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Die persönliche Stressbeständigkeit in Extremsituationen liesse sich auch erkennen beim Konsum von Horrorfilmen, erfuhr Rosenwiler während der Vorbereitung auf das Experiment!

Der Horrorfilm verursache mit den dargestellten Grausamkeiten im Cortex und Temporallappen, der im menschlichen Gehirn für die Verarbeitung von Gehörtem zuständig ist, Angstimpulse. So reagieren einige Menschen verbal auf Horrorfilme, indem sie schreien oder kreischen. An Horrorfilmen erkennen Psychologen den emotional-kognitiven Denkstil eines Menschen. Dieser Denkstil entscheide darüber, ob Betrachter einen Horrorfilm eher als realistisch oder als virtuell wahrnehmen. So seien zwei unterschiedliche Sichtweisen und Reaktionen beobachtbar. Zartbesaitete Menschen, die einen Horrorfilm als realistisch einordnen, nehmen das Geschehene so wahr, als würden die Effekte auf ihr eigenes Leben eine Auswirkung haben, wodurch die empfundene Bedrohung ausführende Bereiche des Gehirns aktiviert und den Menschen in Handlungsbereitschaft versetzt, beispielsweise um flüchten zu können oder einen entstehenden Angriff abzuwehren. Es entsteht Stress.

Dagegen gibt es Menschen, die regelmässig Horrorfilme konsumieren oder in anderen Lebensbereichen Stress ausgesetzt sind. Diese reagieren auf solche Filme entgegengesetzt zu den vorherig Beschriebenen. Sie ordnen den Schrecken völlig anders ein; bei ihnen sind für Erregung zuständige Gehirnareale kaum aktiv. Bei solchen Menschen spielen die Thalamuskerne des Gehirns eine Rolle, ausserdem Gehirnregionen wie der primäre visuelle Cortex und Areale für die Objektexpertise.

Solche Personen empfinden keinen Stress, sondern Lust und Freude. Wenn also in der Neuverfilmung von Stephen Kings «Es» einem kleinen Jungen von einem teuflischen, in der Kanalisation lebenden Clown zunächst ein Arm abgebissen wird, oder wenn in «Texas Chainsaw Massacre» der Kettensägenschwingende Jedidiah «Jed» Sawyer alias Leatherface eine hübsche, lauthals kreischende, Frau in die Ecke drängt, um sie vom Scheitel bis zum Schambein in zwei Hälften zu sägen, so ist der durchschnittliche Kinobesucher (Kategorie eins) wegen der blutigen Brutalität gegen Unschuldige schockiert. Andererseits erfreuen diese Szenen den trainierten Horrorfan (Kategorie zwei) wegen der gelungenen Romanumsetzung, der visuellen Effekte und der passend gewählten Hintergrundmelodie.

Rosenwiler gehörte zu dieser zweiten Kategorie.

Der nun auf sie wartende Horror animierte ihre Freude an stilvoller Gewalt. Stilvoller, von ihr ausgehender, Gewalt.

Fiona Rosenwiler betrat gespannt und angespannt das Gebäude der Kantonspolizei Zürich in der Kasernenstrasse und erfuhr sofort, wer für sie als Erstes zuständig war. Zu ihrer Rechten befand sich ein Welcome Desk, so würde man es wohl auf einer Messe nennen, Rezeption in einem Hotel.

Eine uniformierte Polizistin ihres Alters, der man ansah, dass die körperlichen Fitnessübungen, wie sie in den Schaukästen am Zaun vor dem Kapo-Gebäude gezeigt wurden, eine aggressiv-dynamische Ausstrahlung bewirkten, wendete sich ihr reflexartig zu. Nachdem Rosenwiler ihr Gesichtsfeld betreten hatte, wurde sie von der Beamtin mit einem Ich-hoffe-für-Sie-es-istwichtig-Blick gemustert.

Fiona fielen ihre kurzgeschorenen Haare auf, ihre schmalen Lippen und die kräftigen Hände. Gar nicht so unerotisch, dachte sie.

«Grüezi», erwiderte die Beamtin die noch stumme Anwesenheit Rosenwilers mit einer maskulinen Stimme.

Fiona legte ihre beiden Handflächen ruhig auf das Desk, während sie ihren Kopf ganz leicht nach links beugte. «Grüezi. Mein Name ist Fiona Rosenwiler, ich bin Einwohnerin dieser Stadt und muss Ihnen ein Verbrechen melden.»

«Sie möchten eine Anzeige erstatten?», fragte die Polizistin mit dem Tonfall einer geschulten Beamtin, die gerade erkennt, dass sie jetzt gleich aus ihrem Trott gerissen wird.

