Читать книгу Ellingham Academy - Die Botschaft an der Wand - Maureen Johnson - Страница 11

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Februar 1936

»Es ist noch nicht angekommen, Liebes«, sagte Leonard Holmes Nair und wischte seinen Pinsel an einem Lappen ab. »Wir müssen uns noch etwas gedulden.«

Iris saß vor ihm in einem Korbsessel, der normalerweise für besseres Wetter gedacht war. Sie zitterte in ihrem weißen Mohairmantel, aber nicht vor Kälte, wie Leo vermutete. Für Mitte Februar war es relativ mild, gerade warm genug, dass er beschlossen hatte, draußen an seinem Gemälde von der Familie und dem Haus zu arbeiten. Schüler eilten von Gebäude zu Gebäude, die Arme voller Bücher, und ihr Geplauder zerschnitt die kristallene Bergstille. Ein solcher Palast – ein Wunderwerk der Architektur und Landschaftsplanung, ein Zeugnis höchster Ingenieurskunst und menschlicher Willenskraft –, alles nur für eine Schule? Leonards Ansicht nach war das, als würde man ein erlesenes Festmahl zubereiten, nur um es dann vor die Tür zu kippen und zuzusehen, wie sich die Waschbären darüber hermachten.

»Ein bisschen musst du doch wohl noch übrig haben.« Iris rutschte unruhig auf ihrem Sessel hin und her. »Du hast immer was.«

»Sieh dich lieber vor. Wir wollen schließlich nicht, dass der Schnee dich irgendwann vollends im Griff hat.«

»Danke für die Moralpredigt, Leo. Und jetzt rück schon was raus.«

Leo griff seufzend in seine Jackentasche und förderte ein Emailledöschen in Form eines Schuhs zutage. Dann schöpfte er mit dem Fingernagel eine winzige Prise weißes Pulver direkt in Iris’ ausgestreckte Hand.

»Das ist aber wirklich alles, bis ich eine neue Lieferung bekomme«, sagte er. »Den besten Stoff gibt es nun mal in Deutschland und bis der hier ist, dauert es seine Zeit.«

Iris drehte den Kopf zur Seite und schniefte das Pulver gierig auf. Als sie sich ihm wieder zuwandte, war ihr Lächeln wesentlich strahlender als zuvor.

»Schon viel besser«, seufzte sie.

»Ich hätte dich nie damit in Berührung bringen sollen.« Leo ließ die Dose zurück in seine Tasche fallen. »Hin und wieder mal ein bisschen ist ja in Ordnung. Aber wenn man sich zu sehr daran gewöhnt, übernimmt das Zeug die Oberhand. Hab ich alles schon miterlebt.«

»Wenigstens vertreibt es die Langeweile«, erwiderte Iris, während sie den Kindern zusah. »Womit soll man sich denn auch sonst die Zeit vertreiben, seit wir anscheinend ein Waisenhaus führen?«

»Das besprichst du wohl besser mit deinem Mann.«

»Da könnte ich genauso gut eine Diskussion mit dem Berg anfangen. Wenn Albert sich etwas in den Kopf gesetzt hat …«

»… dann kauft er es sich. Was für ein schreckliches Los. Glaub mir, es gibt eine Menge Leute, die liebend gern mit dir tauschen würden. Da draußen spielt sich nämlich gerade eine klitzekleine landesweite Krise ab.«

»Ich weiß«, fauchte sie. »Und schon allein deswegen sollten wir zurück nach New York. Da könnte ich eine Suppenküche eröffnen und tausend Menschen pro Tag verköstigen. Und was machen wir? Dreißig Kindern das Einmaleins beibringen? Die Hälfte davon sind sowieso nur die Bälger unserer Freunde. Wenn ihre Eltern sie so dringend loswerden wollen, täte es jedes x-beliebige Internat genauso gut.«

»Wenn ich das deinem Mann klarmachen könnte, würde ich es tun«, seufzte Leo. »Aber ich bin eben nur der Hofmaler.«

»Ein alter Esel bist du.«

»Das auch. Aber immerhin dein alter Esel. Und jetzt halt mal kurz still, deine Kieferpartie kommt gerade außerordentlich gut zur Geltung.«

Iris gehorchte, aber nach einem Moment sackte sie ein wenig in sich zusammen. Die entspannende Wirkung des Pulvers hatte eingesetzt und machte ihre perfekte Haltung zunichte.

