Читать книгу Seelenlos - Max Stascheit - Страница 3
Rollentausch
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Das Klassenzimmer war heiß und stickig.
Irgendwo summte das stete Geräusch eines
Deckenventilators.
Cass wischte sich mit dem Ärmel ihrer Schuluniform über
die feuchte Stirn. Ihre nassen Locken klebten kurz
oberhalb ihrer Augen fest.
Mit einem müdigkeitsgeschwängerten Blick schaute sie zur
leise tickenden Uhr am Ende des Raumes.
Viertel nach Zehn. Sie hatte gerade einmal die ersten zwei
Stunden herumgebracht. Was folgte, waren Mathe und
Physik. Sie hasste Mathe und Physik.
Ihre Mitschüler waren in eine Art Wachkoma verfallen,
müde hingen ihre Köpfe zur Seite.
Cass drehte sich zum Fenster. Es war verschlossen, die
heiße Sommerluft gelangte so nicht in den Klassenraum.
Noch fünfzehn Minuten bis es klingeln würde, dachte sie.
Mister Adam wischte die Tafel, ein gutes Zeichen, dass er
den Unterricht beenden würde.
Das erlösende Klingeln erscholl. Wie vom Blitz getroffen
standen ihre Klassenkameraden auf und schulterten ihre
Taschen. Cass erhob sich mit schweren Gliedern und ging
auf die Tür zu.
Ihre Freundin Sally wartete vor dem Klassenraum auf sie.
>>Hey, Cass! Na, wieder fast eingeschlafen beim alten
Adam?<<, lachte sie laut in ihre Richtung.
Cass lächelte gequält, schüttelte die Müdigkeit ab und
gähnte herzhaft.
Ihre Uniform spannte sich und der Schweiß rann ihr das
Genick hinab.
>>Fast. Wenn ich bedenke, dass wir anschließend Mathe
und Physik haben. .<< Sie kam nicht dazu, zu Ende zu
sprechen. Sie waren in der Cafeteria angelangt und Sally
hatte sich in die Schlange bei der Essensausgabe
eingereiht. Ihre Worte fraß der allgemeine Lärm.
Cass stellte sich hinter Sally und griff nach einer
erfrischenden Coke.
>>Du kannst dir nicht vorstellen was gestern passiert
ist. .!<<, begann Sally hektisch, während sie in ihr Sandwich
biss. >>Unser Butler hat meine Mutter angegriffen!<<
Cass, von der Hitze apathisch in den großen Raum
blickend, war auf einmal hellwach.
>>Sag das nochmal. .<<, flüsterte sie schockiert.
>>Pete, unser Angestellter. Gestern Abend ist er in Mum’s
Zimmer gekommen und hat sie mit einem Messer
attackiert! Dabei hat er wirres Zeug gebrüllt. . Es reicht, es
reicht, hat er gesagt. Dann hat sich Dad um ihn
gekümmert<<, sagte Sally mit übertriebener Theatralik.
Cass leerte die Cola und schaute auf die große Uhr in der
Cafeteria. Zeit zum Unterricht zurückzukehren.
>>Lass uns heute Abend noch einmal darüber reden, ich
lass dich von unserem Chauffeur abholen. Muss jetzt los,
bis dann, Sal<<, sagte Cass und drückte ihre Freundin,
bevor sie den Saal verließ.
Der Unterricht verging ebenso quälend langsam, wie Cass
es befürchtet hatte.
Sie dachte über die Worte ihrer Freundin nach.
Der langjährige Butler von Sallys Familie griff seine
Arbeitgeberin an.
Sie hatte in letzter Zeit des Öfteren mitbekommen, dass
vermehrt Hauspersonal aufbegehrte, Freiheiten forderte.
Jedoch hatte sie einen Fall wie diesen noch nicht
mitbekommen.
Was war los in dieser Welt? Natürlich, es gab arm und
reich, nicht jeder konnte sich Personal leisten, sie wusste
das.
Dennoch war es für Cass völlig unverständlich, dass Butler
und Angestellte niederen Ranges solch seltsames Verhalten
an den Tag legten.
Ihre Familie hatte selbst über zehn Angestellte. Vom
Butler, über ein Dienstmädchen, den Chauffeur, den
Gärtner und weitere, die Cass allerdings nicht namentlich
kannte. Sie arbeiteten nicht jeden Tag für ihre Familie. Die
restliche Zeit verbrachten sie in ihren Zimmern.
Sie hatte Mathe und Physik überlebt und war auf dem Weg
auf den Hof.
Trotz der sengenden Hitze musste sie das Gebäude
verlassen, drohte sonst zu ersticken.
Sie verließ das Gebäude und ging die Stufen der großen
Eingangstreppe hinab.
Die Sonne nahm ihr kurz die Sicht, eine warme Wand aus
heißer Luft schnürte ihr die Kehle zu.
Der Gärtner der Schule stand vor ihr. Cass schaute ihn an,
selten hatte sie Angestellte der Schule nur eines Blickes
gewürdigt, heute jedoch sah sie das Personal mit anderen
Augen.
Der Gärtner stierte zurück, Schweiß rann seinen
abgemagerten Hals hinab, die Augen traten beinahe aus
den Höhlen. Etwas in seinem Blick verunsicherte Cass.
Dann sah sie die Heckenschere in seiner Hand, die Sonne
spiegelte sich auf der grünlich schimmernden Schneide.
Der Gärtner sprang nach vorn, hob die Schere um sie Cass
in den Hals zu rammen.
Sie schrie, fiel zurück und stolperte über ihre eigenen
Füße. Der knochige Gärtner setzte nach, versuchte Cass zu
erreichen und wurde zurückgerissen. Die Kette um seinen
Fuß hatte ihn zu Fall gebracht.
Schnell rannte Cass die Stufen hinauf, hinein in die stickige
Luft der Schule.
Geschichte, ich Lieblingsfach. Cass öffnete das schwere
Buch und suchte Seite Dreihundertfünf.
Mrs. Carpenter, eine dickliche Frau mit toupierten
schwarzen Haaren, räusperte sich und wandte sich an die
Klasse.
>>Heute nehmen wir das Thema Sklaverei in den
Vereinigten Staaten dran<<, raunzte sie mit ihrer kratzigen
Stimme.
Cass lächelte. Ihr Lieblingsthema. Die Stunden würden
verfliegen. Sie schaute in ihr Geschichtsbuch.
Lincoln, der Unabhängigkeitskrieg, das Ende der Sklaverei.
Sie schmunzelte.
Obama, der erste schwarze Präsident.
Alle im Klassenzimmer teilten ihre Begeisterung.
Die vielen lächelnden schwarzen Gesichter verrieten, dass
Mrs. Carpenter das Thema richtig gewählt hatte.
>>Und nun kommen wir zu dem Teil der Geschichte an
dem wir mit den Weißen die Rolle getauscht haben.. <<