«Nein. Ich möchte ein Verbrechen melden», widersprach Rosenwiler energisch und verlagerte ihr Körpergewicht auf das rechte Bein.

«Dann wollen Sie eine Anzeige erstatten», konterte die Polizistin aggressiv und spannte ihre Unterarme an.

«Nein!»

«Nein?»

«Nein. Es handelt sich um ein zukünftiges Verbrechen. Wahrscheinlich wollen Sie Anzeige erstatten.»

«Wie bitte?», fragte die uniformierte Frau und störte sich an dem Durcheinander an Provokativem und Femininem in einer Person.

«Einen Moment, Frau Rosenwiler.»

Die Polizistin, auf deren Namensschild Beatrix Welti stand, setzte nun ihren Na-warte-verarschen-kann-ich-mich-selbst-Blick auf, drehte sich zu einem dunkelgrünen Neunziger-Jahre-Telefon um, nahm den Hörer ab, drückte eine Taste, wartete einige Sekunden und sprach etwas Humorloses in den Hörer. Gefreite Welti legte auf, drehte sich mit einer kraftvollen Körperdrehung zurück zu Fiona, meinte, sie solle einen Moment Platz nehmen, und zeigte auf eine Reihe von Stühlen gegenüber dem Eingangsbereich.

In den wenigen Minuten des Wartens beobachtete Rosenwiler das gedämpfte Bewegungstempo der anwesenden Beamten, das sie die geringe Kriminalitätsrate im Kanton Zürich erahnen liess. Vier Beamte in ihrem Blick sassen an Bildschirmen, lasen irgendetwas ab, tippten irgendetwas ein; einer trug ein Blatt Papier, das er einem Drucker entnommen hatte, quer durch den Raum und legte es auf einen verwaisten Schreibtisch eines Kollegen. Fiona vermisste die harten Typen von den Fotos in den Schaukästen; coole, wie am Fliessband Gefangene anschreiende, bedrohende und dann wegtransportierende Machos. Sie erwartete nicht unbedingt Dirty Harry, Jimmy «Popeye» Doyle oder John McClane, aber wenigstens harte Kompromisslosigkeit ausstrahlende Kerle. So wie die Bullenschweine, gegen die sie auf der Strasse gekämpft hatte. Je härter ihre Gegner gewesen waren, umso weniger fühlte sie sich als Täterin, sondern als Opfer. Opfer sein brauchte sie, auch wenn sie es nicht liebte. Die Identität als die Schwächere entfesselte Fionas Durchschlagskraft. Die herumlaufenden Kapo-Typen sahen alles andere aus als Clint Eastwood, Gene Hackman oder Bruce Willis, sie wirkten wie Bankangestellte, getunt mit körperlicher Fitness, einer Dienstwaffe und starker Stimme.

Wachtmeister Johannes Kälin war kein Mann, der darunter leiden musste, dass man ihm spontan zu wenig Ehrfurcht entgegenbrachte. Stattliche Körpergrösse, aggressiver Blick und seine laute, tiefe Stimme verschafften ihm Autorität bei Kolleginnen und Kollegen, Rechtsbrechern und Rechtsbrecherinnen.

Die Absätze seiner schwarzen Lederstiefel, die laut auf dem weissen Linoleumboden auftraten, erzeugten für einen Moment Kasernenhof-Feeling. Er bremste sich kurz vor der sitzenden Fiona Rosenwiler; sie blickte zu ihm auf.

Kälin checkte eine Sekunde ihre übereinandergeschlagenen schlanken Beine, deren Haltung sich im Moment von Fionas Aufblicken zu ihm ruckartig in eine Parallelstellung auflösten. Er wertete dies als Zeichen des Respekts gegenüber seinem Dienstgrad. Seine Überraschung über den ersten Eindruck – die optische Mischung aus Nicole Kidman mit einer Prise Hannibal Lecter – liess er sich nicht anmerken.

Der hätte mehr als einen Uniformträger aus sich machen können, dachte Fiona, fühlte sich andererseits ein wenig eingeschüchtert und flüsterte leise: «Wie schade für ihn.»

«Guten Tag. Mein Name ist Kälin. Was kann ich für Sie tun?» Er klang in ihren Ohren wie ein nervöser Schauspieler, der einen auswendig gelernten Text beim Vorsprechen auf einer Bühne zitiert, um sich für die Rolle des Hermann Gessler zu bewerben.

