlich genervt, weil sie sich gerade mit ihrer Freundin gestritten hatte. „Erinnerst du dich denn nicht an das Wort auf der eigenartigen Mauer – Effata?“ „Ach so, das meinst du! Und jetzt, was willst du damit anfangen?“ „Frau Heitmann hat uns heute vom Taubstummen erzählt. Als Jesus das Wort »Effata« sagte, gingen dem Tauben die Ohren auf und er konnte wieder hören. Stell dir mal vor, wir stehen vor einer der Türen und sagen genau dieses Wort, was denkst du wohl, wird da passieren?“ „Wir werden es nur wissen, wenn wir es ausprobieren“, lautete Jorindas praktische Antwort und beschleunigte ihre Schritte, so dass Ariko ihr kaum folgen konnte. Als sie die Mauer erreichten, hielten sie atemlos an. Ungeduldig fragte Jorinda: „Nun, welche Tür zuerst?“ „Man fängt immer mit der ersten Tür an“, entgegnete ihr Bruder, „das ist in jedem Märchen ein ungeschriebenes Gesetz. Also hier – Land der Sicherheit. Wir beide gemeinsam auf Kommando: eins, zwei, drei! „Effata!“ So deutlich, wie sie es nur sagen konnten, sprachen sie das Wort aus. Und siehe da, es drehte sich der Knauf der Tür und es machte leise Klick. Nach den vielen Jahren, in denen keiner die Tür geöffnet hatte, ließ sie sich nur schwer aufstemmen. Ariko und Jorinda mussten all ihre Kräfte zusammennehmen, doch schließlich schafften sie es. Und was befand sich hinter der Tür? Sie vermuteten dort ihre bekannte Wiese, erblickten jedoch eine ihnen fremdartig scheinende Landschaft. Von der Tür aus führte ein langer Weg immer nur geradeaus. Links und rechts des Weges sahen sie einen hohen Zaun aus Stacheldraht, der mit Hecken so bepflanzt war, so dass man dahinter nichts erkennen konnte. Der Himmel sah grau aus und der Weg wirkte überhaupt abweisend und unfreundlich.
„Sollen wir wirklich?“ fragte Ariko ängstlich. „Na klar, du bist doch immer der tapfere Abenteurer, der Pirat und Cowboy spielen will. Jetzt zeig mal, was du drauf hast.“ Bei diesen Worten machte sich Jorinda fast einen halben Kopf größer und schlüpfte durch die Tür hindurch auf den gepflasterten Weg. Und Ariko direkt hinterher. Kaum hatte er den Weg betreten, ging wie von magischer Hand die Tür zu, so dass die beiden erschraken. Denn von dieser Seite gab es kein zurück mehr. Die Tür besaß keinen Griff und kein Schloss und ließ sich nicht mehr öffnen. „Was machen wir jetzt?“ fragte Ariko, dem das Herz wieder einmal in die Hose rutschte. Jorinda ließ sich als ältere Schwester die Angst nicht anmerken und fasste einen mutigen Entschluss. „Da müssen wir durch. Der Weg führt immer geradeaus. Vielleicht kommen wir ja an das Ende der Straße oder der Stadt und hinten gibt es einen Ausgang. Folge mir! Bevor wir uns hier die Beine in den Bauch stellen, gehen wir lieber los.“
Gesagt, getan. Ariko und Jorinda machten sich auf den Weg in das Land, das den Namen »Sicherheit« trug. Die hohen Zäune, die sie sahen, sagten alles. Die Menschen dahinter mussten große Angst haben vor irgendetwas. Entlang des Weges gab es kein einziges Tor. Nur Zäune und dichte Hecken, ohne Unterbrechung. Sie gingen fast eine Stunde, während sich gar nichts veränderte. So langsam wurde es den beiden unheimlich. Sie konnten kaum etwas hören. Kein Wind, kein Vogelgezwitscher, keine Stimme ertönte von der anderen Seite der Hecken her. Doch umkehren, dazu war es jetzt zu spät. Eine Weile danach standen sie auf einmal an einer Abzweigung. Links und rechts und auch geradeaus immer das gleiche Bild. Aber auf der Kreuzung, sie konnten es kaum glauben, sahen sie einen abgesägten Baum, der sich in der Mitte spaltete. Der Stumpf war knorrig und sah uralt aus. Dennoch fand die Sonne durch die grauen Wolken hindurch einen kleinen Spalt und beschien das Innere des Stammes. Und als Ariko und Jorinda staunend näher traten, entdeckten sie, dass aus dem Baumstumpf eine rote Rose wuchs. Noch hatte sich die Blüte nicht geöffnet, aber man konnte sehen, dass sie sich bald in voller Pracht entfalten würde. „Welch ein Wunder in diesem angsterfüllten Land“, sagte Ariko, und seine Schwester rief entzückt: „Ach, bist du eine schöne Rose, die wunderbarste, die ich je gesehen habe!“
