Читать книгу Eine verteufelte Ironie - Schicksal - Maxi Hill - Страница 3
LICHT AM ENDE DES TUNNELS
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»Verdammt, habt ihr es mir schwer gemacht!« Lydia stößt heiße Luft von sich, bleibt aber hinter der Hecke stehen, den Blick streng auf das kleine Mädchen gerichtet, das da in der Sonne spielt. Weiß schimmern die Mauern durch das dichte Grün, bunt die Rutsche und die Schaukel links neben dem Gehöft. Der Vater sitzt bei dem Mädchen, ein aufgeräumter Typ mit dunklem Haar und braungebrannten Armen. Geduldig spielt er mit dem Kind, und Lydia kann genau sehen, beide Augenpaare leuchten zufrieden.
Zufrieden! schreit es in ihr…
Zufrieden!
Wie sollte sie ahnen, dass diese Leute hierher in den hintersten Winkel des Spreewaldes gezogen sind? Dasselbe hatte sie sich noch gestern gefragt, aber da war sie noch nicht sicher, ob es diese Familie Abelius auch wirklich ist, die genau dieses Kind hat. Jetzt ist sie sicher.
Sie sieht das Haus mitten im Grün mit einigem Neid. Es hat alles, was ein Kind gesund aufwachsen lässt. Alles, was sie nicht zu bieten hat. Sie lebt in einem kargen, lichtlosen Hinterhof in Berlin, mehr schlecht als recht — nein, sie vegetiert!
Sie sieht den Spielplatz, den die Familie mit viel Liebe — und fraglos auch mit viel Geld — angelegt hat; für ein einziges Kind. Sie kennt viele Kinder, die nicht einmal ein ordentliches Bett haben…
Lydia Zwegert steht wie versteinert da und träumt sich in ihre Zeit zurück, als sie noch Kind war. Es ist nicht in erster Linie die beruhigende, fast einschläfernde Umgebung, die ihr diesen Hauch von Versenkung gibt. Sie ist mit sich zufrieden. Sie hat es schließlich doch noch geschafft…
Das Haus ist bescheiden, aber es stehen immerhin zwei Autos in der Garage, deren automatische Tore weit offen stehenden. Dass diese Leute nicht arm sind, wusste sie schon vor mehr als zwei Jahren, und es hat sie sogar gefreut. Gewöhnlich hadert sie mit denen, die im Wohlstand leben. Ihre satten Bäuche und ihre daunengepolsterten Betten und die seidenen Kissen lassen sie zu oft vergessen, wie hart das Leben sein kann für viele von ihrer, Lydias, Spezies. Einer wie ihr wird das Leben, das einmal an eine große Hoffnung geknüpft war, verdammt schwer gemacht. Nur in diesem einen Falle hatte sie der Wohlstand dieser Leute, den jedermann als bescheiden ansehen würde, ausnahmsweise gefreut.
Sie stellt fest, dass der Vater des Mädchens sehr dunkles Haar trägt, das Kind aber blond ist wie sie selbst. Die vielen Locken spielen weich um das Köpfchen und sogar die Sonne hat ihre helle Freude daran.
Lydia spürt, wie nach vielen Monaten der Suche, in denen sie eine Odyssee durch halb Berlin hinter sich gebracht hat, eine Zufriedenheit in sie kommt und wie die Angst von ihr weicht. Zugleich ist da eine unbestimmte Wehmut, die ihr sagt, es kann immer noch misslingen, was sie vorhat…
Sie hat keine Wahl. Erfolglos darf sie niemals zurück zu Tobias fahren. Er würde sie in spätestens zwei Monaten vor Wut womöglich erschlagen. In seinen Augen macht sie seit langem alles falsch. Dabei erhofft sie sich nichts sehnlicher, als wieder die Frau zu sein, die er sich wünscht. Dieser Traum darf nicht zum Scheitern verurteilt sein. Das Leben mit ihm ist verdammt mühsam geworden. Seine Liebe ist ihr allzu rasch abhanden gekommen, wohin auch immer und aus welchem Grund auch immer. Irgendetwas muss geschehen sein, warum er nur noch aggressiv und gereizt ist. Alleine um das Kind kann es doch nicht gehen…?
Er zeigt ihr seit Monaten, wie unfähig sie ist, ihr Leben zu gestalten. Wüsste er, wo sie jetzt ist und was sie vorhat, er prophezeite ihr mit schallendem Lachen ein Fiasko, und bisher hatte er immer Recht.
