Читать книгу Ellingham Academy - Die Botschaft an der Wand - Maureen Johnson - Страница 16

4. April 1936

Оглавление

Dynamit gab es an der Ellingham Academy zur Genüge.

Kistenweise stapelten sich die mattbeigefarbenen Stangen mit der aufgedruckten Warnung – ein wunderbarer Anblick. Dynamit, um Felsbrocken wegzusprengen und Berge einzuebnen. Dynamit für Tunnel. Ihr Herz schlug einzig und allein für Dynamit. Nicht für Eddie. Sondern Dynamit.

Als sie neu an der Schule war, hatte Albert Ellingham sie einmal eine Stange davon in die Hand nehmen lassen und sich über ihre Begeisterung lustig gemacht. Danach hatte Francis permanent auf der Lauer gelegen. Das Schulgelände war inzwischen mehr oder weniger fertig, darum wurde es nicht mehr so häufig eingesetzt wie zuvor, aber hin und wieder hörte sie dennoch jemanden vom Wachpersonal das Zauberwort sagen und folgte ihm verzückt. Während einer dieser Touren bekam sie mit, wie jemand fragte, was er mit irgendwelchen Holzresten anstellen sollte.

»Wirf sie doch ins Loch«, riet ihm sein Kollege.

Francis beobachtete, wie der Mann zu einer der Statuen trat, davor in die Hocke ging und in eine Öffnung im Boden hinunterkletterte.

Sobald die Luft rein war, begann Francis, Nachforschungen anzustellen. Es dauerte seine Zeit, bis sie dahinterkam, wohin der Mann verschwunden sein musste. Direkt unterhalb der Statue lag ein flacher Stein, der mit ziemlicher Sicherheit eine getarnte Luke war. Wieder verging eine Weile, bis es ihr gelang, sie zu öffnen – Albert Ellingham liebte nun mal Spielchen und architektonische Rätsel –, aber irgendwann entdeckte sie den Mechanismus. Der Stein schwang nach unten auf und gab den Blick auf eine Öffnung mit einer Holzleiter frei.

Das, was sie unter der Erde fand, erweckte den Anschein eines nicht abgeschlossenen Projekts. Francis fühlte sich an ihre Mutter erinnert, die sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, sie bräuchte unbedingt ein Musikzimmer, bis ihr schließlich einfiel, dass sie weder ein Instrument spielte noch sonderlich gern Musik hörte. Derart fixe Ideen und dann jähes Desinteresse, wie bei einem Bildhauer, der nach den ersten Schlägen mit dem Meißel beschloss, dass Stein sowie Motiv nicht nach seinem Geschmack waren … das war typisch für reiche Leute. Sie ließen ständig Dinge unvollendet.

Aber das hier war eine vollkommen andere Größenordnung als das Musikzimmer ihrer Mutter. Der vordere Teil des Raums war wie eine Tropfsteinhöhle gestaltet, mit unzähligen, eindeutig künstlichen Stalaktiten und Stalagmiten, einer gewölbten Decke und grobem, scheinbar unbehauenem Fels an den Wänden. Der rückwärtige Teil wurde schmaler und führte um die Ecke zu einem Felsendurchgang, hinter dem sich ein unterirdisches Wunderland auftat – eine Grotte. Ein mannstiefer Graben war darin ausgehoben worden, in dem Zementsäcke und stapelweise Ziegelsteine auf ihren Einsatz warteten. Die gegenüberliegende Wand zierte ein Fresko und in einer Ecke lag eine schwanenförmige goldene Gondel auf der Seite. Weitere halb fertige Tropfsteine sprossen aus Decke und Boden, sodass man sich fühlte wie in einem Mund voller abgebrochener Zähne. Und überall Müll – Bierflaschen, Schaufeln mit kaputtem Stiel, Zigarettenschachteln.

Nachdem die Steinluke monatelang zugefroren gewesen war, hatte es nun endlich angefangen zu tauen und Francis konnte Eddie die Grotte zeigen. Mehrmals pro Woche stiegen sie hinunter, um ihren geheimen Umtrieben nachzugehen. Und die waren nicht nur körperlicher Natur – denn die abgeschiedene Höhle erwies sich auch als überaus nützlich, wenn sie in Ruhe an ihrem Vorhaben tüfteln wollten.