„Ja? Findest du?“ kam eine zaghafte Stimme aus dem Baumstumpf. Nein, sie verhörten sich nicht. Die Blume konnte tatsächlich sprechen. „Ihr seid die ersten Menschen, die mich sehen. Alle hundert Jahre wächst an dieser Stelle eine Rose, doch niemand hat jemals eine meine Vorgängerinnen entdeckt. Wie freue ich mich, dass es endlich passiert ist. Der Morgentau hat es mir jeden Morgen zugeflüstert. ‚Rose, Rose, die Erlösung kommt auf dich zu.’ Ihr müsst einfach die Erlösung sein!“ Ariko und Jorinda schüttelten nur den Kopf. „Das kann nicht sein, wir sind eher zufällig hier, und außerdem waren wir nur etwas neugierig“, entgegnete Jorinda. „Es gibt keine Zufälle“, so die Rose, „der Morgentau hat euch hierher geführt, weil es eure Bestimmung ist. Bitte helft mir, meinen Duft zu den Bewohnern hinter den Zäunen zu tragen. Denn vor vielen hundert Jahren hauste an diesem Ort der Hauch der Angst. Er bewirkte, dass alle Einwohner dieses Landes sich in Sicherheit bringen und verstecken mussten. Der Hauch der Angst ist schon längst weiter gezogen aber die Menschen haben es nie bemerkt. Ihnen hilft nur noch der Duft des Vertrauens. Zäune, Mauern und Hecken schaffen keine innere Geborgenheit, das kann nur das Vertrauen. Wenn die Leute nur einander vertrauen, wird sich alles zum Guten wenden.“ Bei der Vorstellung, helfen zu können, bekam Ariko glänzende Augen. „Was sollen wir tun, damit hier wieder Friede einkehrt?“ fragte er. „Nichts leichter als das“, meinte die Rose, „ihr müsst mich pflücken, und mit meinem Blütenkelch die Zäune berühren. Ihr werdet schon sehen, was geschehen wird. Wenn ihr mich pflückt, muss ich leider anschließend verblühen, dennoch werde ich dadurch meine Bestimmung erfüllen, und darauf kommt es im Leben an.“ Einen Moment noch zögerten Ariko und Jorinda, aber dann machten sie sich an die Arbeit. In dem Augenblick, als sie die Rose abbrachen, öffnete sich der Blütenkelch in all seiner Pracht. Mit der Blume in der Hand fingen sie an, die Hecken und Zäune zu berühren. Wie durch Zauberhand verschwanden sie. Dabei verlor die Rose Blütenblatt um Blütenblatt. Doch hinter den Zäunen und Hecken tauchten auf einmal Menschen auf, die sich verwundert die Augen rieben. Alle verließen ihre Häuser, staunten und wunderten sich, dass die Welt mit einem Schlag so freundlich und wunderbar erschien. Auch das Grau des Himmels verwandelte sich in blaue Farbe und die Sonne schien mit all ihrer Kraft vom oben auf die Erde herab. Die Bewohner freuten sich so sehr über die Verwandlung, dass sie ihre Angst vergaßen. Sie gingen aufeinander zu, umarmten sich und tanzten ausgelassen zwischen den zaunlosen Gärten. Überall lagen verstreut die Blütenblätter der Rose und verkündeten den Beginn eines neuen Zeitalters: Leben in Sicherheit mit der Kraft des Vertrauens. Das Herz von Ariko und Jorinda erfüllte sich mit Freude und Dankbarkeit, zugleich auch mit ein wenig Wehmut über das Ende der Rose. „Komm, Ariko, wir haben die Aufgabe erledigt. Lass uns schnell nach Hause gehen, sonst bekommen unsere Eltern Angst, weil es schon so spät ist“, sagte Jorinda. „Ja, aber wie sollen wir das anstellen, die Tür ist sicherlich noch versperrt“, meinte Ariko. Doch seine Schwester hatte so eine Ahnung: „Ich weiß nicht, mein Gefühl jedoch sagt mir, wir sollten einfach einmal nachschauen.“ Also machten sich beide auf den Rückweg, und als sie die Tür erreichten, bestätigte sich Jorindas Eingebung. Die Tür hatte sich einen Spalt weit geöffnet und sie hörten das Geräusch der Straße. Schnell passierten sie das Tor. Dieses sprang hinter ihnen zu und mit einem erfüllten Herzen setzten sie ihren Weg fort. „Morgen“, dachte sich Ariko, „da besuchen wir das Land der Freude. Ich bin jetzt schon gespannt, was uns dort erwarten wird.“
Montag, erste Woche
Ich warte auf jemanden, der kommt gewiss.
In mein Herz hinein schreib ich:
Sei mir willkommen.