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Ein Ding namens Phantasie

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Laut Anleitung im Lehrbuch für Hexen der dritten Jahrgangsstufe (empfohlen vom Ministerium für Hexerei und Zauberei) sollte das Herbeirufen eines Unwetters sogar untalentierten Hexen keinerlei Probleme bereiten. Man brauchte ja nur die kinderleichte Vorgehensweise auf Seite 7 zu beachten:

Dreizehn Tage gieße der Zauberschüler seine Zornfistel ausschließlich bei Vollmond. Wobei zu beachten sei, dass eine Zornfistel gehegt und gepflegt werden will. So habe der Schüler stets für Verdunklung zu sorgen und jeden Wunsch von den Dornen der Pflanze abzulesen. Wird es hell, stelle er das Gewächs in einen gewöhnlichen Geisterschrank, wo es nach Lust und Laune poltern kann. Ist die Zornfistel reif, sei ein gewöhnliches Wetterfenster der rechte Platz. Durch dreifaches Schwingen des Zauberstabes und dem Sprechen des Zauberspruchs (siehe Seite 39261, Spalte 7z, 33 Grad Nordost, Absatz 35a, rückwärts gelesen und im Kreise gedacht) sei das Unwetter im Nu herbeigerufen. Auf, auf, nicht gezögert! Besser, er verzage nicht...

Laut Anleitung war dies die leichteste Fingerübung, welche die Hexerei für Anfänger zu bieten hatte. Wer daran scheiterte, konnte im schlimmsten Fall auf immer und ewig von der Hexeninsel verbannt werden. Denn wer es nicht konnte, der war laut dem erlesenen Rat der Allwissenden Hexen und Zauberer nicht viel mehr als ein ganz gewöhnliches Menschenkind.

Menschenkind? Was soll das denn sein?

So blätterte die Hexe zum Stichwortverzeichnis des dicken Buches, wo alle Fremdwörter genauestens erklärt wurden. Dort stand es geschrieben:

Menschenkind, das: Zweibeiniges Wesen, das rein äußerlich leicht mit einer Junghexe verwechselt werden kann. Zwei Arme, Beine, Kopf, aber keinerlei Begabung zur Hexerei.

Durch regelmäßiges Gießen wachsen Menschenkinder so schnell wie Pfefferschoten. Geraten sie erst einmal auf die Höhe eines Regenschirm-Ständers, treten aus Sicht des Ministeriums für Hexerei und Zauberei nicht duldbare Eigenschaften zu Tage.

Diese sind: Spieltrieb, Neugier, unkontrolliertes Herumlaufen, Lärmen. Einige Exemplare entwickeln weitere Unarten wie ein nicht näher erklärbares Ding namens Phantasie, das mit keinem Zauberspruch zu bändigen sein soll.

Hinweis: Der Umgang mit Menschenkindern ist Hexen strengstens verboten. Zuwiderhandlungen werden mit dem sofortigen Verbannen aus der erlesenen Gilde der Hexen und Zauberer geahndet.

Ein nicht näher erklärbares Ding...

...namens Phantasie...

Die Hexe dachte nach. Nein, von einer Phantasie hatte sie noch nie etwas gehört. Wie sah Phantasie aus? War sie gelb, grün oder feuerrot? Konnte man sie in Flaschen abfüllen? Stand eine Flasche Phantasie in den Regalen der Schul-Hexenküche? Bei den Zaubertränken vielleicht? Konnte man Phantasie kochen oder einfrieren? Oder war Phantasie gar eine ansteckende Krankheit? Neugierig blätterte Mathilda weiter. Seite 1244 - da stand es geschrieben:

Phantasie, die: Na, na, freche Schülerin! Unter dem Stichwort Phantasie gibt es nichts zu finden, was eine Hexe in Ihrem Alter zu interessieren hat. Also, husch, husch, schnell weiter geblättert! Und sehen Sie zu, dass Sie sich auf Ihre Prüfung vorbereiten. Man wird ein Auge auf Sie haben, Mathilda Pfefferblum-Scheppernase!

„Huch!“ Vor Schreck hatte Mathilda das Buch zugeschlagen. Das war das Problem mit der Hexerei. Die Gegenstände entwickelten nur allzu gern ein Eigenleben. Manche konnten denken und handeln. Und Büchern vom Ministerium für Hexerei und Zauberei war ohnehin nicht zu trauen. Man fühlte sich immerzu von einer fremden Macht beobachtet. Also doch nicht so toll, eine Hexe zu sein...

Phantasie musste jedenfalls eine ganz schlimme Sache sein, die in Hexenkreisen nicht geduldet wurde. Vielleicht war dies auch der Grund, warum Mathilda kein einziger Zauberspruch gelingen mochte: Die dumme Hexe Mathilda Pfefferblum-Scheppernase war an Phantasie erkrankt!

Missmutig wandte sie sich wieder ihrer Hausaufgabe zu. Ein Gewitter herbeirufen, wie sollte das denn funktionieren? Dreizehn Tage Vollmond gab es nunmal nicht. Und woher sollte sie bitte einen Geisterschrank bekommen? Auch das mit dem Zauberspruch stellte für Mathilda ein schier unlösbares Problem dar: Wie sollte man denn diese ominöse Seite 39261 aufblättern, wenn das Buch nur 1350 Seiten zu bieten hatte?

Nur Mut, Mathilda, dachte sie sich. Vielleicht würde es ja funktionieren, wenn man das Wetterfenster öffnete und die Zornfistel außen aufs Fensterbrett stellte. Gesagt, getan! Am Himmel brauten sich auch schon dunkle Wolken zusammen. Voller Tatendrang schwang die junge Hexe ihren Zauberstab und sprach: „Wolken, Sturm und Blätterwind, Wetter wachs zur Höll´ geschwind!“

Ein Herbstblatt segelte ganz langsam vom Himmel. Dann machte es blubb!, und ein Regentropfen fiel auf Mathildas Nase. Ende der Vorstellung.

„Das wird nie etwas“, seufzte sie und schloss das Fenster.

„Oh nein!“

KRACH! SCHEPPER!

Schon war der Blumentopf mit der kostbaren Zornfistel in die Tiefe gestürzt und mit einem lauten Krawumms! in tausend Scherben zersprungen.

Wahrhaftig, welch eine untalentierte Hexe!

Tja, das war es dann wohl mit der Hexenprüfung. Mathilda bekam einen Wutanfall und raufte sich die kunterbunten Haare.

Da sauste plötzlich ein kleiner glühender Zettel herbei und klebte sich von außen ans nasse Fensterglas. Vorsichtig pflückte sie ihn von der Scheibe. Das Papier war schon halb verbrannt und glühte, fühlte sich aber kalt und nass an. Darauf stand, in leuchtend roten Buchstaben geschrieben:

Walburga Kron

Staatlich geprüfte Hexe und Unke.

Nachhilfe-Unterricht für zweifelnde Hexen.

Schiefe Turmgasse 7

Termine flugs auf diesen Zettel sprechen.

Wenn Besen nicht gehorcht, Abholservice möglich.


Die Lumpenpuppenhexe

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