Читать книгу Isargrauen - Max Winter - Страница 7
Jana
ОглавлениеGassinger fuhr wieder in sein Büro in der Ettstraße. Sein Assistent Wörl kam ins Zimmer.
„Interpol ist jetzt informiert, ich habe unsere Anfrage übermittelt“, sagte Wörl.
„Gut“, meinte Gassinger, „dann schau, ob irgendwo in Europa in der letzten Zeit etwas Vergleichbares passiert ist. Ich denke vor allem an Italien, Frankreich, Österreich, Schweiz. Frag dort auch an. Die haben vielleicht etwas, was nicht über Interpol läuft, vielleicht auch etwas Älteres. Haben sich ansonsten noch Anlieger gemeldet, haben die Befragungen am Fundort etwas gebracht, haben wir Aussagen, hat irgend jemand etwas gesehen?“
„Nein“, sagte Wörl, „wir haben nichts. Alle haben brav geschlafen.“
Gassinger seufzte. Jetzt mußte er auf die Ergebnisse aus der Forensik hoffen. Die Untersuchung der Plastikfolie, des Klebebandes und der Kleidung der Leiche. Ausweise, Schmuck oder irgendwelche anderen Hinweise auf die Identität des Toten waren nicht gefunden worden. Das Opfer wurde auf Mitte dreißig geschätzt. Gassinger hoffte auf brauchbare Fingerabdrücke oder irgend etwas anderes, das Rückschlüsse auf die Identität des Toten, auf den oder die Täter oder wenigstens auf den Tatort liefern konnte.
Es war abzusehen, daß die Ermittlungen schwieriger würden als bei den Tötungsdelikten, mit denen er sonst zu tun hatte. Mord aus Leidenschaft, Mord im Affekt, Eifersucht, Jähzorn, ein kurzes Aufflackern und dann ein Leben lang Reue. Beziehungstaten. In einer überwältigenden Mehrzahl der Fälle gab es ein Näheverhältnis zwischen Opfer und Täter. Hier konnte es auf den ersten Blick auch so wirken. Aber dies war nicht, was man Übertötung nannte, niemand hatte im Zorn oder aus lange gehegtem Haß zehnmal geschossen oder wie wahnsinnig auf das Opfer eingestochen. Hier paßte nichts zusammen, es gab extreme Gewalt und doch wirkte es gestellt und seltsam. Gassinger konnte sich das nicht erklären. Aber er mußte es verstehen, um den Fall zu lösen.
Zwischen Jana und Olli lief es wieder besser. Die neue Produktion, bei der Olli jetzt Scheinwerfer schleppte, ließ sich gut an. Er wirkte zufrieden. Sie drehten in den Bavaria-Studios. Mit dem Oberbeleuchter kam Olli gut klar, der Kameramann namens Rollmann war verträglich, und das Essen war gut. Wenn er vom Dreh kam, war er exzellent gelaunt. Aber schon nach wenigen Tagen war die schöne Zeit wieder vorbei.
Am Mittwoch kam Olli erst spät vom Dreh nach Hause, bleich, nervös, sie wußte gleich, was los war. Snief-snief. Am Donnerstag das gleiche. Sie saß in ihrem Zimmer und wartete, daß er zu ihr kam. Aber das Warten war anders als früher. Sie entfremdeten sich.
Es war die Phase zwischen zwei Drehs, die Ruhephase, an die sie sich immer erst wieder gewöhnen mußte, wenn sie gedreht hatte. So ging es jedem, vom Fahrer bis zum Produzenten. Eine ständige Anspannung während der Drehzeit, die schon vor dem ersten Drehtag begann. Dann dauernd auf Adrenalin mit Spitzen von extremem Streß. Nach dem letzten Drehtag fiel man in ein Loch. Eine seltsame Leere, die nur langsam in echte Entspannung überging. Genau in dieser Phase war Jana jetzt. Sie hatte ein paar Tage frei, bevor der nächste Dreh begann. Zeit, um über sich und Olli nachzudenken.
