Читать книгу Ellingham Academy - Die Botschaft an der Wand - Maureen Johnson - Страница 14
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ОглавлениеBurlington war eine kleine Stadt auf einem Hügel am Ufer des Lake Champlain, der Vermont vom Staat New York trennte. Der malerische, lang gezogene See erstreckte sich bis nach Kanada hinein und bei schönem Wetter konnte man darauf segeln. Hier hatte Albert Ellingham seinen schicksalhaften letzten Bootsausflug unternommen. Burlington selbst war lange Zeit relativ schlicht und von Industrie geprägt gewesen; in den vergangenen Jahren jedoch durchwehte die Stadt ein eher künstlerisches Flair. Ateliers, Yogastudios und allerlei esoterisch angehauchte Läden wurden eröffnet. Außerdem spielte der Wintersport eine entscheidende Rolle, was sich besonders in der riesigen L.L.Bean-Filiale mit ihrer reichen Auswahl an Schneeschuhen und Skistöcken, dick gefütterten Jacken, Skiern und Stiefeln bemerkbar machte, die allesamt zu rufen schienen: »Vermont! Ihr glaubt gar nicht, wie krass kalt es hier werden kann!«
Stevie wurde vor dem Laden abgesetzt, in der Hand die Kreditkarte, die Charles ihr vor einer Stunde überreicht hatte. Es war mehr als seltsam, für einen Typen shoppen zu gehen, den sie kaum kannte. Hunter war supernett, da gab es nichts zu meckern. Er war blond und sommersprossig, studierte Ökologie und interessierte sich tatsächlich für den Ellingham-Fall. Wenn auch vielleicht nicht ganz so brennend wie Stevie oder seine Tante. Außerdem hatte er Stevie erlaubt, in Fentons Unterlagen herumzuschnüffeln. Viel hatte Stevie dabei zwar nicht entdeckt, aber zumindest war sie dadurch auf die Sache mit der Drahttonaufnahme gekommen.
Und nun war das alles in Flammen aufgegangen. Fentons gesamte Arbeit, was immer sie dabei ausgegraben und zusammengetragen hatte.
Egal, Stevie musste sich beeilen. Charles hatte ihr eine kurze Liste mit Größenangaben mitgegeben, angefangen bei einer Jacke. An schwarzen Jacken bestand nun wahrhaft kein Mangel und alle kosteten mehr, als Stevie jemals für ein Kleidungsstück bezahlt hatte. Nachdem sie ein paar Minuten planlos zwischen den Kleiderständern umhergewandert war und Preise sowie Angaben über Daunenmengen und Temperaturbereiche verglichen hatte, nahm sie einfach die erstbeste. Weiter ging es mit Pantoffeln. Die waren ihr immer ziemlich überflüssig erschienen, bis sie am ersten richtigen Wintermorgen an der Ellingham den Fuß auf den Boden gesetzt hatte. In der Sekunde, als Haut auf Fliese getroffen und ein winziger Teil ihrer Seele erfroren war, hatte sie begriffen, wofür Pantoffeln gut waren. Sie entschied sich für ein kuschelig gefüttertes Paar, das fast wie richtige Schuhe aussah und Antirutschsohlen hatte – Hunter litt unter Arthritis und brauchte manchmal eine Krücke, darum war das wohl sicherer.
Schließlich hievte sie ihre Ausbeute auf die Kassentheke, wo ein freundlicher Ladenangestellter versuchte, mit ihr ein Schwätzchen übers Skifahren und das Wetter anzufangen, was Stevie jedoch lediglich mit einem ausdruckslosen Blick quittierte, bis die Transaktion beendet war. Wenige Minuten und viele Hundert Dollar später marschierte sie mit einer vollgestopften Tüte aus dem Laden, die ihr bei jedem Schritt gegen die Knie klatschte. Sie hatte kaum noch Zeit, um zu erledigen, wofür sie eigentlich gekommen war.
Obwohl es erst später Nachmittag war, sprangen die ersten Straßenlaternen schon an. Lichterketten hingen über der Fußgängerzone und es gab Stände mit Apfelglühwein und Ahornsirup-Popcorn. Überall waren Hunde, die ihre Besitzer an der Leine hinter sich herzerrten. Stevie bahnte sich einen Weg durch die Menge, bis sie ihr Ziel erreichte – ein gemütliches kleines Café inmitten all der Yogastudios und Outdoor-Läden auf der Church Street. Larry erwartete sie bereits. Allein und mit versteinerter Miene saß er in seiner rot-schwarz karierten Flanelljacke an einem der Tische.