«Ich muss leider ein Verbrechen melden», erwiderte Rosenwiler nüchtern und mit gespieltem Bedauern, wobei sie gleichzeitig dachte: Diese Performance mit dem emotionslosen harten Auftreten haben dem armen Kerl sicher die Psychologen eingebläut. In Wirklichkeit bist du doch einer von den bemitleidenswerten Typen, die sich mit Ausdauersport in einen chronischen Erschöpfungszustand versetzen, um ihren homosexuellen Trieb zu dimmen.

«Wie war Ihr Name?», fragte er, um Zeit zu gewinnen, und kniff dabei seine Augen leicht zusammen.

«Rosenwiler. Fiona Rosenwiler.»

«Dürfte ich bitte Ihren Ausweis sehen?»

Rosenwiler zückte ihr Portemonnaie aus ihrer anthrazitfarbenen straussenledernen Roberto-Cavalli-Florence-Handtasche, entnahm ihren Ausweis und überreichte Kälin die, mit Schweizerkreuz oben links versehene, kreditkartengrosse Plastikkarte. Der uniformierte Beamte nahm sie an sich, verglich das Foto mit dem Gesicht der Frau vor ihm, las den Namen, blickte auf die Unterschrift und das Geburtsdatum 19 04 78, kontrollierte das schimmernde Sicherheitszeichen oben rechts, drehte dann die Karte auf die Rückseite, las Grösse: 178 cm, Geschlecht: F, Heimatort: Zürich, ZH, Behörde: Zürich, ZH, ausgestellt am 14 02 13, gültig bis: 13 02 23, Nationalität: Schweiz, die Ausweisnummer überflog er, ohne sie zu registrieren. Mit einem zaghaften Kopfnicken und einem kräftigen «Danke» retournierte er die Identitätskarte.

«Was für ein Verbrechen möchten Sie melden, Frau Rosenwiler?», fragte er mit einem Unterton aus Skepsis und Neugier.

«Es handelt sich um einen schweren terroristischen Anschlag, verübt von einer Einzelperson in dieser Stadt.»

Kälin dachte Quatsch! und sagte: «Folgen Sie mir, bitte.» Er beobachtete Fiona und sah, wie sie sich erhaben aufrichtete.

Wie ein gehorsames Mädchen folgte sie ihrem ersten Opfer nach, in einen zehn Schritte entfernten Raum. Dieses Zimmer zeichnete sich durch schlichtes Interieur aus; ein kleiner grauer Tisch in der Mitte, mit zwei genauso grauen sich gegenüberstehenden Stühlen; eine rechteckige Lampe erzeugte zusammen mit dem, durch ein vergittertes Fenster dringenden, Tageslicht ein Zwielicht, das von den hellblauen Wänden teilweise geschluckt wurde.

Höflich wies Kälin Fiona einen der beiden Stühle zu, liess die Tür hinter sich offen und wusste noch nicht, dass er seine Höflichkeit gleich ad acta legen würde. Beide setzten sich synchron, aber nur Fiona fiel der Geruch von Putzmittel auf (Zitrus).

«Woher wollen Sie das wissen? Woher haben Sie Informationen über einen Terroranschlag?» Er sprach das Wort Terroranschlag so schräg aus, als wäre es das absurdeste Wort, das er je gehört hatte.

Kälin nahm einen Kugelschreiber in seine linke Hand und liess diesen über einem bereits daliegenden Formular schweben; er wusste noch nicht, wie ernst er das nehmen sollte und war gespannt auf die Antwort der Frau.

«Ich selber bin die Terroristin!», verriet Fiona Rosenwiler mit der Sicherheit einer Nachrichtensprecherin.

Kälin vergass einen Moment auszuatmen; unterbewusst überlegte er, ob er den zurückbehaltenen Atem in Lachen oder Entsetzen investieren sollte. Er blickte die gut aussehende und noch besser gekleidete Frau ungläubig an. Sie erinnerte ihn nun etwas mehr an Hannibal Lecter und etwas weniger an Nicole Kidman. Irgendetwas stimmte nicht, er wusste nur noch nicht was, aber gleich würde er es rauskriegen.

Um den notwendigen Prozess zu beschleunigen, damit ihr Gegenüber zum Glauben käme, wiederholte sie: «Ich bin eine Terroristin. Ob Sie das glauben wollen oder nicht. Ich hoffe, es bringt Sie nicht durcheinander, dass ich keinen Bart trage, keinen arabischen Akzent spreche und ich nicht mit einer Kalaschnikow randaliere.»

Kälin lachte, wie jemand, dem an einem Stammtisch zu später Stunde ein typischer Männerwitz erzählt wird.