Sie hatte ihn angerufen und gesagt, er solle bei den Tschechen Bescheid geben. Sie habe eine Panne und komme später. Was weiß er schon von den Spuren, die immer wieder kalt waren, die man ihr in guter Absicht zwar angedeutet hatte, die aber nicht zum Erfolg geführt haben. Manchmal spült der Fluss des Lebens auch für eine wie sie einen Strohhalm heran. Inzwischen ist es nicht mehr nur ein Halm, inzwischen ist es ein handfester Ast, an dem sie sich festklammern muss, so weh es auch tun wird. Nicht sofort. Dieses Wochenende wird sie in ihrer Absteige warten, bis die beste Gelegenheit kommt. Immerhin hat sie von der Mutter noch keinen Zipfel zu sehen bekommen.
Anfangs drängte es sie, die Sache sofort in Angriff zu nehmen, vielleicht könnte sie es beim Einkauf wie unverhofft arrangieren, aber hier in diesem Kaff gibt es keinen Einkaufstempel. Vielleicht könnte sie am Hoftor läuten und …
Das alles erschien ihr nicht als die beste Option. Erst wollte sie mehr wissen — mehr von dem Kind. Mehr von dem Leben der Familie, und eigentlich wartet sie auf einen Moment, wo nur die Frau mit dem Kind zu Hause ist, nicht der Mann.
Lydia übt sich in Geduld, was wahrlich nicht mehr ihre Stärke ist, seit Tobias sie beherrscht. Und das Beherrschen ist nicht übertrieben.
Sie hatte ihn am Morgen noch einmal angerufen, um ihn zu beruhigen. Es gehe mit der Maschine langsam voran, aber am Wochenende arbeite eben keiner. Sie möchte sich nicht ausmalen, was passiert, wenn er sie aufspüren und hier aufkreuzen würde. Mit seiner Art, die Dinge zu regeln, würde er alles wieder zunichtemachen.
Mit schwer zu unterdrückender Erregung hatte sie gesagt: »Ich habe einen Monteur bestochen, der wird es hoffentlich richten…« Dann hatte sie die Luft angehalten und auf seine Reaktion gewartet, wie sie immer die Luft anhält, wenn er zu Schlägen ausholt. Tobias schien verschlafen oder verkokst oder wer weiß was zu sein. Er antwortete nicht sofort. Irgendwann lallte er: »Wenn du mir das Geschäft versaust, Gnade Gott. Mach dich endlich auf den Acker oder beweg deinen Arsch hierher. Wie lange willst du noch unser Geld verschwenden…«
Unser Geld? Das meiste bringt sie inzwischen ein, während er mit der Clique herumhängt und nichts als Ärger macht. Zweimal war sie schon seinem Zugriff entkommen, aber die Clique hat ihre Ohren überall. Und leider nicht nur ihre Ohren, auch die Fäuste und mehr…
Wie oft schon hatte sie tagelang wartend zugebracht, bis ihre Wunden verheilt, die Prellungen von seinen Schlägen und Tritten abgeklungen waren, sodass sie halbwegs wieder unter Menschen gehen konnte?
Seine Ausraster sind nicht neu, aber seine Anweisungen lassen an Deutlichkeit nichts mehr vermissen. Was wird passieren, wenn sie wieder zu Hause ist… Zu Hause?
Ihr Herz schlägt bis zum Hals, aber sie genießt den Anblick von Vater und Kind, auch wenn ihre Lauerstellung hinter der Hecke unbequem ist. Sie fällt nicht auf. Hier flanieren immerzu Touristen. Sie könnte sich zur Bank auf die andere Straßenseite begeben, aber dort wird sie gesehen und fällt vielleicht auf. Auch kann sie von da das Kind nicht sitzen sehen. Also bleibt sie hier stehen…
»Da drüben ist eine Bank«, sagt ein älteres Pärchen, das sie im Vorbeigehen intensiv gemustert hat.
Sie hätte es sich auch denken können. So wie sie aussieht, so wie sie hier steht, fällt sie eben doch auf. Sie winkt lächelnd ab und murmelt etwas, von »…kommt gleich…«, was diese Herrschaften zu beruhigen scheint.
Ein paar Jungen flitzen barfuß um sie herum und weiter durch das frische Gras. Sie spielen mit einem ledernen Ball.
Als der Mann mit dem Kind in das Haus verschwindet — ihre Beine werden schwer, und es schmerzt in ihrem Rücken — schleicht Lydia mit verhärmtem Gesicht und unverrichteter Dinge zurück in ihre Unterkunft. Das kleine Haus direkt an der Straße wird kaum noch vermietet, weil niemand mehr für diesen großmütterlich-morbiden Charme auch nur einen Euro zahlen möchte. Ihr war alles recht. Fünfzehn Euro pro Nacht. Mehr ist für sie nicht drin…
Am nächsten Tag hält sie sich wieder ganz in der Nähe dieses Hauses auf. Einmal mehr fällt ihr auf, welch ein Paradies sich das Ehepaar geschaffen hat. Zum größten Teil ist das Haus massiv gebaut. An einigen Stellen auf der Giebelseite deutet das Mauerwerk ein eingelassenes Fachwerk an. Vermutlich musste man sich an Vorgaben halten, im Einklang mit der seltenen Landschaft.