Larry, oder Security-Larry, wie Stevie ihn kennengelernt hatte, war der ehemalige Chef des Wachdienstes an der Ellingham Academy. Nachdem man in einem Tunnel unter der Villa Ellies Leiche gefunden hatte, war er entlassen worden. Zwar traf ihn daran absolut keine Schuld, aber offenbar hatte man einen Sündenbock gebraucht. Früher, bevor er an der Ellingham begonnen hatte, war Larry Polizist gewesen – Mordkommission. Jetzt war er arbeitslos, wirkte jedoch genauso streng und professionell wie eh und je. Auf dem Tisch vor ihm stand keine Tasse. Larry, so nahm Stevie jedenfalls an, hatte in seinem Leben noch nie mehr als zwei Dollar für einen Kaffee bezahlt und würde jetzt bestimmt nicht damit anfangen. Stevie war nicht ganz wohl dabei, einen Tisch in Beschlag zu nehmen, ohne etwas zu bestellen, also ging sie an die Theke und holte sich den billigsten Kaffee, den es gab – schlicht und schwarz in einer genauso schlichten schwarzen Tasse, ohne Schaum oder sonstigen Schnickschnack.
»Also«, sagte Larry, als sie sich zu ihm setzte. »Dr. Fenton.«
»Ja.«
»Kommst du klar?«
Stevie, die gar keinen schwarzen Kaffee mochte, nippte trotzdem daran. Situationen wie diese schrien geradezu nach bitteren Heißgetränken, die man nicht unbedingt lecker fand. Hauptsache, sie machten wach.
»Eigentlich kannte ich sie kaum«, antwortete sie nach ein paar Sekunden. »Wir haben uns nur ein paarmal getroffen. Was ist denn da genau passiert? Sie wissen doch bestimmt irgendwas.«
Larry holte geräuschvoll Luft und rieb sich das Kinn.
»Das Feuer ist in der Küche ausgebrochen«, sagte er. »Scheint, als wäre ein Brenner am Gasherd nicht richtig abgedreht gewesen. Der ganze Raum voller Gas, sie zündet sich eine Zigarette an und … Bumms. Muss das reinste Inferno gewesen sein.«
Larry neigte nicht dazu, Dinge zu beschönigen.
»Eigentlich merkt man so was natürlich«, fügte er hinzu, »aber Dr. Fenton hatte ein Alkoholproblem, das war bekannt. Den leeren Flaschen auf der Veranda nach zu schließen, hatte sich daran in letzter Zeit nichts geändert.«
»Ja, hat Hunter mir erzählt«, bestätigte Stevie. »Und die Flaschen hab ich auch gesehen. Außerdem hat sie mal erwähnt, dass sie vor ein paar Jahren ihren Geruchssinn verloren hat. Ihr ganzes Haus hat gestunken und sie hat nichts davon mitgekriegt.«
»Der Neffe hat Glück gehabt. Er war oben und auf der anderen Seite des Hauses. Ist runtergekommen, als er den Rauch gerochen hat. Da stand schon das halbe Erdgeschoss in Flammen. Erst wollte er natürlich in die Küche, aber das ging nicht. Hat sich ein paar Verbrennungen zugezogen und ordentlich Rauch eingeatmet, konnte gerade noch herausstolpern, bevor er zusammengebrochen ist. Armer Kerl. Hätte alles schlimmer kommen können, aber …«
Einen Moment lang saßen sie schweigend da und ließen das Grauen in seiner ganzen Wucht über sich hereinbrechen.
»Sie hatte Katzen«, fiel Stevie dann ein. »Hat die jemand gefunden?«
»Ja. Es gab eine Katzenklappe, dadurch sind sie entwischt.«
»Gut.« Stevie nickte. »Oder … nicht gut. Also, nur das mit den Katzen ist gut. Nicht …«
»Ich weiß, wie du das meintest«, fiel Larry ihr ins Wort. Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und richtete seinen eisigen Blick auf sie, der zwei Jahrzehnte lang Verdächtige ins Schwitzen gebracht haben musste.
