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Der Tote in der Baugrube

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MAX WINTER

Isargrauen

Für A.

Copyright © 2018 Max Winter, Wien

Lektorat & Satz: Andreas Schneider

Umschlaggestaltung: Art Colibri

Bildnachweis: Pixabay; Unsplash

In herkömmlicher deutscher Rechtschreibung


Dies ist eine fiktive Geschichte.

Sie ist von realen Ereignissen inspiriert.

Die Namen aller Beteiligten wurden geändert.

Inhalt

Sie fanden die Leiche nur durch Zufall. Am Tag, bevor das Fundament mit Zement gegossen werden sollte, hatte ein Sommergewitter in der Baugrube Erde weggeschwemmt. Ein Stück Plastik ragte nun aus der Erde, als würde es herauswachsen wollen.

Ein Maurer, der sehen wollte, ob man wie geplant weiterarbeiten konnte, sah sich den Boden näher an und wischte an der bewußten Stelle mit dem Fuß Erde weg. Er stieß auf Widerstand, grub weiter und legte etwas Längliches frei, das in Folie eingewickelt und mit Klebeband zugeklebt worden war. Er riß an der Folie, sah merkwürdige Farben, seltsam bläulich und tiefrot. Er drückte auf die Folie und das, was darin war, gab nach und bildete einen feuchten Fleck an der Stelle. Es fühlte sich vertraut an. Er riß die Folie an einer Ecke auf, da erkannte er, daß darin kein Bauschutt war, sondern ein Mensch. Er sah nur einen kleinen Ausschnitt des Gesichts des Toten, aber der Anblick ließ ihn aufstöhnen und rückwärts taumeln, als wäre er von einem Schlag getroffen worden.

Man verständigte die Polizei um halb sieben Uhr früh, also rückte erst einmal ein Kommissar vom Kriminaldauerdienst an, der dafür sorgte, daß der Fundort gesichert wurde. Zwei Stunden später betrat Kriminalhauptkommissar Arnold Gassinger sein Dienstzimmer in der Ettstraße und als er davon erfuhr, machte er sich sofort auf den Weg, im Schlepptau Kriminalkommissar Rudolf Wörl.

Als Jana an der Baugrube vorbeifuhr, wußte sie nicht, daß in der Nacht ein Toter hineingelegt worden war. Sie hatte gesehen, wie das Mittelhaus abgerissen worden war, hatte die Bagger gesehen, die das alte Haus Stück für Stück demoliert hatten, bis nur noch ein Grippe aus halben Wänden da war und dann ein Haufen Schutt, der weggeräumt wurde, bevor man die Grube ausgehoben hatte. Sie kam fast täglich hier vorbei, schon weil sie oft zum Kameraverleih bei ARRI mußte. Als sie jetzt im Morgengrauen auf dem Weg zum Drehort war, war die Straße vor der Baustelle voller Polizei.

Sie wußte nicht, daß sie den Toten, der dort lag, gut gekannt hatte.

Produktionsfahrer, das war Janas Jobbezeichnung und jetzt war sie auf dem Weg zum Filmset, das in einem extra dafür angemieteten Haus am Englischen Garten aufgebaut war. Der Drehtag verlief gut. Ein Werbedreh, heute war der letzte Tag, außerdem Freitag und am Abend wollte sie mit Olli, ihrem Freund aus Berlin, auf ein großes Fest gehen. Sie hatte nur wenige Fahrten, zwischendurch genug Pausen, es war keiner von diesen Streßtagen, an denen sie kaum Zeit zu essen hatte und nur während der Fahrt schnell eine Semmel herunterschlingen konnte.

