Читать книгу Geniales Essen - Max Lugavere - Страница 11
Das kognitive Geburtsrecht zurückgewinnen
ОглавлениеSeit dem Aufkommen der modernen Medizin waren die Ärzte der Meinung, dass die Anatomie des Gehirns mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter fixiert sei. Veränderungen schienen unmöglich – unabhängig davon, ob es sich um eine Person mit angeborener Lernschwäche, das Opfer einer Gehirnverletzung, einen Demenzpatienten oder einfach jemanden handelte, der seine Gehirnleistung verbessern wollte. Das kognitive Leben, laut Wissenschaft, würde folgendermaßen ablaufen: Das Gehirn, und damit das für das Bewusstsein verantwortliche Organ, erlebt zunächst eine Periode heftigen Wachstums bis zum Alter von etwa 25 Jahren – dem Höhepunkt des Zustands der mentalen Hardware –, um dann bis zum Lebensende einen langen, allmählichen Abbau zu erfahren. Das galt unter der Voraussetzung, dass man nichts tat, um diesen Prozess zu beschleunigen. (Hallo, Kollege!)
Mitte der Neunzigerjahre wurde dann eine Entdeckung gemacht, welche die Sichtweise von Wissenschaftlern und Ärzten auf das Gehirn für immer verändern sollte: Man fand heraus, dass auch während des gesamten Erwachsenenalters eines Menschen neue Hirnzellen entstehen können. Willkommene Nachrichten für eine Spezies, die auf das Spitzenprodukt der Darwinschen Evolution setzt: das menschliche Gehirn. Bis zu diesem Zeitpunkt war man davon ausgegangen, dass das Entstehen neuer Gehirnzellen – genannt Neurogenese – nur während der Entwicklungsphase möglich war.2 Auf einen Schlag waren die Tage des „neurologischen Nihilismus“ (der Begriff wurde vom Neurologen Norman Doidge geprägt) vorbei. Das Konzept der lebenslangen neuronalen Plastizität – der Fähigkeit des Gehirns, sich bis zum Tode zu verändern – war geboren und damit die einzigartige Möglichkeit, diese wegweisende Entdeckung für bessere Gesundheit und Leistung zu nutzen.
Innerhalb weniger Dekaden – bis zur heutigen Zeit – wurden große Fortschritte hin zum Verständnis des menschlichen Gehirns gemacht, sowohl was den Schutz, als auch was die Leistungssteigerung angeht. Schauen wir uns zum Beispiel die Entwicklungen im Bereich der Alzheimer-Forschung an, einer verheerenden neurodegenerativen Erkrankung, von der alleine in den USA mehr als 5 Millionen Menschen betroffen sind (und man geht davon aus, dass sich diese Zahl in den kommenden Jahren verdreifachen wird) – erst vor Kurzem erkannte man, dass sich die Ernährung auf die Erkrankung auswirken kann. Im Jahr 1906 wurde die Erkrankung erstmals vom deutschen Mediziner Alois Alzheimer beschrieben, doch 90 Prozent dessen, was wir heute über das Leiden wissen, wurde erst in den vergangenen 15 Jahren entdeckt.
DER DEMENZ DEN F.I.N.G.E.R. ZEIGEN
Ich hatte das Privileg, Miia Kivipelto treffen zu dürfen, Neurobiologin am Karolinska Institutet in Stockholm und eine der führenden Wissenschaftlerinnen, wenn es um das Erforschen der Auswirkung von Ernährung und Lebenswandel auf das Risiko für Demenzerkrankungen geht. Sie leitet die bahnbrechende Finnish Geriatric Intervention Study to Prevent Cognitive Impairment and Disability (F.I.N.G.E.R.), die erste aktuelle, umfassende randomisierte Langzeitkontrollstudie, die den Einfluss untersucht, den Ernährung und Lebenswandel auf unsere kognitive Gesundheit haben. Über zwei Jahre hinweg wurde die Hälfte von fast 1200 teilnehmenden kognitiv normalen älteren Erwachsenen, die das Risiko hatten, Demenz zu entwickeln, einem Interventionsprogramm unterzogen, das Ernährungsberatung und Sportprogramme beinhaltete sowie soziale Unterstützung zur Reduktion von Einsamkeit, Depressionen und Stress – alles bedeutende psychosoziale Risikofaktoren für die Entwicklung dieser Erkrankung.