Rosenwiler blickte mit hochgezogener linker Augenbraue auf ihre Armbanduhr.

Entgegen ihrer ursprünglichen Annahme verlieh ihr diese Armbanduhr ein gewisses Selbstwertgefühl. Es handelte sich um eine Rolex Daytona. Aber nicht irgendeine Rolex Daytona, wie man sie für fünfzehn bis fünfzigtausend Franken hätte kaufen können. Es handelte sich um eine sogenannte Rolex Daytona Big Red, Jahrgang 1979. Fionas Vater Jakob Rosenwiler hatte sich diese Uhr im Jahr seiner Hochzeit, im Vorhaben, diese eines Tages seinem Sohn in Verbindung mit Lebensphilosophie und persönlichen Erfolgsgeschichten zu schenken, selbst geschenkt. Mittlerweile betrug der Wert des Sammlerstücks rund hundertzwanzigtausend Franken. Ein maskulines Modell, bestehend aus Stahl, mit drei schwarzen Totalisatoren auf dem weissen Ziffernblatt. In den Siebzigerjahren war Paul Newman in seiner Funktion als Rennfahrer für dieses Rolex-Modell Werbebotschafter. Für Fiona repräsentierte diese Uhr einerseits negativ den Makel ihres Geschlechts in den Augen ihres Vaters. Andererseits erinnerte sie der Chronograf auch an ihr Vermögen, ihr Netzwerk und ihre Exklusivität. Jakob Rosenwiler überreichte seinem Ersatzsohn das Prachtstück am Tag der Abschlussfeier ihres Hochschulstudiums in St. Gallen. «Für deine erfolgreiche Konversion, mein Engel», sagte er stolz und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, während ihre Mutter dümmlich grinsend danebenstand. Sie dachte Arschloch, nahm die Uhr und bedankte sich.

«In achtundzwanzig Minuten, genau um vierzehn Uhr dreissig, wird am Zürichberg eine Bombe explodieren. Ein kleines schmutziges Ding. Diese wird, so kann ich Sie vorerst beruhigen, kaum massenweise Tote produzieren – aber sie wird radioaktive Strahlung freisetzen. Diese Radioaktivität wird sich, begünstigt durch die gegenwärtige Wetterlage und die herrschende Windrichtung, über die Nobelvillen in dieser Gegend ausbreiten und einen nachhaltigen Wertverlust hinterlassen.»

Und er dachte: Was zur Hölle soll das?

Und sie dachte: Armer Junge, du glotzt, als ob man dir soeben einen Löffel Rohrreiniger zum Schlucken gegeben hätte.

«Vortäuschung eines Verbrechens ist kein Kavaliersdelikt, Frau Rosenwiler. Ihnen ist doch klar, solche Scherze, wie Sie sie sich gerade erlauben, sind strafbar. Das kann Sie teuer zu stehen kommen! Freiheitsstrafe und Regress aller entstehenden Kosten; Sie zahlen ein Leben lang für so einen Spass. Ist Ihnen das bewusst?»

«Tut mir leid, wenn ich Sie erzürne», heuchelte sie, «das ist kein Scherz. Ich wiederhole es gerne noch einmal. In achtundzwanzig Minuten …», sie blickte ganz kurz wieder auf die Uhr, «nein, jetzt siebenundzwanzig Minuten, um vierzehn Uhr dreissig, wird am Zürichberg eine sogenannte schmutzige Bombe explodieren. Diese wird radioaktive Strahlung freisetzen. Diese Radioaktivität wird sich über die Nobelvillen in dieser Gegend ausbreiten und einen beachtlichen nachhaltigen Wertverlust hinterlassen.»

Der knapp 700 Meter hohe Zürichberg, auf dem unter anderem der FIFA-Hauptsitz thronte, lag östlich der Innenstadt Zürichs. Seine Westflanke war besiedelt von den Wohnquartieren der Reichen und der Oberschicht.

Kälin war klar, einen solchen Vorfall hatte es in der Schweiz noch nie gegeben. Sollte so etwas tatsächlich passieren? Heute – jetzt – hier – bei ihm?

«Und jetzt schlagen Sie bitte Alarm», ergänzte Rosenwiler im Befehlston, während sie gleichzeitig ihren Oberkörper nach vorne beugte.

Kälin bewegte seinen Oberkörper nach hinten und sah Fionas makellose Zähne, die beim Lächeln nach dem Wort Alarm zum Vorschein kamen. Er hatte nicht die geringste Lust, Alarm zu schlagen, ihr und seinem stetig steigenden Magendrücken somit Glauben zu schenken, aber die Vorschriften verlangten es.