Sie war zurückhaltend und öffnete sich Menschen nicht leicht. Er war da ganz unverkrampft, locker, schnell, berlinerisch: Weeste, weeste, haste, kannste. Als sie sich bei dem Dreh in Berlin kennengelernt hatten, hatte Jana als Set-Aufnahmeleiterin gearbeitet, was sie sonst nicht machte. Sie war eingesprungen, weil jemand kurzfristig erkrankt war und der Produktionsleiter Michael Gerstmann schnell Ersatz gebraucht hatte. Es war ohnehin ein üblicher Weg, beim Film Karriere zu machen. Erst war man Fahrer. Im Laufe der Zeit und durch die Erfahrungen bei vielen Produktionen lernte man, welche Abteilungen es gab, welche Aufgaben zu welcher Position gehörten und wie die einzelnen Räder ineinandergriffen, damit die komplizierte Maschinerie, die die Dreharbeiten waren, reibungslos funktionierte. Als Fahrer hatte man sowieso dauernd vor allem mit der Produktionsabteilung zu tun, also mit Aufnahmeleitern und Produktionsleitern, die einem die Tagesdisposition und die Fahrten gaben. Man sah, was sie machten und wie sie es machten. Irgendwann traute man sich das selbst zu und bekam eine Chance, wenn man wollte. Manche machten vorher noch eine Assistenz. War man längere Zeit Aufnahmeleiter, konnte man Produktionsleiter werden, und dann vielleicht irgendwann Produzent.
Jana wollte bei dem Dreh in Berlin nicht Karriere machen, sondern Gerstmann einen Gefallen tun. Die Bezahlung stimmte auch, drei Wochen Dreh in Berlin waren eine nette Abwechslung, das Hotel war in Ordnung und die Crew war nett.
Bei diesem Dreh lernte sie Olli kennen. Zum ersten Mal sah sie ihn beim Catering. Er biß von einer Wurst ab und sagte, ohne eine Miene zu verziehen: „Gar nicht mal so lecker.“ Jana verschluckte sich fast vor Lachen. Er war lustig, er sah toll aus. Gesund, fröhlich, fit. Sie wollte ihren Olli zurück. Aber es war zu spät. Er hatte sich verändert oder sie oder sie beide, jedenfalls ging es so nicht weiter.
Am nächsten Tag sprach sie mit Olli.
„Ich brauche eine Veränderung. Ich kann so nicht weitermachen. Vielleicht sollten wir mal eine Auszeit nehmen“, sagte Jana.
„Willst du dich trennen?“, fragte Olli.
„Ehrlich gesagt, eigentlich schon.“
Olli war überrascht, aber er fiel nicht aus allen Wolken. Er hatte bemerkt, daß sie ihm gegenüber zuletzt anders gewesen war. Vielleicht hatte er insgeheim sogar damit gerechnet.
„Okay, dann sollte ich heute vielleicht lieber bei Moritz schlafen“, meinte Olli, „aber bei unserem Filmabend bleibt es, oder?“
„Ja, klar“, sagte Jana.
Keine von Janas Beziehungen hatte allzu lange gedauert. Sie konnte nicht sagen, wieso, aber ihre Freundschaften und Liebschaften endeten immer bald, nachdem die ersten Enttäuschungen einsetzten. Dabei fand sie nicht, daß sie zu schnell aufgab. Ihr Vertrauen wurde mißbraucht und sie zog sich zurück. Ein Fluchtimpuls, der sich ihrer bemächtigte. Wenn die Beziehung beendet war, blieb oft das Gefühl zurück, dem Falschen vertraut zu haben. Sie hatte sich so sehr gewünscht, daß es diesmal klappen würde, daß Olli einer war, der ihr Vertrauen verdiente.
Die Sache mit dem mißbrauchten Vertrauen zog sich schon durch ihr ganzes Leben.
Am Abend ihres 15. Geburtstages war ihr Vater wie so oft schwer betrunken nach Hause gekommen, doch diesmal war es nicht beim üblichen Spannen geblieben. Diesmal bedrängte er sie körperlich und ließ keinen Zweifel daran, wie es weitergehen sollte. Aber sie schrie wie am Spieß und biß in seine Hand, als er versuchte, ihr den Mund zuzuhalten. Sie riß ihr Knie hoch, traf ihn gut und konnte weglaufen. Sie versteckte sich im Wald und als ihr zu kalt wurde, ging sie zum Pfarrer, der ihr glaubte und sie im Pfarrhaus übernachten ließ. Am nächsten Tag ging er zu ihren Eltern und ließ durchblicken, daß er sie, falls so etwas wieder passierte, sofort anzeigen würde.
Ihre Eltern wußten, daß er Wort halten würde. Er lag mit dem halben Dorf im Streit und war bekannt für seinen Starrsinn. Er predigte, daß Gier und Habsucht ins Verderben führten. Das kam bei den niederbayerischen Bauern nicht gut an. Es kam erschwerend hinzu, daß er aus Polen stammte und von einem „Polacken“ ließ man sich dort aus Prinzip nichts sagen, und mochte auch der Papst selbst einer sein.
