Читать книгу 5 Prozent - Matthias Merdan - Страница 12
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ОглавлениеDie Grösse des Verhörraums, in den ein Festgenommener geführt wurde, verriet die Bedeutung des zu Befragenden. Im Voraus unglaubwürdige Zeugen oder harmlose Kleinkriminelle wurden in Nebenzimmern mit weniger als zwölf Quadratmetern befragt; man sass an Tischen, die nicht mehr als zwei Personen Platz boten, weil vorherzusehen war, dass sich Dritte für das Gespräch sowieso kaum interessierten.
Rosenwiler sass in einem vierzig Quadratmeter grossen Raum, ausgestattet mit zwei Mikrofonen, zwei Kameras, einem drei Meter langen Tisch, der vor einer Spiegelwand, hinter der sich wohl gerade eine grössere Anzahl Beobachter drängen würde, stand. Der Vernehmungsraum war des Weiteren so eingerichtet, wie es die Vorschriften für solche Räumlichkeiten vorsah: ohne Auffälligkeiten an den Wänden wie Bilder oder eine grelle Farbgestaltung, keine Drehstühle, die ein Herumpendeln zulassen würden, sondern Stühle mit Stuhllehnen in steilen Winkeln, um ein Entspannen zu erschweren, keine herumstehenden oder herumliegenden Gegenstände wie Zimmerpflanzen oder Möbel.
Huber und Hammermann betraten mit erhöhtem Puls und feuchten Handflächen den Verhörraum und rochen Eau d’Hadrien – konnten den Duft aber nicht identifizieren.
Die Duftnoten von sizilianischer Zitrone, Grapefruit, grüner Mandarine, Ylang-Ylang und Zypresse überforderten ihre ungeschulten Nasen.
Rosenwiler hatte vor einem Jahr Chanel No. 5 ad acta gelegt, obwohl sie ein Faible für die Modeschöpferin Coco Chanel, die Form des Flacons und die Legenden um die Entstehung des Dufts hegte. Eine besagte, dass der weltberühmte Duft nur durch einen Mischfehler entstand. Ihrer Meinung nach hatte Chanel No. 5 in der Kopfnote mit seinen typischen Anklängen an Rosenblätter und Orangenblüten ein leichtes Plus vor Eau d’Hadrien, doch war ihr die Herznote von Chanel No. 5 – Jasmin, Rose und Irisbutter – nach acht Jahren zu gewöhnlich geworden.
Carlo Hammermann spürte wieder, wie wichtig es war, schön zu sein und sich schön zu fühlen. In Anbetracht dieser bildhübschen Zürcherinnen konnte ein Mann sich schon mal unscheinbar fühlen. Ja sogar Terroristinnen sahen in dieser verdammten Stadt verdammt gut aus. Ohne hinzusehen, befühlte er seine manikürten Fingernägel und fand keine unebene oder gar spitze Stelle. Mit leichten Bewegungen seiner Zehen verinnerlichte er den makellosen Sitz der für ihn massgeschneiderten, seinem Polizistendasein Würde verleihenden Schuhe von Don Majordome aus rostbraunem Stiernackenleder.
Gott sei Dank fiel vor acht Wochen Sandro das Facelifting nicht auf. «Siehst frisch aus», lautete ein Kurzkommentar, den Hammermann aktiv überhörte. Harmonische Gesichtszüge und ein strahlender, glatter Teint für eine natürliche Schönheit durch sanfte Faltenbehandlung versprach die führende Zürcher Schönheitsklinik. Das Fadenlifting war im Gegensatz zum klassischen Lifting kein chirurgischer Eingriff, verriet deren Website. Es galt als sanfte Alternative mit kurzer Genesungszeit. Damit können abgesunkene Gesichtsteile angehoben und Ausprägungen wie Hamsterbäckchen, die Kinnlinie oder Halsfältchen gestrafft werden.
Jetzt zahlte sich die Weisheit seiner Mutter aus: Aus einem schönen Körper agiert es sich kraftvoller!
Hammermann musste sich zu einem emotionalen Kraftakt zwingen, um von plötzlich entstandenen Gedanken an sonnige toskanische Landschaften, der Urlaubsregion seiner Kindheit, auf ernstzunehmenden Zürcher Terrorismus umzuschalten.
Durfte die sich frisch machen?, fragte sich Huber.