Wenn sie ihren Plan, der Ellingham Academy für immer den Rücken zu kehren, eines Tages in die Tat umsetzten, wäre es Eddies Aufgabe, die Waffen zu besorgen. Das Dynamit dagegen fiel in Francis’ Zuständigkeitsbereich. Für die erste Etappe ihrer Flucht würden sie ein Auto aus der Garage hinter der Villa stehlen, es jedoch direkt in Burlington gegen ein anderes austauschen. Sie breiteten Landkarten auf dem Boden der Grotte aus, um ihre Route zu planen. Sie würden Richtung Süden fahren, durch New York, Pennsylvania, West Virginia, Kentucky … mitten durchs tiefste Kohlebergbaugebiet. Zu Beginn nur Kleinstädte. Im Schutz der Dunkelheit in die Bank einbrechen und den Safe sprengen. Wenn möglich ohne Blutvergießen. Immer weiter, bis nach Kalifornien, und dann …

… vielleicht der Absprung. Selbst Bonnies und Clydes Weg hatte in Louisiana ein Ende gefunden, als die Polizei ihnen auflauerte und ihren Ford V8 mit Schüssen durchsiebte, bis er mehr aus Löchern als Blech bestand. Bonnie und Clyde hatten begriffen, worum es wirklich ging. Sie waren Poeten, sagte Eddie, und ihre Tinte Gewehrkugeln.

All diese Details wanderten in Francis’ Tagebuch: mögliche Fahrtrouten, Sprengstoffanleitungen und jede Menge Tricks aus ihren Kriminalmagazinen.

Auch an diesem Nachmittag im April waren Francis und Eddie wieder einmal in der Grotte gewesen. Eddie hatte einen Ring aus Kerzen aufgestellt und ein Pentagramm in die Erde gekratzt. Solche Sachen machte er oft – er liebte heidnische Symbole. Francis fand dieses Getue affig; schließlich war das hier ein Geheimversteck und kein unterirdischer Tempel. Aber wenn sie selbst ihren Spaß wollte, musste sie Eddie auch seinen lassen, also sagte sie nichts.

»Heute«, verkündete sie, während sie ihre Tasche mit den Utensilien abstellte, »spielen wir was.«

»Mhm, das gefällt mir.« Eddie legte sich in seinem Kerzenkreis auf den Boden und zog sein Hemd ein Stückchen hoch. »Was genau hattest du denn im Sinn?«

»Das Spiel heißt ›Albert Ellingham erschrecken‹.«

»Ach so.« Eddie stemmte sich auf die Ellbogen hoch. »Nicht gerade das, worauf ich gehofft hatte, aber ich bin ganz Ohr.«

»Er hat mich ausgelacht«, erklärte Francis. »Als er mir das Dynamit gezeigt hat. Denkt wohl, ich könnte nicht mit Sprengstoff umgehen, bloß weil ich ein Mädchen bin. Und darum werden wir uns ein bisschen mit ihm vergnügen. Wir stellen ihm ein Rätsel. Die liebt er schließlich. Und zwar so eins wie dieses hier.«

Francis griff in ihre Tasche und zog einen Stapel Zeitschriften hervor. Ganz oben lag eine Ausgabe von Wahre Detektivfälle und Francis blätterte vor bis zu einer mit einem Eselsohr markierten Seite. Darauf war ein Erpresserbrief aus aufgeklebten Buchstaben zu sehen. Eddie rollte sich auf den Bauch und nahm die Zeilen genauer in Augenschein.

»Ein Gedicht«, stellte er fest.

»Eine Warnung in Gedichtform.«

»Jedes gute Gedicht beinhaltet eine Warnung«, entgegnete er. (Francis widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen.) »Wie fangen wir an? Seht mal, ein Rätsel …«

Francis schlug ihr Tagebuch auf und schrieb mit. Seht mal, ein Rätsel. Gar nicht schlecht. In solchen Dingen vertraute sie voll und ganz auf Eddies Talent.

»Wir könnten etwas in der Art von Dorothy Parkers Gedicht Resumé versuchen«, redete Eddie weiter. »Darin listet sie Methoden auf, sich umzubringen. Bei uns wären es dann aber Methoden, jemand anderen umzubringen. Seht mal, ein Rätsel, das erfordert Geschick …«

»Nehmen wir die Pistole oder lieber den Strick?«, schlug Francis vor.

Und so ging es munter weiter … Messer sind scharf und glänzen fein … Gift wirkt langsam, das darf nicht sein … Stürze, Löcher im Kopf, Bomben … Und dann die Schlussformel: Mit freundlichen Grüßen, ein Wahrhaftiger Lügner. Das stand für sie beide.