Verglichen mit der Kontrollgruppe steigerten die Teilnehmer in der Interventionsgruppe ihre kognitive Funktion um durchschnittlich 25 %, wie in einer umfangreichen Reihe neuropsychologischer Tests gemessen wurde.3 Selbst die exekutiven Funktionen steigerten sich um beeindruckende 83 %. Die exekutiven Funktionen sind für viele Aspekte eines gesunden Lebens von entscheidender Bedeutung. Zum Planen, um Entscheidungen zu treffen und sogar für soziale Interaktionen sind gesunde exekutive Funktionen notwendig. (Wenn die exekutiven Funktionen nicht reibungslos ablaufen, können die Betroffenen in der Regel nicht klar denken oder „bekommen nichts auf die Reihe“.) Außerdem verbesserte sich die Verarbeitungsgeschwindigkeit der freiwilligen Studienteilnehmer (also die Zeit, die es braucht, um Informationen aufzunehmen, zu verstehen und darauf zu reagieren) um 150 %. Der Erfolg dieser Studie zeigt, wie sehr das Risiko für Demenz durch Veränderungen des Lebenswandels gesenkt werden kann und wie man dadurch die Art und Weise, in der das Gehirn arbeitet, bis ins hohe Alter verbessern kann.
Als Folge der Veränderung unseres Verständnisses des Gehirns wurden immer mehr Institutionen wie das Urbana-Champaigns Center for Nutrition, Learning, and Memory (Zentrum für Ernährung, Lernen und Gedächtnis) der University of Illinois gegründet, in denen man sich dem Füllen der Lücken in unserem kollektiven Neuro-Wissen widmet. Andere Spezialgebiete folgten, die darauf aus sind, die Verbindung zwischen unserer Umwelt (inklusive unserer Ernährung) und den verschiedenen Aspekten unserer Gehirnfunktion zu untersuchen. Zum Beispiel das Food and Mood Center (Zentrum für Ernährung und Stimmung) der Deakin University, wo man sich ausschließlich darauf konzentriert, den Zusammenhang zwischen Ernährung und affektiven Störungen zu untersuchen. Ich hatte das Privileg, den Direktor des Zentrums zu interviewen, und teile in den folgenden Kapiteln mit, was ich über einige der dort gemachten bahnbrechenden Entdeckungen erfahren habe, darunter zum Beispiel jene, dass auch starke Depressionen über die Ernährung behandelt werden können.
Leider sind die Ergebnisse dieser wissenschaftlichen Studien, von denen es immer mehr gibt, noch weitgehend unbekannt. Im Rahmen einer von der AARP (American Association of Retired Persons) durchgeführten Umfrage stellte sich heraus, dass zwar 90 % der Amerikaner der Meinung sind, ein gesundes Gehirn sei sehr wichtig, aber nur wenige wissen, wie sie die Gesundheit ihres Gehirns verbessern können. Selbst unsere wohlmeinenden Ärzte, an die wir uns wenden, wenn wir verängstigt und verwirrt sind, hinken der Zeit scheinbar hinterher. Im Journal of the American Medical Association wurde vor Kurzem berichtet, dass es durchschnittlich 17 Jahre dauert, bis wissenschaftliche Erkenntnisse in die alltägliche klinische Praxis übernommen werden.4 Wir geben uns diesem Alltagstrott hin und alles bleibt beim Alten – doch so muss es nicht sein.