Vor einigen Jahren hatte ein Scherzkeks eine Banküberweisung in Höhe von 6.25 Schweizer Franken mit dem Betreff Rechnung Nr. 666 – für waffenfähiges Plutonium versehen. Diese Sache ging durch die Medien, da die Kantonalbank mit diesen Zeilen antworten musste:

«Sehr geehrter Kunde, sicherlich haben Sie mit Ihrem Überweisungsbetreff ‹Für waffenfähiges Plutonium›, nur einen Scherz gemacht. Leider sind wir von Rechts wegen verpflichtet, dies der Staatsanwaltschaft Zürich zu melden. Diese wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen. Wir bedauern diesen Vorgang und bitten Sie, zukünftig keine unüberlegten Formulierungen bei Überweisungen zu verwenden. Mit freundlichen Grüssen, Ihre Zürcher Kantonalbank.»

Kälin und ein Kollege hatten die Sache damals auf dem Tisch, im Wissen, dass es ihm die Politik dorthin geschissen hatte. Der Spott von Presse, Social-Media-Plattformen und seinen Kollegen war ihm sicher. Vier Wochen hing ein A4-grosses Photoshop-Produkt in den Büros, das sein Konterfei zeigte, versehen mit dem darunter stehenden Text «Atombombenentschärfer des Monats».

So musste auch hier, wie bei jeder Morddrohung, Entführungsandrohung oder anderen Gewaltandrohungen eine vorschriftsmässige Aktivität in Gang gesetzt werden.

«Sie wissen, dass ich Sie jetzt sofort festnehmen muss?», belehrte er Fiona.

«Klar. Dacht ich mir», beruhigte sie ihn.

«Vielleicht wissen Sie nicht, Frau Rosenwiler, die Kantonspolizei hat Besseres zu tun, als Witzen nachzugehen!»

«Kein Witz. Versprochen. Niemand wird lachen. Weder mit Ihnen noch über Sie. Ich will, dass ein Aufgebot an Polizisten, ausgestattet mit Geigerzählern, zum Zürichberg entsendet wird. Den präzisen Explosionsort werde ich ihnen um vierzehn Uhr achtundzwanzig mitteilen.» Wieder blickte sie auf ihre Rolex.

«Vierzehn Uhr achtundzwanzig?», versicherte sich Kälin, um nicht zu sagen Ja, jaaaa.

«Vierzehn Uhr achtundzwanzig. So bekommen Sie alles aus nächster Nähe mit und können trotzdem nichts mehr verhindern. Sorry. Taktik.»

Kälin rutschte auf seinem Stuhl, der für seine langen Beine viel zu klein war, immer grantiger auf und ab.

«Was wollen Sie wirklich? Das meinen Sie doch nicht ernst.»

«Ich will, dass mich Politik und Wirtschaft ernst nehmen, für das, was danach kommt.»

«Danach?», echote Kälin. «Danach …, okay.» Er beschloss in diesem Moment, nicht alles sofort begreifen zu wollen.

Der Polizist erhob sich, machte vier grosse Schritte vor die Tür des Vernehmungsraums, blickte aus dem Zimmer und fand Kollegin Welti. Kälin nahm Blickkontakt zu ihr auf und signalisierte Beatrix, sofort hierher zu kommen. Vom harten Blick ihres Kollegen angezogen, schritt sie hinter ihrem Desk hervor und steuerte auf Kälin zu, der auf Rosenwiler deutete.

«Diese Frau ist mit sofortiger Wirkung festgenommen. Sie behauptet, einen Terroranschlag in Zürich verüben zu wollen, und bis zur Klärung des Auftritts dieser Dame bleibt sie in Haft.»

Welti unterdrückte ihre Verwunderung über das Aussergewöhnliche, betrat das Zimmer, stellte sich seitlich versetzt hinter Fiona zur Bewachung und fungierte fortan als Türsteherin.

Kälin, der immer noch einen Schritt vor der Tür stand, schrie zu einem weiter entfernt arbeitenden Kollegen: «Hey Marcel, komm mal her. Wir müssen leider etwas abklären.»

Der Untergebene eilte zu seinem Vorgesetzten und vernahm mit leicht hochgezogenen Schultern seine Anweisung: «Diese Dame behauptet, in wenigen Minuten, um genau vierzehn Uhr dreissig, würde am Zürichberg eine Bombe explodieren. Diese Bombe sei nicht lebensgefährlich, würde aber Radioaktivität freisetzen. Schick zwei Streifenwagen in die Gegend. Einen zur FIFA, einen zum Unispital. Wir müssen sehen, was passiert.»