Die beiden Herren glotzten auf Fiona Rosenwiler herab, setzten sich vor sie und befanden sich nun auf Augenhöhe. Dachten sie. Höflich bleiben. Stets höflich bleiben. Das wurde ihnen immer wieder eingebläut, bevor es durch Erfahrung zu ihrem eigenen Credo wurde. Ausbilder, Vorgesetzte, Psychologen und Supervisoren, mit denen die beiden ihre Verhöre Revue passieren liessen, vertraten die einhellige Meinung, dass man bei Verhören keinesfalls seinem Gegenüber überheblich, als Gegner oder gar Feind gegenüberstehen beziehungsweise sitzen darf. Zweiundsiebzig Prozent aller beschuldigten Frauen legten Geständnisse ab. Man beziehungsweise Mann durfte jetzt keinen Fehler machen, um diese Riesenchance zu verringern. Die Möglichkeiten, ein reuiges, schlechtes Gewissen zu erwecken, würde durch eine Konfrontationstaktik mit Drohungen und Geschrei gegen null schrumpfen.
Besonders in dieser Situation, in der extreme Zeitnot in Verbindung mit absehbarer hoher krimineller Energie wie ein überdimensionales Damoklesschwert über einer ganzen Stadt hing und drohte, einen unvorhersehbaren Einschnitt zu hinterlassen, war Contenance gefragt. Es galt, Begriffe zu vermeiden, die die Befragte einem Vorwurf aussetzten. Statt «Terroristin» mussten sie hier «Beschuldigte» sagen; statt «Bombenlegerin» besser «Unruhestifterin» oder anstatt «potenzieller Mörderin» galt es, eher von jemandem zu sprechen, der es doch nicht gutheissen kann, Unschuldige zu verletzen. Je grösser der potenzielle Gesichtsverlust, desto kleiner die Wahrscheinlichkeit eines Geständnisses. Je grösser die Dämonisierung der Verdächtigen durch die Fragesteller, desto kleiner die Wahrscheinlichkeit einer Kooperation.
Wie viele Bomben hat sie wirklich in petto? Die Masterfrage Nummer eins! Und: Handelt sie allein oder agiert sie mit einer Organisation? Masterfrage Nummer zwei! Darauf jeweils eine Antwort zutage zu fördern, war das eine grosse Ziel.
Die Taktik der beiden Verhörprofis war einstudiert.
Nach der Belehrung über ihre Rechte befragten H&H abwechselnd die Aussageperson zu einem neutralen Thema, bei dem sie aller Wahrscheinlichkeit nach die Wahrheit sagen würde. Hierbei wurden in der Regel einfache Fragen zur Person gestellt, manchmal schweifte man auf das Wetter ab. Dies ermöglichte es dem zu Vernehmenden, die sogenannte Aussageperson kennenzulernen, das sogenannte Basisverhalten zu erheben und sich ein Bild von der Aussageperson zu machen. Andererseits hatte die Aussageperson eine Möglichkeit, etwaige Unsicherheiten und Ängste in der Vernehmungssituation abzubauen. Die Schultern lockerten sich, ein Lächeln huschte über das Gesicht des Befragten, und sie setzte sich unterbewusst aufrechter auf ihren Stuhl. In dieser Phase beobachtete man das normale Verhalten der Person.
Anschliessend befragte man sie zu den tatrelevanten Zusammenhängen und zu Einzelheiten. Der Ermittler beobachtete, inwieweit Veränderungen im Vergleich zum Basisverhalten auftreten. Höchste Konzentration war vonnöten, um verbale Merkmale, wie sich veränderndes Vokabular oder gekünstelte Bühnensprache, beobachten zu können; die Analyse und die Bewertung mussten schnell geschehen.
Huber und Hammermann hatten Seitenblicke einstudiert, um nonverbal ihre Beobachtungen abzugleichen. Sie kommunizierten mit verabredeten Fingerbewegungen oder Berührungen ihrer eigenen Gesichtsteile. Sich an der linken Wange zu kratzen, bedeutete, hier müssen wir nachhaken, sich ans Ohr zu fassen, Lüge, das Hantieren mit einem Kugelschreiber, frag du sie das noch mal, umformuliert, in drei Minuten.
Durch die mehr oder weniger grosse Konstanz der Aussagen waren dann erste Bewertungen der Glaubhaftigkeit möglich.
Nicht nur das haargenaue Beobachten der verbalen und nonverbalen Kommunikation stand im Vordergrund, sondern auch die Selbstdisziplin der Aussageperson. Diese ähnelt der Selbstdisziplin eines Theaterschauspielers, der keine zweite, dritte und vierte Möglichkeit der Wiedergabe seines Textes bekommt.