»Glück währt nicht ewig«, sagte er schließlich. »Drei Tote haben wir schon – Hayes Major und Element Walker an der Schule und jetzt Dr. Fenton. Drei Menschen, die alle irgendwie mit der Ellingham zu tun hatten. Drei Menschen, die du kanntest. Drei Menschen innerhalb von drei Monaten. Das ist eine ganze Menge, Stevie, darum bitte ich dich noch mal: Überleg dir, ob du an der Schule bleiben möchtest.«
Stevie starrte auf den ölig schimmernden Film, der sich auf ihrem Kaffee gebildet hatte. Die Leute ein paar Tische weiter lachten zu laut. Es lag ihr auf der Zunge: Ich hab ihn aufgeklärt. Den Kriminalfall des Jahrhunderts. Ich weiß, wer der Täter war. Die Wörter stapelten sich hinter ihren geschlossenen Lippen, drängten sich gegen ihre Zähne und dann … zogen sie sich wieder zurück.
Und das war auch besser so. Einem professionellen Kriminalermittler brauchte man wohl kaum damit zu kommen, dass einem irgendeine alte Tonaufnahme und das eigene Bauchgefühl verraten hatten, wer einen der rätselhaftesten Morde der amerikanischen Geschichte begangen hatte. Es sei denn, man legte es darauf an, sich komplett lächerlich zu machen.
»Was ist?«, fragte Larry. »Du verschweigst mir doch was.«
Nachdem sie beschlossen hatte, das Wichtigste für sich zu behalten, suchte Stevie fieberhaft nach etwas anderem, was sie ihm anbieten konnte. Etwas Glaubhaftem, Interessantem. Ihr Gehirn stürzte sich auf den nächstbesten Informationsfetzen und presste ihn hervor, noch ehe sie entscheiden konnte, ob es klug war, Larry davon zu erzählen, oder nicht.
»David«, sagte sie. »Er hat sich zusammenschlagen lassen. Und jetzt ist er weg.«
»Ich hab das Video gesehen«, erwiderte er.
»Echt?«
»Ich hab auch ein Handy.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich mag zwar alt sein, aber ich verfolge alles, was mit der Ellingham zu tun hat. Was soll das heißen, zusammenschlagen lassen? Und wieso ist er weg?«
»Das soll heißen«, erklärte sie, »dass er ein paar Skater dafür bezahlt hat. Sogar dafür, dass sie es filmen. Und dann hat er das Video selbst hochgeladen, noch an Ort und Stelle. Ich war dabei, ich hab alles gesehen.«
Larry rieb sich nachdenklich die Schläfe.
»Um das noch mal klarzustellen: Er hat sich zusammenschlagen lassen und dann sofort das Video hochgeladen?«
»Ja.«
»Und dann ist er abgehauen. Und das war hier in Burlington?«
»Ja.«
»Am selben Tag, als Dr. Fentons Haus abgebrannt ist?«
»Das hat nichts miteinander zu tun«, wehrte Stevie ab. »Er kannte Dr. Fenton ja nicht einmal.«
Doch noch bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, kam ihr ein Gedanke. Wenn sie nicht so viel um die Ohren gehabt hätte, wäre es ihr sicher schon längst eingefallen. David hatte zwar Dr. Fenton nicht gekannt, aber dafür war er ihrem Neffen begegnet. Hunter und Stevie hatten zusammen einen Spaziergang gemacht, als sie auf David und die Skater trafen.
Na, du verlierst ja keine Zeit, hatte er gesagt. Dein Neuer. Glückwunsch. Wann ist denn die Hochzeit?
War David etwa eifersüchtig gewesen? So eifersüchtig, dass er … Hunters Haus in Brand steckte?
Nein. Er hatte doch einfach nur gewohnt sarkastisch reagiert. Oder?
Larry setzte seine Lesebrille auf und zog sein Handy aus der Tasche. Er sah sich das Video von David noch einmal an und drückte am Ende auf Pause.
