Читать книгу Ellingham Academy - Die Botschaft an der Wand - Maureen Johnson - Страница 12
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»Ich muss mir etwas von der Seele reden«, log Stevie.
Sie saß vor einem massiven Schreibtisch, der den Großteil des Raumes einnahm. Es war einer der schönsten in der ganzen Villa. Ursprünglich hatte er Iris Ellingham als Ankleidezimmer gedient. Die silbergraue Tapete an den Wänden war noch original erhalten und passte zur aktuellen Farbe des Himmels. Anstelle eines Schminktischs jedoch standen hier nun Büromöbel.
Stevie bemühte sich, den Mann hinter dem Schreibtisch – den mit dem graublonden Haarwust und der modischen Brille, dem Iron-Man-Shirt und dem schmal geschnittenen Blazer – nicht direkt anzusehen, und konzentrierte sich deshalb auf den gerahmten Druck an der Wand zwischen den beiden Fenstern. Sie kannte dieses Bild gut. Es war eine illustrierte Karte der Ellingham Academy, die allen Infobroschüren über die Schule beilag. Auch als Poster konnte man sie kaufen. Sie war einfach eins von diesen allgegenwärtigen Dingen, über die man nie genauer nachdachte, und eher künstlerisch als maßstabsgetreu. Die Gebäude zum Beispiel waren riesig und bis ins kleinste Detail ausgestaltet. Stevie hatte gehört, die Karte sei von einer ehemaligen Schülerin gezeichnet worden, die später Kinderbuchillustratorin geworden war. Dies war die für die Außenwelt bestimmte Illusion der Ellingham Academy – freundlich und wie aus dem Bilderbuch.
»Freut mich, dass du dafür zu mir gekommen bist«, entgegnete Charles.
Das glaubte Stevie ihm sofort. Charles legte nämlich großen Wert darauf, lustig und relaxt herüberzukommen, was man bereits aus den Stickern und Zetteln an seiner Tür schließen konnte, auf denen Sprüche wie »DER KLÜGERE HINTERFRAGT«, »WISSENSCHAFT HEISST WISSENSCHAFT, WEIL SIE WISSEN SCHAFFT« oder »ICH BIN NICHT VERRÜCKT, MEINE REALITÄT IST NUR ANDERS ALS DEINE« standen. Das größte Schild von allen war genau in die Mitte gepinnt. »REDEN HILFT!« prangte handschriftlich darauf. Iris Ellinghams Fensterbretter wurden heute von Funko Pop!-Figuren bevölkert, die sich den Platz mit gerahmten Fotos von, wie Stevie annahm, Charles’ Rudermannschaften aus Cambridge und Harvard teilten. Denn von der Fassade des gut gelaunten Kummerkastenonkels durfte man sich keinesfalls täuschen lassen. Charles war hochgebildet, so wie alle Ellingham-Lehrer, die sich, strotzend vor Eliteuniabschlüssen, akademischen Auszeichnungen und Berufserfahrung, aufmachten, um hier oben zu unterrichten.
Das Problem war nur: Stevie hatte gar nicht vor, über ihre Gefühle zu reden. Manchen Leuten fiel es leicht, ihr Innerstes für jeden, der des Weges kam, nach außen zu kehren. Stevie dagegen würde lieber eine Handvoll Bienen zum Frühstück verspeisen, als jemandem mitzuteilen, wie sie sich fühlte. Meistens wollte sie das ja nicht mal selbst wissen. Und darum musste sie es jetzt irgendwie hinkriegen, offen und verletzlich zu wirken, ohne dabei wahre Emotionen preiszugeben, denn das war echt ekelhaft. Stevie weinte nicht und erst recht nicht vor Lehrern.
»Ich versuche immer noch, das Ganze zu … verarbeiten«, sagte sie.
Charles nickte. Verarbeiten war ein gutes Wort für jemanden, der solchen Psychokram liebte, gleichzeitig jedoch nüchtern genug, um in Stevie keinen Würgereiz hervorzurufen.