Jetzt gingen sie zum zweiten Teil des Plans über. Francis breitete die Zeitungen und Magazine auf dem Boden aus, die sie wochenlang gesammelt hatte: Photoplay, Movie News, die Times, das Life-Magazin, der New Yorker – allesamt aus dem Müll gekramt, aus der Bibliothek entwendet oder Gertie stibitzt. Dann holte sie die Nähschere aus der Tasche, die sie an Weihnachten dem Hausmädchen ihrer Mutter gestohlen hatte, und dazu eine Pinzette. Briefpapier und Umschlag hatte sie bei Woolworth gekauft. Ein paar Zeitschriften, eine Schere, Papier und Leim. Alles ganz alltägliche, harmlose Sachen.

Sie arbeiteten penibel genau, schnitten Buchstaben für Buchstaben aus, tupften Leim darauf und arrangierten sie sorgfältig zu Wörtern. Es kostete sie mehrere Stunden, genau die zu finden, die sie brauchten, und sie im exakt richtigen Winkel aufzukleben. Francis bestand darauf, dass sie dabei Handschuhe trugen. Zwar schien es ihr eher unwahrscheinlich, dass jemand den Brief auf Fingerabdrücke untersuchen würde, aber Vorsicht war besser als Nachsicht.

Als ihr Werk vollendet war, legten sie es zum Trocknen beiseite und wandten sich einander zu. Der Nervenkitzel ihres Vorhabens hatte sie heiß aufeinander gemacht. Sicherlich gab es an der Ellingham noch andere Pärchen – ein oder zwei –, die bereits miteinander geschlafen hatten, voller Scham und schlechtem Gewissen. Eddie und Francis dagegen kamen ohne Angst, ohne Zögern zusammen. Wenn man plante, gemeinsam auf Verbrechenstour zu gehen, verblasste jegliche Sorge davor, womöglich nackt miteinander erwischt zu werden, und abgesehen davon befand sich ihr Liebesnest unter der Erde, getarnt durch einen Stein. Sicherer ging es kaum.

Sobald sie sich eine Weile später verschwitzt voneinander lösten, griff Francis nach ihren Kleidern, schüttelte sie aus und zog sich an.

»Los, wir müssen gehen«, kommandierte sie.

»Ich will aber nicht.«

»Steh auf.«

Eddie stand auf. Widerwillig zwar, aber er gehorchte.

Francis, die mittlerweile wieder vollständig bekleidet war, packte die Utensilien zurück in ihre Tasche. Dann streifte sie abermals ihre Handschuhe über und faltete den Brief zusammen.

»Ich habe jemanden, der ihn für uns in die Post gibt«, sagte sie, während sie das Blatt behutsam in den Umschlag schob. »In Burlington, damit der Stempel von dort stammt.«

»Und wie erfahren wir, ob er ihn bekommen hat?«

»Ach, das wird man ihm schon anmerken, da bin ich mir sicher. So, ich muss jetzt wirklich zurück. Miss Nelson hat mich sowieso schon auf dem Kieker. Sie traut mir nicht.«

»Völlig zu Recht.«

Sie kletterten zurück ans Tageslicht. Francis sah blinzelnd auf die Uhr.

»Wir sind spät dran«, sagte sie. »Das gibt Ärger. Schnell jetzt.«

»Einmal noch«, forderte Eddie und umfasste ihre Taille. »Im Stehen am Baum, wie die Tiere.«

»Eddie …« Die Idee war verlockend, aber schließlich schob Francis ihn von sich. Er knurrte und jagte ihr spielerisch nach. Francis rannte lachend davon, ihre Tasche fest unter den Arm geklemmt. Die Luft war frisch und voller Düfte. Ihr Plan nahm immer mehr Gestalt an. Bald würden sie das alles hier hinter sich lassen und sich in ihr Abenteuer stürzen, nur Eddie und sie. Weit weg von New York, weit weg von der feinen Gesellschaft – auf der Straße Richtung Freiheit, Wildheit, Leidenschaft, garniert mit Küssen und Gewehrfeuer.

Als sie den belebteren Teil des Schulgeländes erreichten, gesellte sich Eddie zu ein paar seiner Hausgenossen, während Francis auf Minerva zuhielt. Zwar war die Gleichberechtigung hier an der Ellingham schon weiter fortgeschritten als an vielen anderen Orten, dennoch galten für die Mädchen noch immer strengere Regeln als für die Jungen. Sie mussten früher zu Hause sein, um sich auszuruhen, zu lernen und sich für das Abendessen umzuziehen.

