Читать книгу 5 Prozent - Matthias Merdan - Страница 10

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Ursprung von Fionas aggressiver Lebensphilosophie war dieser ausgeprägte Vater-Sohn-Konflikt. Eigentlich ein Vater-Tochter-Konflikt, aber als einziges Kind ihres prominenten Vaters hatte sie die Rolle des Ersatzsohnes inne. So blieben ihr die zärtlichen väterlichen Zuwendungen verwehrt, von denen sie als Tochter neben Brüdern sonst etwas zugeteilt bekommen hätte.

Während einer Geschichtsstunde an der Kantonsschule Stadelhofen erfuhr sie von der Kindheit Friedrichs des Grossen. Dessen Vater – Friedrich Wilhelm I. – befahl seinem Sohn, mit Zinnsoldaten und Miniaturkanonen Krieg zu spielen, womit der preussische Soldatenkönig zeigte, was er von seinem Sohn erwartete, nämlich die bedingungslose Übernahme der eigenen Anschauungen – im Leben wie in der Politik. Der junge Friedrich interessierte sich dummerweise nicht im Geringsten für den rigiden Erziehungsdruck des Vaters und die Monotonie des Soldatentums; er konnte schlecht schiessen und verabscheute die Jagd. Der Sohn versuchte, vom Hof des Vaters zu fliehen, was misslang und die Hinrichtung der Fluchthelfer zur Folge hatte.

Fiona drohte innerhalb einer Familiendynastie von Wirtschaftsjuristen und Lokalpolitikern das gleiche Schicksal. Zumindest höchstwahrscheinlich. Die emotionslosen, sachdienlichen Hinweise ihres Erzeugers bezüglich Lebensgestaltung und Karriereplanung wurden ihr zur Provokation – wodurch sie wiederum das Provozieren lernte. Fiona lernte das Provozieren so vollständig, dass sie agieren konnte, ohne auch nur ansatzweise Harmonie oder Konsens mitdenken zu müssen.

In ihrer frühen Jugend begann eine fröhliche Zeit des militanten Anarchismus. Es entwickelte sich in ihr der unstillbare Drang, die Eidgenossenschaft brennen zu sehen. Oder zumindest Zürich. Alle kapitalistischen Nationen der Erde entsorgten, Fionas Meinung nach, ihre effektivsten Arbeitskräfte in Zürich. Eine Bevölkerung selbstverliebter, sozial verarmter Arschlöcher sei das Resultat. Der Kanton Zürich sei ein Schurkenstaat, in dem sie an der Heimatfront für Gerechtigkeit demonstrierte. Ihre moralische, ökonomische und politische Sicht wurde anfangs noch mit Vati diskutiert und dann schnell für unlösbar erklärt, was Fiona denselben Status innerhalb der Familie einbrachte, den bereits ihre Mutter in den verächtlichen Augen ihres Vaters innehatte.

Mit dem Eintreten der Explosion kamen Kälin sofort die Regeln der Artikulation von Panik und Versagensängsten für Führungspersonen in den Sinn.

Erstens: Erregung verhüllen, um nicht als unprofessionell und handlungsunfähig zu gelten und somit schlagartig unter einem amorphen – also undefinierbaren, unklar von wo ausgehenden und wo entstandenen und wie weiter entwickelten – Autoritätsverlust zu erkranken.

Zweitens: Sei auf keinen Fall der Erste, der Angst zeigt oder von «Katastrophe» spricht. Vermeide hierzu alle Vokabeln, die dich irgendwie in Verdacht bringen, du seist der Erste, dem der Arsch auf Grundeis läuft. Das verräterische Vokabular ist von Dienststelle zu Dienststelle unterschiedlich, aber in der jeweiligen Dienststelle erkennbar. Auch reflexartige Schuldzuweisungen oder Kurzatmigkeit, introvertierte Blicke und eine gebeugte Körperhaltung gelten vielen als nonverbale Artikulation von Panik und wird wie die verbale gewertet. Natürlich muss irgendjemand gegen dieses Gebot verstossen, wenn die Kacke am Dampfen ist, sonst würde sich der Verantwortliche als distanziert und desinteressiert outen. Aber man muss ja nicht der Erste sein. Nachdem sich ein katastrophales Ereignis materialisiert hat, bleibt man demonstrativ für zwanzig Minuten cool. Und jeder Beobachter kann nur daraus schliessen, dass es auch in schweren Fällen einfach Regeln gibt, die es nur mechanisch zu befolgen gilt, um die Sache wieder aus der Welt zu schaffen.

So ist es die Kunst des Timings, Befürchtungen in der Gruppe zu äussern. Also nicht als Erster, sondern mit mehreren zusammen. Mindestens zu zweit, besser zu dritt. So erscheint die innewohnende Angst nicht als Angst, sondern als Erkenntnis.

Drittens: Die Äusserung von Panik hat in der Stimmfrequenz zwischen nüchtern-sachlich und energisch stattzufinden. Ist die Stimme zu leise, also klingt man, als ob man gerade vor Angst das Essen nochmals herunterschlucken müsse, um seinen Dienstlaptop nicht zu überfluten, oder ist die Stimme so laut, dass die Stimmbänder den eigenen Fluchtimpuls verrieten, wäre jede Autorität dahin.

Viertens: Stelle Untergebenen keine Fragen.

Fünftens: Fang nicht plötzlich zu lächeln an, wenn du es sonst auch nie tust.