«Müssen wir nicht evakuieren?», traute sich Marcel zu fragen.

«Den ganzen Zürichberg? Ich glaube, die Tusse is ne Koksbraut und nicht ganz dicht.»

Unvermittelt schrie es aus dem Vernehmungszimmer:

«Vergessen Sie die Geigerzähler nicht, sonst haben Sie Probleme, den Wahrheitsgehalt meiner Aussage zu überprüfen.»

Kälin drehte sich um und plärrte zurück: «Das reicht – treiben Sie es nicht zu weit!»

Marcel nickte, blickte in das Zimmer zu der ihm unbekannten Frau, strafte die Frau mit einem bösem Blick, um seinem Vorgesetzten zu gefallen, drehte sich um, marschierte in grossen Schritten davon und begann mit der Ausführung des Befehls.

«Heute werde ich keine Überstunden machen», sagte Kälin zu sich selbst und dachte an die kleine Brünette mit dem Silberblick in seinem Fitnessstudio.

Kälin blieb noch einen Moment wie isoliert von Raum und Zeit auf dem Gang stehen; er hörte seinen Atem, während er sich fragte, was das zu bedeuten hatte. Er konnte sich unmöglich vorstellen, dass diese eloquente Eidgenossin eine Terroristin sein solle. Mehr und mehr wuchs in ihm die Vermutung, dass es sich bei dieser Terrormeldung um einen Scherz handle. Aber aus welchem Grund sollte man ihm einen Scherz spielen? Er hatte kein Dienstjubiläum, war nicht Vater geworden, hatte keinen Geburtstag, und war auch selbst kein Scherzkeks, der mit Racheakten, oder besser gesagt Rachescherzen, zu rechnen hatte. Vielleicht wurde er durch die versteckte Kamera des Schweizer Fernsehens auf die Schippe genommen, wie es ihm schon einmal widerfahren war.

Allerdings widerfuhr Kälin dies als Privatmann; das Schweizer Fernsehen hatte es noch nie gewagt, Polizisten oder andere Beamte aufs Korn zu nehmen.

Häufig wurden Beamte angehalten, selbst als Lockvögel zu agieren. Er erinnerte sich an eine Verstehen-Sie-Spass-Sendung, bei der auf einem Parkplatz Polizeibeamte verdutzte Verkehrsteilnehmer nach ihren Führerscheinen fragten. Als diese sie den Beamten aushändigten, bedankten sich die Beamten und meinten, damit Vogeldreck von der Windschutzscheibe ihres Dienstwagens kratzen zu müssen. Er fand es nicht witzig, aber die Erinnerung daran kam ihm gerade hoch.

So etwas oder Ähnliches könnte es nicht sein.

Vielleicht ist es ein Angriff der Presse, der nationalen oder internationalen. Irgendeine Zeitung testet, wie ernsthaft das Land mit terroristischen Bedrohungen umgeht, will wissen, wie und in welcher Weise reagiert wird und in welcher Geschwindigkeit; ähnlich wie das englische Boulevardblatt «The Sun» immer wieder Mitglieder der Königsfamilie oder Trainer der Premier League durch getarnte Mitarbeitende hinters Licht führte und die Opfer dann dem öffentlichen Spott aussetzte. Das musste es sein. Eidgenossen waren keine Terroristen – schon gar nicht im eigenen Land. Das war ihm klar. Sich zu erkennen gebende Terroristen, die ihren Personalausweis aushändigten und freiwillig auf die Möglichkeit der Flucht verzichteten, verstiessen gegen jede Logik. Seine langjährige Menschenkenntnis oder besser gesagt, Kriminellenkenntnis, sagte ihm, Leute mit dem gepflegten Aussehen, gut gewählter Sprache und dem Verhalten dieser Fiona Rosenwiler waren stets Drogenkonsumenten oder psychisch beeinträchtigte Personen, deren Medikation gerade nicht stimmte.

Kälin beendete seine Gedankenspiele und betrat wieder das Zimmer, in dem Fiona mit ihrem rechten Fuss, der locker über das linke Bein geschlagen war, nervös wippte, bewacht von Welti, die an ihren auf dem Rücken verschränkten Fingern zupfte.

«Geht es Ihnen gut?», fragte Rosenwiler, als er sich gerade wieder vor sie hinsetzte.

«Ich hoffe, Ihnen geht es gut, und Sie sind bei Verstand.»

Kälin schrie wieder den Namen «Marcel». Er drückte ihm den Ausweis von Fiona in die Hand und meinte: «Überprüfen!»

Marcel nickte kurz und verschwand.