»Hör mal«, sagte sie, »ich kenne ja deine Meinung zu dem Thema, aber … Alice wird immer größer. Es wäre gut, wenn sie irgendwann …«

»Davon willst du doch nicht ernsthaft schon wieder anfangen«, fiel er ihr ins Wort, während er mit dem Pinsel auf seine Palette tupfte und einen Hauch leuchtendes Blau ins Grau mischte. Wenn Iris sich nicht mehr konzentrieren wollte, widmete er sich eben dem Übergang zwischen Fels und Himmel. »Du hast gerade so etwas Schönes von mir bekommen und so dankst du mir dafür?«

»Ich weiß ja, mein Lieber, ich weiß. Aber …«

»Wenn Flora gewollt hätte, dass ihr erfahrt, wer der Vater ist, meinst du nicht, dann hätte sie es euch gesagt? Außerdem habe ich wirklich keine Ahnung.«

»Wenn sie es jemandem verraten würde, dann dir.«

»Stell meine Freundschaft nicht zu sehr auf die Probe«, mahnte Leo. »Bitte mich nicht um etwas, was ich einfach nicht für dich tun kann.«

»Mir reicht’s für heute«, verkündete Iris und holte ihr silbernes Zigarettenetui aus der Tasche. »Ich gehe rein und nehme ein heißes Bad.«

Sie stand auf, zog ihren Mantel zu und stolzierte über den Rasen zum Eingang der Villa.

Leo hatte ihr das Pulver ursprünglich gegeben, um ihr über die Langeweile hinwegzuhelfen – nur hin und wieder dieselbe geringe Dosis, die er auch nahm. In letzter Zeit allerdings hatte er eine Veränderung in ihrem Verhalten bemerkt: Sie war launisch, ungeduldig und geheimniskrämerisch. Ganz offensichtlich hatte sie irgendwo eine weitere Quelle aufgetan, schnupfte jetzt mehr und wurde unruhig, wenn sie auf dem Trockenen saß. Sie war auf dem besten Weg, süchtig zu werden. Ihr Mann ahnte von alldem natürlich nichts und genau das machte einen großen Teil des Problems aus. Albert regierte vergnügt sein Königreich, während Iris immer stärker ins Trudeln geriet, weil sie nichts hatte, um ihren lebhaften Geist zu beschäftigen.

Vielleicht sollten sie zusammen zurück nach New York fahren, Flora, Iris, Alice und er. Das war das einzig Vernünftige. Sie an einen Ort bringen, der ihr Ablenkung bot, und zu einem guten Arzt auf der Fifth Avenue, der sich um genau diese Art von Problemen kümmerte.

Albert würde nicht begeistert sein. Er ertrug es nicht, von Iris und Alice getrennt zu sein, schon eine einzige Nacht war ihm zu viel. Seine Hingabe an die beiden war bewundernswert. Die meisten Männer in Alberts Position hatten Dutzende Affären und in jeder Stadt eine andere Geliebte. Albert dagegen wirkte treu, was vermutlich bedeutete, dass er nur eine hatte. Vielleicht ja in Burlington.

Leo betrachtete die Szenerie vor sich, das düster daliegende Haus mit dem dahinter aufragenden Felsenvorhang. Die spätnachmittägliche Sonne tauchte alles in einen hellen Lavendelton, die nackten Bäume zeichneten sich dunkel vor dem Horizont ab, wie die freigelegten Nervenbahnen riesiger Lebewesen. Leo setzte den Pinsel auf die Leinwand und wich gleich darauf wieder zurück. Die drei Figuren auf dem Gemälde starrten ihn erwartungsvoll an. Etwas stimmte nicht, irgendwas an diesem Motiv ergab keinen Sinn.

Allgemein grassierte ja der Irrglaube, dass Reichtum die Menschen satt und zufrieden machte. Dabei traf in den allermeisten Fällen das genaue Gegenteil zu. In vielen rief er einen Hunger hervor, der sich durch nichts stillen ließ, was man auch aß. Irgendwo tat sich immer ein neues Loch auf, das gestopft werden wollte. Das alles wurde Leo nun schlagartig klar, hier im Licht des ersterbenden Sonnenuntergangs. Er erkannte es in den Gesichtern seiner Motive, an der Farbe des Horizonts. Einen Moment lang studierte er seine Palette, konzentrierte sich auf das Preußischblau und die Möglichkeiten, daraus einen Himmel von verheerender Wirkung zu erschaffen.

