Читать книгу Isargrauen - Max Winter - Страница 5
In der Gerichtsmedizin
ОглавлениеJana hatte bereits zu Mittag gegessen, als Olli am nächsten Tag zu ihr kam. Er war völlig übermüdet und hatte eine Whisky-Fahne. Als erstes machte er sich ein Bier auf, dann drehte er sich einen Joint. Jana wußte nicht, daß es bereits sein dritter war, seit es hell geworden war. Das Problem war das Runterkommen nach dem High. Endlich schlafen können, wenn der Körper längst ausgelaugt war und das Hirn sich in sinnlosen Kreisen drehte.
Trotz ihrer Zweifel war Jana froh, ihn zu sehen.
Sie saß in der Küche, er ging hektisch auf und ab.
„Die suchen einen Beleuchter bei ihrer Produktionsfirma. Frank Durroux ist dort Produktionsleiter. Die machen eine Pilot-Folge für eine Serie. Sie haben mir einen Job angeboten. Hört sich nicht schlecht an.“
„Ich mache mal Kaffee“, sagte sie.
Den Nachmittag über sprachen sie wenig miteinander. Es war sinnlos, solange er so nervös war. Er war mit sich selbst beschäftigt.
Sie ging in den Englischen Garten laufen, in den großzügigen Park mitten in München, den sie liebte. Sie lief dort regelmäßig. Sie konnte dabei gut nachdenken, die Gedanken kamen und gingen. Die Bewegung tat ihr gut, sie baute so Streß ab. Als sie nach dem Laufen nach Hause kam, schlief er bereits.
Am Montag sagte Olli den neuen Job zu. Er meinte, daß er eine Zeitlang nichts gegen eine Daily Soap einzuwenden hätte. In der Branche kannten alle die Vorteile. Es war nine to five für Filmleute. Eine geregelte Arbeitszeit, keine Überstunden, keine Arbeit am Wochenende, leichte Dreharbeiten, weil man täglich viel Sendezeit drehen mußte, und das ging nur, weil vieles gleich blieb und man nicht allzu pingelig war. Das Licht war leicht zu setzen. Knallhell, voll ausgeleuchtet, keine Tiefe. Daily Soap-Licht eben.
Der Nachteil war, daß man seinen Namen mit etwas wenig Anspruchsvollem in Verbindung brachte und man dann vielleicht nicht mehr für Kinoproduktionen engagiert wurde, was die meisten Filmschaffenden wollten, zumindest irgendwann einmal. Werbung machten hingegen alle, weil das sehr gut bezahlt war.
Dagegen, daß ein solcher Daily Soap-Job seine Vorteile hatte, konnte Jana nichts sagen. Sie wollte schon, daß er in der Münchner Filmszene zurecht kam und als Beleuchter Jobs bekam. Aber mußten es ausgerechnet diese Typen sein? Als Olli sagte, sie werde schon noch sehen, daß Frank schon ganz in Ordnung sei, meinte sie, das glaube sie nicht.
Der Fund der Leiche hatte für Aufregung im Polizeipräsidium gesorgt, bis ganz nach oben. Das hieß für Arnold Gassinger, daß er die Ermittlungen nicht so frei führen konnte, wie er es sich gewünscht hätte. Man würde ihm dabei immer über die Schulter schauen, auch wenn er der leitende Beamte war, sobald es sich um Mord handelte. Doch der Polizeipräsident sah es als seine Aufgabe an, seinen Untergebenen mehr als nur beratend zur Seite zu stehen. Und die Ruhe in der Bevölkerung war für ihn ein hohes Gut, das man nicht leichtfertig und durch unangebrachten Aktionismus aufs Spiel setzen durfte.
Die Wahlen hatten zwar gerade stattgefunden, aber im Rathaus und in der Staatskanzlei war man schlechten Nachrichten immer abgeneigt. Es mußte grundsätzlich vermieden werden, daß die Kravallblätter von einer „Folter-Leiche auf Luxus-Baustelle“ berichteten und daß die Zeitungen, die vorgaben, seriös zu berichten, sich in langen Artikeln über böse Spekulanten ausließen und der Polizei Unfähigkeit unterstellten.
Genau auf solche Gefahren war Gassinger von seinem Vorgesetzten aufmerksam gemacht worden. Der hatte ihm auch gleich das wahrscheinlichste Ermittlungsergebnis mitgeteilt. Es handelte sich um eine Einzeltat, bedauerlich natürlich, aber beruhigenderweise ohne Zusammenhang mit irgend etwas außer vielleicht dem Täter. Aber Gassinger war schon lange im Geschäft. Er hatte nicht nur einmal erlebt, daß beim Erklimmen der Karriereleiter eine wundersame Verwandlung vom kompromißlosen Bullen in ein weitsichtiges und alles abwägendes politisches Wesen stattfand.