Sechstens: Nicht religiös werden. Keine – auch noch so spöttisch klingenden – Anrufungen einer Heiligen Maria Mutter Gottes, eines Lieben Gottes oder Jesus Christ.

«Ich schi-cke Unter-stüt-zung», stotterte Kälin.

«Wir sperren hier ab, beruhigen die Leute. Hey, Kälin, was war das? Müssen wir was wissen? Wieso haben Sie uns zu dem Feuerwerk geschickt?»

«Tut … tut mir leid …»; er spürte das Nachlassen seiner Körperspannung.

«Geigerzähler. Sie brauchen Geigerzähler, um herauszufinden in welche Richtung sich die Strahlung ausbreitet», schrie Rosenwiler hilfsbereit aus dem Vernehmungszimmer, in dem sie die Verzweiflung Kälins mithören durfte.

«Gibt es sonst Verletzte?», wollte Kälin wissen.

«Splitter liegen überall und Fassadenteile. Hier kommen Leute aus dem Haus. Auf den ersten Blick scheinen sie unverletzt.»

Kälin hörte fassungslos die Unterhaltung der Polizisten vor Ort mit, ohne die Stimmen den jeweiligen Kollegen zuordnen zu können.

«Geht es Ihnen gut?», fragte einer der Polizisten vor dem Explosionsort.

«Was ist passiert?», anscheinend die Stimme einer älteren Bewohnerin; ihre Frage wurde ignoriert.

«Wir müssen das Haus räumen. Vielleicht ist es einsturzgefährdet», brüllte ein Beamter heiser ins Funkgerät.

Mittlerweile blickten alle im Büro anwesenden Kollegen zu Kälin und versuchten, aus seinen verbalen und körpersprachlichen Äusserungen den Grad der Bedeutsamkeit des Geschehenen zu orakeln.

Kälin drehte sich plötzlich wie ein wildgewordener Stier zum Vernehmungsraum um und plärrte: «Handschellen! Bea, leg ihr sofort Handschellen an!»

Er rannte in den kleinen Raum und sah seine Kollegin, wie diese Fiona Rosenwiler die Handschellen anlegte. Fiona stand widerstandslos da, blickte Kälin an und meinte: «Nur die Ruhe; kein Grund, panisch zu werden.»

In der Zwischenzeit begann das erste Telefon zu läuten, an dessen anderem Ende besorgte Bürger der Polizei eine Explosion melden wollten. Standardsätze durchquerten das Büro: «Ja, wir wissen von der Explosion. Haben Sie etwas gesehen? Wie ist Ihr Name? Ja, Hilfskräfte sind unterwegs. Kennen Sie Anwohner im Anwesen Rigistrasse 69? Sind Sie verletzt? Bewahren Sie Ruhe! Wie lautet Ihre Telefonnummer?»

Fiona Rosenwiler stand in ihrem anthrazitfarbenen Businesskostüm, ihrer schicken Bluse, mit gefesselten Händen und zwei Beamten, die sie an ihren Oberarmen festhielten, nicht im geometrischen Mittelpunkt des Grossraumbüros, bildete aber dennoch das unumstrittene Zentrum. Die um sie aufgewirbelte Hektik verlieh ihr eine spirituelle Aura.

«Lassen Sie den öffentlichen Verkehr stoppen. Es wäre nicht gut, wenn noch Menschen in diese Gegend transportiert werden», riet Rosenwiler mit wissendem Blick.

«Konfiszieren Sie alle mitgeführten Gegenstände von Frau Rosenwiler», wies Kälin Marcel an.

Das offene und noch vor wenigen Minuten freundliche Gesicht Kälins hatte sich ins Gegenteil verwandelt; er blickte drein wie einer, der jeden Moment mit einem Schlag in sein blasses Gesicht rechnete; den Mund zusammengepresst, das Kinn nach vorne geschoben und die Stirn gerunzelt. Hinter der Mimik sah es noch schlimmer aus. Die Mischung aus Aggressivität und Versagensangst fühlte nur Kälin und liess ihn Einsamkeit wahrnehmen. Er realisierte, dass er erstmals den Blickkontakt zu Kollegen mied. Verlegen kniff er in seine Wange und vergass die kleine Brünette mit dem Silberblick.

«Kälin! Kälin!», schrie es aus dem Funkgerät, «hören Sie mich, Kälin?»

«Ja.»

«Der ganze restliche Balkon im vierten Stock ist gerade abgebrochen und auf den Balkon darunter gestürzt. Der Balkon vom dritten Stockwerk ist daraufhin auch abgebrochen und auf den darunterliegenden gestürzt. Die Balkone von Stockwerk zwei und eins sind dann einfach mit abgerissen worden. Ein Teil der Fassade vom vierten Stock ist auch weggeflogen. Der ganze Dreck liegt jetzt auf der schmalen Grünanlage vor dem Haus, dem Trottoir und der Strasse. Alles liegt voller Scherben, Fassadenelemente und so weiter. Leute rennen aus dem Haus. Wir sehen irgendwie zu, dass die nicht von weiteren abbrechenden Gebäudeteilen getroffen werden. Verbranntes Papier und glimmende Stofffetzen schweben aus dem vierten Stock über dem Haus und die benachbarten Häuser.»

Kälin hörte Sirenen eines Krankenwagens durch das Funkgerät.

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