Ihre Mutter deckte den Vater, wie üblich, und wurde in der Folge nur noch kälter ihr gegenüber. Sie hatte nie etwas dagegen getan, wenn der Vater die nackten Töchter begaffte, es störte sie offenbar nicht, daß er eine ganze Sammlung mit Photos und Super 8-Filmen hatte, die vor allem entstanden waren, wenn die Familie beim Baden war.
Doch ihre Eltern waren nur ein Teil des Gefängnisses ihrer Kindheit. Es war der Ort, in dem sie lebte, es war die Schule, die Lehrer. Jeder hatte seinen Platz und seinen Status, und daran gab es nichts zu rütteln. Die Großbauern hatten das Sagen und der Herr Bürgermeister und der Herr Apotheker. Alle anderen hatten den Mund zu halten. Als Kind eines Angestellten mit kleinem Einkommen hatte Jana in der Schule keinen guten Stand. In ihrer Klasse gab ein tyrannisches Zwillingspaar den Ton an, dessen Familie den Nachbarort Tag und Nacht mit dem Gestank einer Schweinezuchtanlage mit ein paar tausend Schweinen beglückte.
Auch die Lehrer folgten der sozialen Hackordnung, und für Janas Eltern wäre der Gedanke völlig absurd gewesen, sich zur Abwechslung auch mal auf die Seite ihrer Tochter zu stellen, wenn es Streit mit anderen Schülern oder Ärger anderer Art gab.
In der einen Sache, die Jana liebte, dem Zeichnen, unterstützten sie sie natürlich auch nicht. Die Kunstlehrerin sah Janas Talent und ließ das ihre Eltern auch wissen, aber das bewirkte gar nichts. Im Gegenteil, von da an sahen sie das als nutzlose Beschäftigung, wer konnte schon von so etwas leben, Jana jedenfalls nicht, entschieden ihre Eltern.
Jetzt wohnte sie in einem Hinterhaus in der Schellingstraße in einer Altbauwohnung. Im Hof stand eine mächtige Kastanie, darunter konnten die Hausbewohner im Sommer sitzen. Im Haus wohnten ein paar alte Leute, die ein Münchnerisch sprachen, das schon selten geworden war. Auch die Familie, die vor Jahrzehnten aus Jugoslawien gekommen war, sprach bayerisch, die Eltern Rado und Milena noch vermischt mit Jugo-Slang, deren Strebersohn machte an der Technischen Universität Karriere. Außerdem wohnte im Haus auch eine neapolitanische Familie, die bei Mario arbeitete. Im Hof erklangen also häufig die Wörter cazzo und kuraz, wenn alltägliche Handlungen einer Betonung bedurften. Insgesamt eine bunte Mischung, in der jeder Teil selbständig war. Das war nach Janas Geschmack.
Die Presse machte Druck, und die Polizeiführung wollte sich wieder mit Gassinger „abstimmen“, wie sie es nannte. Also fand sich Gassinger wieder im obersten Stockwerk des Polizeipräsidiums ein. Das Wort, das nicht fallen sollte, sagte man ihm, war Sonderkommission. Eine SOKO erweckte Aufmerksamkeit. Gab es eine SOKO, gab es auch Gefahr und etwas zu berichten und wenn die Journalisten zu wenig Informationen hatten, stellten sie blöde Fragen oder erfanden etwas. Meistens beides. Was verschweigt die Polizei? Sind die Bürger noch sicher? Kommt die Mafia jetzt auch zu uns?
Auch Gassinger wollte keine SOKO. Er brauchte im Moment keine. Er wollte nur ungestört seine Arbeit machen, und falls es sich als nötig erweisen würde, könnte er immer noch eine fordern.
„Was machen wir mit der Presse?“, fragte man ihn.
„Wir geben Ihnen etwas, nicht viel, gerade genug, damit sie zufrieden sind“, antwortete Gassinger.
„Einverstanden“, sagte sein Vorgesetzter.
Also sorgte Gassinger dafür, daß etwas durchsickerte. Ein paar Photos vom abgesperrten Fundort hatten die Pressephotographen bereits ergattert. Also gab es noch ein paar Details dazu und das reichte für eine knallige Schlagzeile: Mafia-Mord! Folter-Opfer sollte mitten in Schwabing einbetoniert werden. Aus gut unterrichteter Quelle in der Mordkommission habe man erfahren, daß die Polizei von einem Mafia-Krieg ausgehe. Näheres könne man nicht sagen, aber die Bevölkerung mußte kaum befürchten, zwischen die Fronten zu geraten. Es wurde nicht erwähnt, welche Mafia, aber bei dem Wort dachten sowieso alle automatisch an Sizilien und damit war die Sache erledigt. Nach ein paar Tagen interessierte sich niemand mehr dafür.