»Mr Holmes Nair?«

Zwei Schüler hatten sich ihm genähert, während er in seine Gedanken versunken war, ein Junge und ein Mädchen. Der Junge war schön – mit so goldenem Haar, dass jeder Dichter darüber ins Schwärmen geraten würde. Das Lächeln des Mädchens dagegen schien eine gefährliche Frage zu stellen. Was Leo außerdem auffiel, war die Lebendigkeit, die sie beide ausstrahlten. Ihre geröteten Wangen hoben sich leuchtend vor der Umgebung ab. Leo registrierte winzige Schweißspuren in ihren Gesichtern, ihre zerknitterten Kleider, das zerwühlte Haar.

Sie hatten etwas Verbotenes angestellt und es war ihnen vollkommen egal, dass man es ihnen ansah.

»Sie sind doch Leonard Holmes Nair, oder?«, fragte der Junge.

»Stimmt«, antwortete Leo.

»Ich hab letztes Jahr Ihre Ausstellung in New York gesehen, Orpheus Eins. Hat mir gefallen, sogar noch besser als Herkules.«

Der Junge hatte Geschmack.

»Du interessierst dich für Kunst?«, fragte Leo.

»Ich bin Dichter.«

Im Großen und Ganzen war Leo Dichtern gegenüber durchaus positiv eingestellt, aber man durfte sie auf gar keinen Fall von ihrer Arbeit erzählen lassen, wenn man vorhatte, weiterhin mit Genuss Lyrik zu lesen.

»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich eine Fotografie von Ihnen mache?«

»Nein, schon in Ordnung«, seufzte Leo.

Während der Junge seine Kamera hob, musterte Leo seine Begleiterin. Der Junge war hübsch; das Mädchen war interessant. In ihren Augen glitzerte eine ungezähmte Intelligenz. Sie hielt ein Buch vor die Brust gepresst, auf eine Art, die vermuten ließ, dass darin etwas stand, was ihr sehr wichtig war und vermutlich gegen die eine oder andere Ellingham-Regel verstieß. Sein geschultes Malerauge und sein verdorbener Geist sagten ihm, dass es von diesen beiden wohl das Mädchen war, vor dem man sich in Acht nehmen musste. Wenn es hier an der Ellingham Academy Schüler wie diese gab, dann war das Experiment möglicherweise doch kein völliger Fehlschlag.

»Und du, bist du auch Dichterin?«, erkundigte Leo sich höflich.

»Eindeutig nein«, antwortete sie. »Aber es gibt schon Gedichte, die ich mag. Die von Dorothy Parker zum Beispiel.«

»Das freut mich zu hören. Dorothy ist nämlich eine liebe Freundin von mir.«

Der Junge fummelte an seiner Kamera herum. Wenn Cecil Beaton oder Man Ray nach dem richtigen Winkel suchten, war das eine Sache, aber dieser Knirps begann Leo langsam auf die Nerven zu gehen, Kunstgeschmack hin oder her. Das Mädchen schien seine Ungeduld zu spüren.

»Jetzt mach schon, Eddie«, forderte sie ihn auf.

Der Junge gehorchte sofort.

»Ich will nicht unhöflich sein«, sagte Leo, der sich nie darum scherte, ob man ihn für unhöflich hielt, »aber ich würde gern das letzte Licht noch ausnutzen.«

»Komm, Eddie, wir müssen zurück.« Das Mädchen lächelte Leo zu. »Vielen Dank, Mr Nair.«

Dann gingen die beiden, der Junge in die eine Richtung, das Mädchen in die andere. Eine Weile blickte Leo dem Mädchen nach, das auf das kleine Gebäude namens Minerva zueilte. Er machte sich eine geistige Notiz, Dorothy von ihr zu erzählen, verlegte das Zettelchen jedoch umgehend auf irgendeinem vollgestellten Tischchen in seinem Kopf. Mit seinem Öltuch in der Hand massierte er sich die Nasenwurzel. Seine Vision der Villa mitsamt ihren Geheimnissen war ihm abhandengekommen. Der Moment war verstrichen.

»Jetzt ist Cocktailstunde«, sagte er sich. »Genug für heute.«

Ellingham Academy - Die Botschaft an der Wand

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