»Stevie.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß schon gar nicht mehr, was ich sagen soll. Das war ein trauriges Jahr für uns alle. Und du hattest besonders viele Berührungspunkte mit diesen ganzen Ereignissen. Du hast dich bisher wirklich tapfer geschlagen, obwohl das niemand von dir erwartet, vergiss das bitte nicht. Es gibt keinen Grund, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.«
Beinahe wäre er mit diesen Worten zu ihr durchgedrungen. Stevie hatte es tatsächlich satt, immer die Tapfere zu geben. Es war so anstrengend. Unter ihrer Haut kribbelte die Angst wie ein Alien, das jeden Moment aus ihr herausplatzen könnte.
Plötzlich zog ein lautes Ticken ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie wandte sich zum Kaminsims um, auf dem eine große Uhr stand. Diese Uhr hatte früher ihren Platz in Albert Ellinghams Arbeitszimmer gehabt. Es war ein besonders schönes und sichtlich wertvolles Stück, kieferngrün mit goldener Äderung. Es hieß, Marie Antoinette persönlich habe diese Uhr einst einer befreundeten Adligen geschenkt. Ob das bloß ein Märchen war? Oder, wie so vieles hier, unglaublich, aber wahr?
Nachdem Charles gut eingestimmt war, wurde es Zeit, dass Stevie an das gelangte, was sie wirklich wollte – Informationen.
»Darf ich Sie was fragen?«, fing sie an.
»Selbstverständlich.«
Sie starrte auf die grüne Uhr, deren grazile, uralte Zeiger noch immer einwandfrei über das Zifferblatt wanderten. »Es geht um Albert Ellingham«, sagte sie.
»Na, über den weißt du höchstwahrscheinlich mehr als ich.«
»Ich hab da was über sein Testament gehört. Angeblich steht dadrin, wenn irgendjemand Alice findet, kriegt diese Person Ellinghams ganzes Geld. Oder jedenfalls einen ziemlich dicken Batzen davon. So eine Art Finderlohn. Und sollte sie nicht gefunden werden, bekommt die Schule das Geld. Ich dachte erst, das wäre bloß ein Gerücht … aber Dr. Fenton hat es wohl geglaubt. Sie als Schulleiter müssten doch über so was Bescheid wissen. Und hieß es nicht auch letztens, die Schule würde bald mehr Mittel zur Verfügung haben?«
Charles lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.
»Weißt du, ich will ja nicht schlecht von irgendjemandem reden«, begann er, »schon gar nicht, wenn dieser Jemand erst vor Kurzem auf tragische Weise ums Leben gekommen ist, aber wie sich herausgestellt hat, hatte Dr. Fenton so einige Probleme, über die wir uns nicht vollends im Klaren gewesen sind.«
»Sie war Alkoholikerin. Doch das heißt ja nicht, dass sie falschlag.«
»Nein«, räumte er ein. »Aber meines Wissens steht im Testament nichts von so einer Belohnung. Es gibt allerdings eine Summe, die an Alice selbst gegangen wäre, wenn sie noch leben würde. Die wird bald freigegeben. Daher konnten wir schon mal den Kunstschuppen bauen und ein paar weitere neue Gebäude werden auch noch dazukommen.«
Und zack, lösten sich Fentons Theorien in Rauch auf.
Genau wie ihr Haus.
»Darf ich dich jetzt auch was fragen?«, fuhr Charles fort. »David Eastman ist nach Burlington gefahren und nicht zurückgekehrt. Eigentlich will ich dich da ungern mit reinziehen, du hast schließlich schon genug mitgemacht. Aber Davids Vater …«
»… ist Senator King.«
»Dachte ich mir schon, dass du Bescheid weißt.« Er nickte ernst. »Normalerweise versuchen wir das hier so gut wie möglich geheim zu halten – aus Sicherheitsgründen. Beim Sohn eines Senators sind nun mal gewisse Vorsichtsmaßnahmen erforderlich. Und dieser spezielle Senator …«
»… ist ein Monster«, ergänzte Stevie.
»Nun ja, jedenfalls vertritt er sehr kontroverse politische Thesen, denen wir nicht alle zustimmen. Aber du hast es eigentlich treffender ausgedrückt.«
Stevie und Charles grinsten sich verschwörerisch zu.