Kälin wendete sich wieder, mit düsterer Miene, seiner Festgenommenen zu. «Nehmen Sie Drogen?»

«Nein. Nicht mehr. Zahlt sich in Sachen Sozialprestige nicht aus», informierte sie knapp.

«Medikamente?»

«Hin und wieder mal ein Aspirin gegen meine seltenen Kopfschmerzen.»

«Also gut. Tun wir so, als seien Sie eine Terroristin. Haben Sie Komplizen?», fragte Kälin, als würde er sie ernst nehmen.

«Nein. Ich teile nicht gerne. Ausserdem ist es fast unmöglich, Mitstreiter zu finden, die sich nicht profilieren wollen. Teamwork ist eine Fantasie, die sich in der staatlichen oder sozialistischen Arbeitsorganisation oder in Behindertenwerkstätten ausleben lässt – nicht bei guten Verbrechen.»

Er reagierte nicht.

«Sie wissen um Ihre Inhaftierung, Frau Rosenwiler, und dass es bereits ab jetzt schon teuer wird?»

Sie hielt Blickkontakt.

Plötzlich kam Marcel wieder zur Tür hinein, hielt ein Blatt Papier in der Hand, reichte es Kälin mit den Worten: «Die Kollegen sind vor Ort.»

«Danke», rief er dem wegtretenden Marcel hinterher.

Kälin blickte kurz auf den Zettel und spürte eine leichte Beunruhigung aufsteigen. Bei dem Ausdruck handelte es sich um das vom Polizeikommando geführte kantonale Strafregister von Fiona Rosenwiler. Darauf war mehr vermerkt als auf einem offiziellen polizeilichen Führungszeugnis. Kälin erfuhr kurz und knapp Daten und Gründe von Rosenwilers zahlreichen Verhaftungen; Fotos von Gesicht und Fingerabdrücken zierten ausserdem den Computerausdruck.

«Sie sind kein unbeschriebenes Blatt, wie ich sehe.»

«Nein, ich bin ein beschriebenes Blatt. Wie alle Menschen. Nur bei mir kann man nachlesen, was darauf steht.»

«Aha, ist das alles, was auf Ihr beschriebenes Blatt darauf gehört? Oder müsste man da noch was ergänzen?»

Oh, er wird souverän, dachte sie und konterte: «In Strafregistern werden nur Vergehen vermerkt, für die man erwischt wurde, nicht für die begangenen. So soll es auch bei meinen bleiben.»

Sie schmunzelte und veränderte ihre Beinstellung, indem sie nun mit beiden Füssen den Boden berührte. Rosenwiler blickte erneut auf ihre Luxusuhr und meinte: «Es ist nun an der Zeit, die Dienstwagen korrekt zu postieren, wenn sie schon keine Geigerzähler dabeihaben. Fahren Sie in die Rigistrasse 69.»

«Und dann?»

«Dann warten Sie, bis es BUMM macht.»

Kälin schnaubte und zog seine Mundwinkel nach unten.

«Hey, Rigistrasse 69», schrie er zu Marcel, «die sollen da hinfahren; irgendwas passiert da, oder auch nicht. Zwei Dienstwagen.»

«Brauchen wir Verstärkung?», schrie Marcel zurück.

Fiona antwortete in der gleichen Lautstärke: «Nein.»

Ihr Puls stieg.

Kälin blickte verhasst auf Rosenwiler, erhob sich und verliess mit den Worten an seine wachende Kollegin, «passen Sie auf sie auf», den Raum.

Welti konzentrierte sich reflexartig auf ihre eigene Oberarmmuskulatur und bewegte die Schulterblätter auf und ab.

Kälin ging hastig zu einem Funkgerät und nahm Kontakt zu den Beamten vor Ort auf.

«Hier Kapo-Zentrale, Kälin; wer ist vor Ort in der Rigistrasse?»

«Wir, Wagen 21, mit den Kollegen Wanner und Meyer, und hinter uns Wagen 34, mit …, ach, weiss nicht wer drinsitzt», kam sofort die Antwort.

«Walder und Schnider», ergänzte der zweite Funkkontakt.

«Wir fahren jetzt in dem Moment vor das Anwesen Rigistrasse 69.»

«Was sehen Sie?»

«Moment, wir steigen mal aus.»

Das Funkgerät übertrug Stille; Autotüren öffneten sich, wurden wieder zugeschlagen, Gesprächsfetzen, Stille. Kälin hielt das Funkgerät unbewusst immer fester. Plötzlich:

«Also, wir sind vor Ort in der Rigistrasse 69. Ein unauffälliges vierstöckiges Gebäude. Weisse, grosse Balkone, es ist ruhig. Keine verdächtigen Personen. Keine verdächtigen Fahrzeuge. Alle Fenster sind geschlossen. Sollen wir reingehen?»