Francis stieß die Tür auf und fand sich prompt Miss Nelson gegenüber, die kerzengerade auf dem Sofa saß, ein dickes Buch auf dem Schoß. Auch Gertie van Coevorden war da. Sie schenkte Francis kurz ihr dümmliches Lächeln und widmete sich dann wieder ihrer Filmzeitschrift, der einzigen Lektüre, auf die sie sich je einzulassen schien. Falls in Gertie van Coevordens Kopf auch nur zwei Gehirnzellen herumschwirrten, wären sie sicherlich erstaunt über die Existenz der jeweils anderen. Was man Gertie dagegen zugestehen musste, war ein untrügliches Gespür dafür, wann jemand anders Ärger bekommen würde, und so war sie stets rechtzeitig vor Ort.

»Ganz schön spät, meinst du nicht, Francis?«, begrüßte Miss Nelson sie.

»Tut mir leid, Miss Nelson«, erwiderte Francis in einem Tonfall, der verriet, dass es ihr ganz und gar nicht leidtat. Es war, als fehlten ihr schlicht die körperlichen Voraussetzungen dafür, Reue zu zeigen. »Ich war in der Bibliothek und hab nicht auf die Uhr geguckt.«

»Dann ist die Bibliothek wohl wesentlich schmutziger, als ich sie in Erinnerung habe. Du hast Laub im Haar.«

»Ich hab noch ein bisschen draußen gesessen und gelesen«, erklärte Francis und strich sich über den Kopf. »Dann mache ich mich mal fürs Abendessen fertig.«

Im Vorbeigehen wies sie Gertie mit einem einzigen Blick darauf hin, sich lieber schnell das hämische Grinsen aus dem Gesicht zu wischen, falls ihr etwas an ihren glänzenden blonden Locken lag. Hastig vergrub Gertie die Nase wieder in ihrer Zeitschrift.

Als sie sicher in ihrem Zimmer angelangt war, legte Francis ihre Sachen aufs Bett. Albert Ellingham hatte die Schülerunterkünfte zwar mit allem Nötigen ausgestattet, allerdings waren die Möbel sehr schlicht gehalten, weswegen Francis’ Familie sie mit einem ganzen Lieferwagen voller Luxusgüter zur Schule geschickt hatte – Bettwäsche von Bergdorf Goodman, ein seidenbespannter Paravent, Fellteppiche, mehrere große Spiegel, eine französische Kommode, eine Vitrine aus Walnussholz für ihre Schminksachen und Badeöle, ein Bürsten- und Kammset aus Silber und ein Frisiertisch, auf dem Letztere erst richtig zur Geltung kamen. Ihre Vorhänge waren handgenäht, genauso wie der spitzenverzierte Bettvolant. Sie zog ihre Jacke aus, warf sie auf den Schaukelstuhl und betrachtete sich selbst im Spiegel. Verschwitzt, verdreckt, die Bluse verknittert und falsch zugeknöpft. Es konnte kaum offensichtlicher sein, was sie in Wahrheit getrieben hatte.

Das gefiel ihr. Sollten sie es doch alle sehen.

Dann wandte sie sich wieder den Sachen auf ihrem Bett zu und vergewisserte sich, dass die Zeitschriften sicher in der Papiertüte verstaut waren. Sie hatte vor, sie später zu verbrennen, schob sie jedoch fürs Erste unters Bett. Wichtiger war das Tagebuch. Das musste immer gut versteckt sein. Sie überflog die Ergebnisse des vergangenen Nachmittags, las sich ein letztes Mal zufrieden das Rätsel durch und schob den Umschlag zurecht, der zwischen den Seiten steckte. Aber … irgendetwas fehlte. Panisch blätterte sie vor und zurück.

»Francis!«, rief Miss Nelson.

»Komme gleich!«

Mehr hektisches Umblättern. Ihre Fotos! Die geheimen Bilder, die Eddie von ihnen geschossen hatte, auf denen er und Francis wie Bonnie und Clyde posierten. Einige mussten sich aus den Fotoecken gelöst haben und rausgefallen sein, als Eddie sie durch den Wald gejagt hatte. Dieser verdammte Hohlkopf! Genau das war der Grund, warum sie sich um alles selbst kümmern musste. Dieser Junge besaß einfach keinerlei Disziplin. Wer in Eile war, machte nur Fehler.

»Francis!«

»Ja!«, schrie sie.

Jetzt war keine Zeit. Sie schob die Kommode beiseite, kniete sich auf den Boden und löste die Fußleiste von der Wand. Hastig stopfte sie das Tagebuch in das Loch dahinter und drückte die Fußleiste wieder fest. Dann strich sie sich notdürftig Kleider und Haare glatt und stellte sich den kritischen Blicken der Welt.

Ellingham Academy - Die Botschaft an der Wand

Подняться наверх