Huber konzentrierte sich darauf, dass von ihm eine vertrauensbildende Körpersprache ausging. Er wusste, Gesichtszüge durfte er nicht entgleisen lassen, Interesse zeigen durch aktiven Blickkontakt. Ein respektvoller Blickkontakt durfte weder unterwürfig noch aggressiv sein. Ruhe, Freundlichkeit und Aufgeschlossenheit ausstrahlen durch entspannte Mundwinkel, glatte Stirn – alles wohldosiert im Kontext der Vernehmungssituation.
«Sandro, halte deine Nase nicht zu hoch», hatte ihm seine «Psychoschnecke» während der Ausbildung auf der Polizeischule eingebläut. Es gehe niemals darum, pädagogisch zu wirken – einzig und allein stehe die Gewinnung von Informationen im Fokus.
«Immer auf deine Mimik achten», musste sich dagegen der emotionalere Hammermann anhören. «Kein Naserümpfen, nicht auf den Tisch trommeln, nicht mit den Händen ein Spitzdach in Richtung des Gesprächspartners bilden», lehrten ihn die erfahrenen Ausbilder. «Kein Stirnrunzeln zeigen, keine angehobenen Augenbrauen oder zusammengekniffenen Lippen, die Augen nicht verdrehen», das wurde intensiv in Videotrainings eingeübt. Versteinerte Gesichtszüge galt es allerdings, ebenso zu vermeiden. Zeitweise fühlten sich die auf Verhörtechnik spezialisierenden Polizisten wie Schauspielschüler.
«Bei vertrauensbildenden Gesten dem Gesprächspartner öfters mal die Handflächen zeigen, keinesfalls Arme verschränken, kein Zeigefinger in Aktion, ruhige Sprechweise im angenehmen Tempo, in angenehmer Satzlänge», waren Merksätze, die mit fetten Filzstiften an das Whiteboard des Hörsaals geschrieben wurden.
Im individuellen Sprechtraining hatten Huber und Hammermann einen vertrauensvollen warmen Klang und eine freundliche Intonation eingeübt – etwas, das Hammermann schwerer fiel als Huber. Ein Fahrradunfall in seiner Jugend, der eine Kehlkopfverletzung nach sich zog, hinterliess einen hellen krächzenden Tonfall. Das Sprech- und Stimmtraining während der Ermittlerausbildung bestand unangenehmerweise auch aus dem Sich-selbst-Zuhören. Immer wieder wurde auf Band gesprochen und danach das Sprechorgan mithilfe von Stimmbildnern, wie ein Instrument, justiert – beherrschbar gemacht, wie sie es nannten.
«Guten Tag, mein Name ist Hammermann.»
Carlo nickte höflich etwas an ihr vorbei und wendete sich dann Huber zu, «und das ist mein Kollege Huber».
Sandro Huber verzog seine rechte Augenbraue.
Sie nickte höflich.
Beide Männer setzten sich wie in Slow Motion nacheinander vor Rosenwiler auf die der gegenüberliegenden Seite des Tisches postierten Stühle, etwa anderthalb Meter von ihr entfernt. Die Stuhlbeine kratzten auf dem Linoleumboden während des Platznehmens.
Verursacht durch diese Kratzgeräusche, war Fiona gezwungen, diskret mit ihrer linken Hand unter ihre Haare zu greifen und ihr Hörgerät zu ertasten, um dessen Lautstärke zu modifizieren.
Ein Böller eines lange zurückliegenden Strassenkampfes in Hamburg hatte bei ihr einen bleibenden Hörschaden hinterlassen. Das zerfetzte Trommelfell war zwar schnell wieder zusammengewachsen, hatte jedoch dabei Narbengewebe erzeugt. Ein hinter ihrer dunkelblonden Mähne verstecktes Hörgerät glich die kleine Behinderung grösstenteils aus, hatte jedoch bei bestimmten Frequenzen wie Kindergeschrei, quietschenden Eisenbahnbremsen oder allen Arten von Vibrationen seine Schwächen. Gerne hätte sie ein fast unsichtbares In-Ohr-Hörgerät benutzt, das komplett im Gehörgang verschwindet. Leider waren ihre Ohren zu eng, so war sie auf das unansehnliche, sogenannte Hinter-dem-Ohr-Hörgerät angewiesen. Ihre als Abstossungsreaktion gegen ihr altes Leben entstandene Eitelkeit litt unter dem Seniorensymbol. Wenigstens liess sich dieses Modell einfacher verstellen.