«Ja. Klingeln Sie, gehen Sie rein und schauen Sie sich um. Machen Sie Anwohner ausfindig und fragen Sie die nach irgendwelchen Auffälligkeiten oder Veränderungen.»

«Okay. Machen wir.»

«Nein. Warten Sie. Falls doch etwas passiert.»

Scheisse, dachte sich Kälin. Verstärkung? Ja? Nein? Verdammt.

«Warten Sie noch.»

Kälin blickte auf eine an der Wand hängende funkgesteuerte Digitaluhr. Die dunkelgrauen Ziffern auf hellgrauem Hintergrund zeigten 14:29:09. Die Sekunden tickten so langsam, dass Kälin zwischen jeder Veränderung ein neuer Gedanke kam: Wenn das wahr ist, bin ich geliefert. Verstärkung? Evakuierung? Natürlich, wir müssten evakuieren! Aber das geht in so wenigen Sekunden nicht. Das ist ein blöder Scherz, oder?

14:29:58 – 14:29:59 – 14:30:00 – 14:30:01 –

«Und?» Kälins Stimmlage verschob sich vom Bariton zum Mezzosopran.

«Nichts», antwortete Meyer tiefenentspannt.

Kälins Blick fixierte weiter die Zahlenbewegungen an der Uhr: 14:30:10 – 14:30:11 – 14:30:12.

«Und?», fragte er ein zweites Mal.

«Immer noch nichts», erwiderte Meyer.

«Nein. Nichts. Nur zwei Vögel zwitschern. Dohlen, oder sowas Ähnliches», ergänzte Walder per Funk.

Kälin grinste und spürte Entspannung wie nach einem heissen Saunagang an einem eiskalten Wintertag.

Plötzlich schoss das Geräusch einer Explosion durch das Funkgerät und traf Kälin wie der rechte Haken von Mike Tyson am linken Ohr.

Der Polizist riss mit schlagartig zusammengekniffenen Augen den Kopf zur Seite – so weit weg vom Telefonhörer, wie es seine Armlänge ermöglichte.

Panisch drang es aus dem Funkgerät: «Scheisse. Scheisse, verdammt! Es hat gekracht. Eine Explosion. Oh verdammt!»

«Auf dem obersten Balkon ist irgendetwas in die Luft geflogen! Ein Feuerball, der ungefähr zehn Meter in die Höhe steigt. Ich kann hier unten die Hitze spüren. Verflucht. Was war das?»

Kälin fühlte eine derart intensive Verkrampfung seines Magens, dass er alle Kraft benötigte, um ein «Was?» hervorzubringen.

Die Verbindung brach ab.

«Hallo?»

«Es hagelt Putz und Dachziegel.»

«In welchem Umkreis?»

«Beton und Teile einer Dachrinne hängen in einer Baumkrone.»

Kälin war kurz davor, das Funkgerät zu zerdrücken.

«Klumpen, Fetzen, Splitter, Scherben bedecken die ganze Strasse auf einer Länge von zwanzig Metern. Oder dreissig.»

Schweigen.

«Hören Sie mich, Kälin?»

«Ja.»

«Ich glaube, ich bin taub. Es pfeift in meinen Ohren. Verflucht. Die Karosserie unseres Dienstwagens ist total übersät mit Gebäudeteilen. Und eine Staubwolke schwebt die Strasse entlang.»

Kälin kaute nervös auf seiner Unterlippe und hörte, wie die Beamten auf der anderen Seite im Chor husteten. Im Moment, als er dachte, es hätte nicht schlimmer kommen können, meldete sich der schreiende Kollege wieder:

«Es hat den vorderen Teil der Betonbrüstung des Balkons weggerissen. Das Teil ist vom vierten Stock auf den Dienstwagen der Kollegen gekracht. Das Autodach ist eingedrückt und die Seitenscheiben sind rausgeflogen. Reto ist da noch drin. Ich hoffe, wir kriegen ihn da raus.»

Die verbale Reaktion Kälins erweiterte sich auf «Scheisse, verdammte Scheisse!»

«Wir brauchen Hilfe. Sofort. Feuerwehr. Wir brauchen die Feuerwehr. Der Dienstwagen muss aufgeschnitten werden. Der Balkon brennt. Und irgendetwas Brennendes fliesst auf den darunterliegenden Balkon. Alles ist voller Scherben und Staub.»

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