»Stevie.« Er hielt ihr ein Standbild von Davids blutigem Gesicht hin. »Ein Junge, der es fertigbringt, jemanden dafür zu bezahlen, dass er ihm so was antut, und das Ganze dann auch noch online stellt – der ist zu allem Möglichen fähig. Die Kings …« Er senkte hastig die Stimme. »Diese Familie macht nur Ärger.«
»Das da« – Stevie deutete auf das Handy – »das hat er nur veranstaltet, um seinem Dad eins auszuwischen.«
»Das spricht nun nicht gerade für ihn«, bemerkte Larry. »Hör mal, Stevie, der Junge tut mir ja auch leid. Ich weiß, dass er eigentlich kein übler Kerl ist, und ich vermute mal, das Problem liegt eher bei seinem Vater. Aber David hat auch früher schon oft über die Stränge geschlagen. Und nicht zuletzt war er gut mit Element Walker befreundet. Ihre Leiche zu finden, muss ein Schock für ihn gewesen sein. So was steckt man nicht einfach so weg.«
Das stimmte. David hatte einen Komplettzusammenbruch erlitten und auch Stevie war kaum mit der Situation zurechtgekommen und in Panik geraten. Sie hatte ihn im Stich gelassen, weil sie einfach nicht mehr wusste, wie sie mit ihm umgehen sollte. Schuldgefühle stiegen in ihr auf und durchtränkten alles – den Geschmack ihres Kaffees, die Gerüche um sie herum, die Kälte, die vom Fenster hereinzog. Schuldgefühle und Paranoia. Sie spürte ein Wummern in der Brust – der Angstmotor war gestartet.
»Hast du irgendeine Ahnung, wo er sein könnte?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Steht ihr in Kontakt?«
Wieder Kopfschütteln.
»Würdest du mir dein Handy zeigen und es mir beweisen?«, fragte er.
»Das ist die Wahrheit.«
»Versprich mir eins, Stevie: Wenn David sich bei dir meldet, dann musst du mir Bescheid geben. Ich behaupte ja gar nicht, dass er wirklich was mit dem Brand zu tun hatte. Ich fürchte eher, er könnte eine Gefahr für sich selbst sein.«
»Okay«, sagte Stevie. »Versprochen.«
Der Raum fing an zu pulsieren und alle Konturen stachen überdeutlich hervor. Eine Panikattacke kratzte an der Oberfläche und sie würde sie bald durchbrechen. Verstohlen durchwühlte Stevie ihren Rucksack nach dem Schlüsselring, an dem ein kleines Metallröhrchen hing. Mit zitternden Händen schraubte sie es auf und leerte es unter dem Tisch in ihre Handfläche. Ihre Notfall-Lorazepam, die sie stets dabeihatte. Atmen, Stevie. Einatmen, bis vier zählen. Halten, bis sieben zählen. Aus, bis acht zählen.
»Ich muss los«, sagte sie, schon im Aufstehen.
»Stevie«, mahnte Larry. »Versprich mir, dass du dich in Acht nimmst.«
Er musste nicht erklären, wovor. Vor allem und nichts. Vor der dunklen Silhouette im Wald, der knarzenden Bodendiele. Vor dem, was all diesen Unfällen zugrunde lag.
»Ich melde mich«, beteuerte sie. »Wenn ich von David höre, gebe ich Ihnen Bescheid. Aber jetzt muss ich mal dringend.«
Sie schnappte sich ihren Rucksack und wankte Richtung Toilette, wo sie die Tablette schluckte und anschließend den Mund unter den Wasserhahn hielt, um sie hinunterzuspülen. Dann richtete sie sich wieder auf, wischte sich das Kinn ab und betrachtete ihr blasses Gesicht im Spiegel. Auch dieser Raum pulsierte. Es würde eine Weile dauern, bis die Wirkung der Tablette einsetzte.
Sie verließ die Toilette und wartete im Flur darauf, dass Larry ging. Ihr gegenüber hing eine Pinnwand mit Werbung für Massagepraxen, Musikunterricht, Yoga- und Töpferkurse. Gerade als Stevie sich zum Gehen wenden wollte, fiel ihr Blick auf einen blauen Zettel ganz unten rechts. Sie blieb stehen und sah genauer hin:
BURLINGTON-CABARET DE DADA DADA DADA DADA
Komm und sieh dir das Nichts an. Nimm dir ein Geräusch.
Es herrscht Tanzpflicht und -verbot. Alles ist mjam.
Hauptquartier des Aktionskunstkollektivs Burlington
Jeden Samstagabend um 21 Uhr
Der Eintritt bist du
Dazu ein Foto von jemandem, der gold und blau angemalt war und mit einem Schlachtermesser Geige spielte, jemandem mit Pappkartons an Händen und Füßen und im Hintergrund, das Saxofon hocherhoben …
Ellie.