Und was die Ermittlungen anging, schufen ein paar Photos, die zur rechten Zeit auf geheimnisvolle Weise den Weg zu einer Zeitung fanden, unabweisbare Fakten.
Als er wieder in sein Büro trat, wartete sein Assistent Rudolf Wörl bereits mit dem Obduktionsbericht auf ihn. Gassinger vertiefte sich darin und als er damit fertig war, machte er sich auf den Weg zu Dr. Werner Karg, dem Rechtsmediziner, der um diese Zeit im Institut war.
Er fand ihn in dem kleinen Büro, das neben den gekachelten und mit stählernen Tischen versehenen Sezierräumen lag. Der Arzt war hager und sehnig, er wirkte wie ein Marathonläufer, hatte aber für Sport jeder Art nur Verachtung übrig. Dafür rauchte er drei Packungen Zigaretten täglich.
Er bot Gassinger einen Stuhl an.
„Einen Kaffee?“, fragte er.
„Danke, mach dir keine Mühe.“, antwortete Gassinger.
„Interessant, oder? Hatten wir so was schon mal?“
„Nein, sieht nicht so aus. Im Bericht ist die Rede von über fünfzig Einzelverletzungen. Und die Todesursache ist ein Stich durchs rechte Auge.“, sagte Gassinger.
„Ja, genau.“, antwortete Werner Karg.
„Dann mal raus damit, laß hören“, meinte Gassinger.
Deswegen war er zu Karg gegangen. Ihn interessierte, was er ihm im persönlichen Gespräch sagen würde, Vermutungen aller Art, vielleicht auch nur Eindrücke, die Rückschlüsse auf den Täter geben konnten. Er wollte gerade auch das wissen, was vielleicht nicht im Bericht stand, weil es zu spekulativ war.
„Todeszeitpunkt etwa 24 Stunden vor dem Fund. Womit wir es zu tun haben, ist eine Folterung. Das Ganze hat sich über mehrere Stunden hingezogen, vier bis fünf. Das Opfer wurde auf einem Stuhl fixiert, und zwar an den Füßen, an den Händen und am Hals. Der letale Stich durchs Auge wurde mit einer Art Dolch ausgeführt, der nicht besonders scharf war. Die anderen Schnittverletzungen wurde mit zwei verschiedenen Werkzeugen zugefügt, einem ziemlich stumpfen Messer, vielleicht einem Kochmesser, und einem sehr scharfen Messer, könnte ein Skalpell gewesen sein. Die Brandverletzungen wurden mit Zigaretten, Zigarren und offenen Feuerquellen, zum Beispiel Feuerzeugen, beigebracht. Der Folterer hat kein medizinisches Fachwissen. Ein Koch ist da auch nicht dabei. Ich würde eher unter Grobmotorikern suchen.“ Er lächelte nicht ohne Bitterkeit.
„Sprich weiter“, sagte Gassinger.
Der Mediziner zündete sich eine neue Zigarette an der alten an.
„Also, man muß es schon aushalten können, einen Menschen so lange leiden zu sehen. Das Opfer muß mehrfach vor Schmerz ohnmächtig geworden sein. Dann hat man gewartet, bis es wieder bei Bewußtsein war – und weitergemacht.“
„Und das Koks im Blut?“, fragte Gassinger.
„Das wurde zuletzt einen Tag vor den Verletzungen eingenommen, allerdings nicht regelmäßig. Und nur eine geringe Menge. Wie jemand, der es einmal probiert. Koks wäre auch kontraproduktiv – jedenfalls aus Sicht der Täter. Die wollten Schmerz erzeugen.“
„Also ein Rachemotiv?“, fragte Gassinger.
„Möglich. Aber eher kühl ausgeführt. Kein Affekt. Ein Sozio- oder Psychopath. Oder ein Auftrag.“
„Mafia?“, fragte Gassinger.
„Die foltern zwar, aber dann sieht das anders aus. Ich kann es dir nicht sagen. Sicher ist nur, wer immer beteiligt ist, zeichnet sich durch außergewöhnliche Empathielosigkeit aus. Ich meine, ich bin kein Psychiater. Aber das ist leicht zu sehen. Hier sind wir am oberen Ende der Skala. Extremer Narzißmus. Extremer Sadismus. Sehr gefährlich.“