Im Münchner Institut für Rechtsmedizin machten sich zwei Pathologen daran, den Toten zu sezieren. Werner Karg und sein Kollege Prantl untersuchten ihn erst äußerlich, dann öffneten sie die Leiche. Alle Beobachtungen sprachen sie in ein Diktiergerät. Was dieses allerdings nicht aufzeichnete, war der Gesichtsausdruck der beiden Mediziner. Eine Leiche mit solchen Verletzungen hatten sie noch nie gesehen. Das Gesicht war übersät mit Schnitten unterschiedlicher Tiefe. Es fehlten Hautstücke, auf der rechten Wange war der Knochen zu sehen, das Fleisch war merkwürdig krumm herausgeschnitten worden. Dazu Brandwunden. Schwellungen und Verfärbungen, die von Schlägen herrührten. Am ganzen Oberkörper und den Armen die gleichen Wunden. Ein Folter-Martyrium, das Stunden gedauert haben mußte.

Im Autoradio erklärte eine Sprecherin, daß hunderte Ostdeutsche in Botschaften der Bundesrepublik in Ungarn und Ostberlin geflüchtet waren, um so ihre Ausreise zu erzwingen. Wieder eine dieser merkwürdigen Nachrichten, so als löste sich der Ostblock gerade auf. Sie mußte Olli fragen, ob er das schon gehört hatte. Nur ein Teil seiner Familie kam aus Westberlin, der andere lebte abgeschnitten jenseits der Mauer.

Es war Abend und Jana fuhr vom Set nach Hause. Sie kam wieder an der Baugrube vorbei. Inzwischen waren weiße Planen aufgehängt worden, um die Sicht zu verdecken. Mit rotgestreiften Bändern war der Raum vor der Baustelle abgesperrt worden. Polizeiautos parkten in einer Reihe, Beamte in Uniform und Zivil liefen herum.

Was war hier vorgefallen?

Sie war später weggekommen als geplant, der Dreh hatte bis sieben gedauert. Jetzt mußte sie Miriam, ihrer Mitbewohnerin, noch bei etwas helfen. Jana wohnte in einer Wohngemeinschaft, die aus drei Zimmern, einer großen Küche und einem Bad bestand. Sie bewohnte das Zimmer am Ende des Ganges. Ein großer Raum, Dielenboden, zwei Doppelglas-Fenster mit Holzrahmen. Sie hatte nicht viele Möbel, war aber gemütlich eingerichtet. Am Boden standen Stapel von Comics, überall lagen verstreut Zeichenutensilien, Blöcke unterschiedlicher Größe, Farbstifte, Tuschegefäße.

In der geräumigen Küche stand ein schöner alter Tisch. Weder ihre Mitbewohnerin noch der Typ im vorderen Zimmer, der fast nie da war, nahmen je etwas aus dem Kühlschrank, was nicht ihres war, jedenfalls nicht, ohne vorher zu fragen. Sie hielten sich an den Putzplan. Jana hatte vorher schon in zwei anderen Wohngemeinschaften gewohnt, wo das anders gewesen war. Hier war alles ziemlich perfekt. Besonders mit Miriam verstand sie sich gut.

Nun mußte sie mit ihr die restlichen Sachen holen, die noch in der Wohnung von Miriams Exfreundes lagen, der sie schon mehrfach geschlagen und ihr einmal ein blaues Auge verpaßt hatte. Miriam hatte ziemlich Angst, brauchte die Sachen aber dringend. Jana hatte ihr angeboten, sie zu begleiten. Also fuhren sie gemeinsam hin, der Typ wartete schon, gereizt wie immer. Als er sah, daß Jana dabei war, war ihm anzusehen, daß er sich die Sache noch einmal überlegte. Er entschied sich dann, nur ein paar beleidigte Bemerkungen abzulassen. Jana wirkte nicht wie ein Mädchen, das sich herumschubsen ließ. Sehnige Figur mit wacher Körperspannung, wie zum Sprung bereit. Schwarze Kleidung, ein Punk-T-Shirt, Springerstiefel. Er sah das Pfefferspray nicht, das Jana in ihrer Hand hielt, aber er spürte, daß sie bereit war, etwas zu tun, was ihm nicht gefallen würde.

Alles lief ohne Zwischenfälle ab. Ihre Mitbewohnerin hatte ihre Sachen, sie sprangen in Janas roten Golf und brausten davon.