»Ich will ganz offen zu dir sein, Stevie. Ich weiß, dass Senator King dafür gesorgt hat, dass du an die Schule zurückkehren konntest. Und vermutlich hast du dich dabei nicht sonderlich wohlgefühlt.«
»Er saß bei uns im Wohnzimmer.«
»Bist du eng mit David befreundet?«, fragte er.
»Äh …«
Stevie hatte noch alles vor Augen, jeden Moment. Ihren ersten Kuss. David und sie in ihrem Zimmer auf dem Fußboden. Sie beide allein im Tunnel. Seine Locken unter ihren Fingern. Sein Körper, drahtig und stark und warm und …
»Wir wohnen halt im selben Haus«, sagte sie dann.
»Und du hast keine Ahnung, wo er ist?«
»Nein«, antwortete sie. Und das war die Wahrheit. Sie hatte tatsächlich keine Ahnung. Er hatte auf keine ihrer Nachrichten reagiert. »David ist … nicht so mitteilungsbedürftig.«
»Um ehrlich zu sein, Stevie, wir stecken ziemlich in der Bredouille. Wenn es jetzt auch nur noch den kleinsten Zwischenfall gibt, weiß ich nicht, wie wir die Schule am Laufen halten sollen. Falls David sich doch irgendwann meldet, würdest du mir dann Bescheid geben?«
Das war eine berechtigte und vernünftige Bitte. Stevie nickte.
»Danke«, sagte er. »Wusstest du übrigens, dass Dr. Fenton einen Neffen hatte? Er studiert in Burlington und hat mit ihr zusammengewohnt.«
»Hunter.« Stevie nickte.
»Tja, er hat jetzt leider kein Zuhause mehr. Und da Dr. Fenton der Ellingham Academy so lange eng verbunden war, hat die Verwaltung beschlossen, dass er fürs Erste hier wohnen darf. Bei euch in Minerva sind ja nun ein paar Zimmer frei …«
Das stimmte. Jetzt, da die Hälfte seiner Bewohner verschwunden oder tot war, kam ihr das nächtliche Knacken und Knarzen des halb leeren Hauses noch unheimlicher vor.
»Zur Uni kann er auch von hier aus fahren. Wir hatten einfach das Gefühl, das wäre das Mindeste, was wir für ihn tun können. Und ich glaube, er interessiert sich genauso sehr für die Schule wie seine Tante.«
»Wann kommt er denn?«
»Morgen, sobald er aus dem Krankenhaus entlassen wird. Es geht ihm gut, aber sie haben ihn eine Weile zur Beobachtung dabehalten und damit die Polizei ihn befragen konnte. Er hat bei dem Brand alles verloren, darum wollen wir von der Schule versuchen, ihn wenigstens mit dem Grundlegendsten zu versorgen. Leider hatte ich wegen der Sache mit David noch keine Zeit, selbst nach Burlington zu fahren, doch wenn du möchtest, könnte ich dir eine Genehmigung ausstellen, sodass du ein paar Sachen für ihn einkaufen kannst. Vermutlich kannst du sowieso viel besser beurteilen, was ihm gefallen würde, als so ein alter Knacker wie ich.«
Er klappte seine Brieftasche auf, zog eine Kreditkarte heraus und reichte sie Stevie.
»Er braucht auf jeden Fall eine neue Jacke, Winterstiefel, dann noch einige andere warme Klamotten, Socken, Hausschuhe … Wäre gut, wenn du möglichst unter tausend Dollar bleiben könntest. Ich lasse dich von einem der Wachleute zu L.L.Bean fahren und dann könntest du ein Stündchen durch die Stadt bummeln. Meinst du, so ein kleiner Ausflug würde dir vielleicht guttun?«
»Definitiv«, sagte Stevie.
Was für eine unerwartete, aber überaus willkommene Entwicklung. Vielleicht war es ja doch nicht so schlecht, sich hin und wieder ein wenig zu öffnen.
Sobald Stevie wieder nach draußen trat, zog sie ihr Handy aus der Tasche und schrieb:
Komme nach Burlington. Können wir uns treffen?
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
Wann und wo?
Zeit, sich ein paar wirkliche Informationen zu beschaffen, dachte Stevie zufrieden.