Wie sie so steht und die letzten zwei Jahre überdenkt, wünscht sie sich noch einmal das Gefühl, im Einklang mit sich selbst zu sein. Lebendig und voller Pläne. Dazu fehlt ihr die Kraft. Eine andere, die Kraft ihres geheimen Wunsches, erschreckt sie stattdessen und gibt ihr zugleich die Gewissheit, dass sie tun muss, was sie vorhat — unbedingt.
Manchmal sieht sie das Kind mit dem Vater. Nur einmal ist auch die Mutter dabei, aber als Lydia wie eine gelangweilte Touristin am Gehöft vorbeistolziert, fährt die Familie gerade mit dem größeren der beiden Autos aus dem Hoftor. Das Garagentor senkt sich derweil, also bleiben sie länger weg.
Lydias Fuß stampft unmerklich in den Kies. Der Moment der Enttäuschung verfliegt, ihre Ungeduld verliert jeden Sinn.
Der Mann steigt noch einmal aus dem Wagen und überprüft das Hoftor; die Frau dreht sich um zu dem Kind, das vom Kindersitz aus mit seinen Ärmchen fuchtelt. Vermutlich zeigt es der Mutter sein teures Spielzeug. Die Frau lächelt dem Mädchen zu. Nur schemenhaft sieht Lydia deren Haar und den feinen Teint. Sie ist blond wie das Kind und wie sie selbst — und dieser Umstand sagt Lydia, sie sollte sich beeilen. Einmal wird auch die Mutter allein sein mit dem Kind…
Ihr Zustand erlaubt es nicht länger, stundenlang vor dem Haus zu stehen und auf einen günstigen Moment zu warten. Das Wetter schlägt um und es ist nicht sicher, ob die Leute bei Regen überhaupt noch vor dem Haus zu sehen sein werden. Wann also ist der beste Moment?
Sie denkt an Tobias und spürt jeden Muskel, jeden Knochen, den er ihr brechen könnte, wenn sie nicht bald zurückkommt, oder falls er sie vergeblich bei den Tschechen sucht.
Natürlich gibt es für ihren heimlichen Plan auch jene Möglichkeiten, die Tobias nach wütenden Schlägen von ihr verlangt hat. Natürlich. Aber dazu ist sie nicht bereit und mit zunehmender Zeit immer weniger. Und jetzt, wo sie das Kind gesehen hat, wo sie das Haus und das Drumherum kennt, gibt es nur eine Vernunft, und der wird sie jetzt folgen, auch wenn Tobias sie totsicher der Unvernunft bezichtigen würde, wüsste er von ihrem Plan. Spätestens nach dem Wochenende macht sie Nägel mit Köpfen. Nach dem Wochenende also, wenn der Vater zum Dienst muss…
An jenem Tag, als sie die Leute aufgespürt und das Kind zum ersten Mal zu Gesicht bekommen hatte, stand sie genau hier, wo sie jetzt wieder steht.
Heute hat sie die Haustür genau im Blick, die Garage ist wieder geschlossen. Gestern hatte sie das Kind im Blick, das auf die Rutsche geklettert war, mutig die Schräge hinunter nahm und vom Vater lachend aufgefangen wurde. Jetzt ist der Hof verweist und das Tor geschlossen. Wie lange wird sie hier stehen müssen…?
Lydia weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, als die Tür aufgeht und zuerst der Mann erscheint, sportlich gekleidet. Zweifellos sieht er chic aus, besser als Tobias je ausgesehen hat. Warum ist der Mann nicht zu irgendeinem verdammten Dienst gefahren?
Sie muss sich konzentrieren, hat keine andere Wahl und auch keine Zeit mehr.
Die Kleine, an der Hand des Vaters, trägt eine lustige Latzhose mit einer Applikation, die sie nicht erkennen kann. Zuletzt tritt die Mutter auf die Schwelle. Lydia schaut in drei lachende Gesichter, doch ihr eigenes erstarrt zu Stein. Was sie sieht, als die Frau die vier Stufen herunter kommt, nimmt ihr allen Mut. Warum? Warum mir? Warum haben alle Menschen Glück, nur für mich gibt es nicht einmal eine klitzekleine Chance. Das ist nicht fair!
Abrupt dreht sie sich um und läuft mit tränenüberströmtem Gesicht zu ihrer Unterkunft, während gleichzeitig die verschiedensten Gedanken durch ihren Kopf jagen: Einen neuen Plan ausdenken? Neue Argumente finden? Aufgeben etwa? Nie und nimmer…!
Einen neuen Anlauf wird sie wagen. Mehr als Schläge und Tritte kann sie nirgendwo bekommen.