Zu Hause duschte Jana und zog sich etwas Frisches an. Dann saß sie wieder in ihrem Wagen und fuhr zu Olli, den sie vor drei Monaten am Set in Berlin kennengelernt hatte und mit dem sie seit einiger Zeit eine lockere Beziehung hatte. Er war Beleuchter und schlief meistens bei ihr, wohnte aber eigentlich bei seinem Kumpel Moritz in Laim, wohin sie jetzt unterwegs war, um ihn abzuholen. Dort angekommen, klingelte sie zweimal und wartete im Wagen.

„Hallo, Süße, allet Paletti?“, fragte er, als er einstieg.

Sie lachte, dann küßten sie sich, und sie fuhr los.

„Wie war’s bei dir heute?“, fragte er.

Sie erzählte ihm von ihrem Drehtag. Ein Werbedreh für Skibekleidung. Eine kleine Produktionsfirma, die nur Werbung und Imagefilme machte und die darauf spezialisiert war, auch mit kleinen Budgets etwas anfangen zu können. Jana arbeitete regelmäßig für sie. Heute morgen hatte sie auf ihrer ersten Fahrt einen Schauspieler abgeholt, um ihn zum Drehort zu bringen. Ein kleiner Mann, freundlich und ruhig, so unscheinbar, daß er sich auf dem Rücksitz kaum vom Polster abhob. Am Set kam er in die Maske, dann rein ins Kostüm, immer noch kaum zu bemerken. Dann wurde gedreht und als hätte jemand einen Schalter umgelegt, strahlte er plötzlich, zog alle Blicke auf sich, war charismatisch und unwiderstehlich. Einstellung vorbei, wieder graue Maus. Sie hatte diese Verwandlung schon früher erlebt, aber heute war es besonders auffällig. Nicht alle Schauspieler waren so. Nicht selten waren sie von der nervigen Sorte und besaßen keinen Aus-Schalter, jedenfalls nicht, wenn sie hinten im Wagen bei Jana saßen und das Stück beleidigtes Genie oder gekränkter Meister zum Besten gaben. Schauspieler waren jedenfalls nicht der Grund, warum Jana so gerne Produktionsfahrerin war.

Am Tiergarten fuhren sie über die Isar, dann bog Jana rechts ein und folgte der Straße. Es ging vorbei an der Abzweigung zu dem Sanatorium, das im Wald lag. Die Zufahrt war zugewachsen, und so oft sie auch hier vorbeikam, hatte sie niemals gesehen, daß jemand den Weg nahm. Sie erreichte Geiselgasteig, links kam jetzt die Zufahrt zum Filmzentrum. Jana fuhr daran vorbei, bog dann aber gleich links in die Straße ein, die von alten Bäumen gesäumt wurde. Prachtvolle Häuser lagen hier hinter undurchdringlichen Hecken, und die polierten Klingelschilder blieben überwiegend ohne Namen. Hier begann Grünwald, der Vorort Münchens, in dem viele Filmleute lebten und andere Reiche und Schöne, die sich regelmäßig in den Klatschspalten wiederfanden.

Hier wohnten viele, die in die großzügigen Villen und weitläufigen Gärten schon hineingeboren worden waren. Das war für sie nicht immer ein Vorteil, weil nicht wenige dieser Zöglinge von ihren Eltern schnell in englische Internate für Schwererziehbare mit Drogenproblemen abgeschoben wurden. Aber von außen betrachtet waren die gepflegten Grundstücke, an denen Jana auf der Suche nach einem Parkplatz nun vorbeifuhr, die reine Pracht.

„Palazzi Protzi“, sagte Olli.

Nun konnte es nicht mehr weit sein, die Straße war vollkommen zugeparkt. Viele teure Mercedes und Porsches, Ferraris mit geöffnetem Verdeck, die meisten Wagen waren Oberklasse. Janas Golf fiel hier unter die Kategorie Schrottlaube.

Sie quetschte sich zwischen einen Baum und ein Fiat-Cabrio, an dessen Rückspiegel ein Elvis in einem weißen Las Vegas-Kostüm hing.

Isargrauen

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