Читать книгу Eine verteufelte Ironie - Schicksal - Maxi Hill - Страница 8
MEINE LIEBE —DEINE LIEBE
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Luc Abelius dachte zurück an jenen Nachmittag, als er erschöpft in der S-Bahn saß und dieses Gesicht vor sich sah. Er ließ die Stunden Revue passieren, als sie zusammen im Café saßen und sich so angestrengt unterhielten, dass sie die Zeit vergaßen. Und dann —der erste wirkliche Kuss in seiner bescheidenen Wohnung. Der Teufel musste ihn geritten haben, Denise mit zu sich nach Hause zu nehmen. So dachte er an diesem Abend gelegentlich, bis zu ihrem Spaziergang durch die Nacht. Sie hatte von ihrer Zeit danach erzählt. Das Davor meinte ihre gemeinsame Zeit bis zum Abitur. Aber dann wendete sich das Blatt, als sie von ihrem Studium zu sprechen begann und davon, wie mutlos sie bisweilen gewesen sei, weil sie die Nähe zu — und dabei drückte sie sich ziemlich diplomatisch aus — zu einigen Mitschülern, die ihr ans Herz gewachsen waren, vermisste. Es waren nicht diese Worte, es war ihr Blick, der ihn bis ins Mark traf. In diesem Moment konnte er nicht anders, als sie in seine Arme zu nehmen, sie so zu küssen, wie ihm gerade zumute war, sollte sie von ihm denken, was sie wollte. Wie sie aber dann seine Küsse erwiderte, daran hätte jeder Idiot erkennen müssen, auch ihr hatte dieser Abend mehr bedeutet, als sie ihm — oder sogar sich selbst — eingestehen wollte.
Es war ihm verdammt schwer gefallen, sie nicht weiter zu bedrängen. In der Dunkelheit und bei dem sanften Licht der Laternen, schimmerte ihr Haar besonders seidig und die Augen glänzten, als erlebte sie eine besondere Freude. Vielleicht hatte sie sein Schweigen wieder verunsichert, aber er konnte nicht anders, als sie wortlos anzustarren. Dort in der Dunkelheit wurde ihm klar, was er in all den Momenten, wo er sie bei sich in seiner bescheidenen Wohnung hatte, nicht wahrhaben wollte. Zum Glück war Denise nicht mehr die unerreichbare Denise Ebentheuer, die er vor Jahren kannte…
Denise Ebentheuer lief am Montag durch die Reihen ihrer Klasse. Die Schüler der Neunten büffelten über einer Klassenarbeit. «Die Bücherdiebin» hatte sie zur Pflichtlektüre gemacht, und jetzt ist das Fazit daraus zu ziehen. Nicht eben einfach für diese Generation, die niemals Krieg, die niemals Unterjochung einer ganzen Rasse miterlebt hat. Aber wenn diese Generation nicht aufpasste, konnte sie ganz schnell in dasselbe Fahrwasser geraten, wie die junge Generation vor mehr als siebzig Jahren. Vielleicht nicht unter dem Vorzeichen eines Herrenvolkes, so doch durch Abschottung aus unbegründeter Verlustangst.
Sie mochte den Gedanken jetzt nicht weiterführen. Der Abend mit Luc hatte sie schließlich gelehrt, dass auch sie ihr ganzes Jugendleben hindurch nur in den Sphären gedacht hatte, in denen sie selbst lebte. Ohne Not und ohne Sorge um Benachteiligte. Freilich glaubte sie noch immer, es wäre anders gelaufen, hätte man sie teilhaben lassen am Leben Benachteiligter. Aber leider schämten sich diese Menschen ihrer Not und unternahmen alles dafür, dass niemand in dieser Wohlstandsgesellschaft ihren Nachteil bemerkte, den sich jeder selbst zuzuschreiben habe. Wie viele seelensgute Menschen stecken in einer weniger edlen Hülle, und man erkennt ihre Seelen nicht. Aber würde man eine Seele immer erkennen, selbst wenn sie einer auf seiner Haut mit sich herumträgt?
Bei Luc Abelius war es schließlich ein sehr angenehmer Abend geworden. Als sie glaubte, es sei Zeit für eine anständige Frau, endlich zu gehen, bestand Luc darauf, sie unbedingt durch die nächtlichen Straßen zu begleiten. Auf ihrem Weg erzählten sie sich noch ein paar Erlebnisse aus Kindheit und Jugend, und jeder vermied es, an ihren ersten Kuss zu denken. Auch sie wollte dieser Momenterscheinung keine so große Beachtung schenken. Das war allemal besser, als sich später verwundert die Augen zu reiben.
Sie waren einen Augenblick stehen geblieben und schauten einer landenden Maschine nach, über deren Zielflugplatz sie unterschiedlicher Meinung waren. Luc stand dabei so dicht bei ihr, dass sie sich an den Schultern berührten. Ihr war für einen Moment, als würde ihr geliebter Papa das kleine Mädchen Denni, wie er sie nannte, sanft umfassen, ehe er sie auf seinen Schoß hob.
Zu ihrer Überraschung nahm Luc ihre Hand und führte sie an seinen Mund. Als sie die Wärme seiner Lippen spürte, musste sie unweigerlich daran denken, wie es wohl wäre, wenn diese Lippen noch einmal und diesmal ihre Haut, ihren Körper berührten, hier und jetzt. Bei dieser Vorstellung rieselte eine Erregung durch ihren Leib, wie sie noch selten eine gespürt hat. Sie durfte sich nicht gehen lassen, das hatte sie noch nie getan. Also war es für sie höchste Zeit, sich von Luc zu verabschieden. Entgegen allen Wünschen, die plötzlich in ihr erwacht waren, sagte sie: »Ich muss dann hier abbiegen…« Sie reichte ihm ihre Hand, von der sie erst jetzt spürte, wie sie zitterte.
»Es war ein wirklich schöner … Zufall«, stotterte sie in ihrem unterdrückten Verlangen, ihm ehrlich einzugestehen, was sie seit ein paar Stunden fühlte.
»Und wäre uns dieser … Zufall nie geschehen?«, flüsterte Luc ganz dicht bei ihr. »Hättest du dich auch mit mir getroffen, wenn ich nach dir gesucht hätte?«
Denise zuckte die Achseln, aber das konnte er vermutlich gar nicht sehen. Die Nacht war kühl geworden und ließ ihren Körper vibrieren. Freilich wusste nur sie allein, dass es nicht die Kälte war…
»Du hättest auch nach mir gesucht?«
Er schüttelte den Kopf und nahm ihre kalten Hände in seine eigenen, warmen, beschützenden.
»So direkt vielleicht nicht… Aber überlegt hatte ich es mir, ja…«
»Luc, ich will gar nicht so viele Worte machen. Aber die letzten Stunden waren wirklich sehr schön für mich, und ich möchte sie durch unpassendes Gerede nicht wieder zunichtemachen…« Sie unterbrach sich, glaubte, dass es doch nicht der richtige Augenblick war, ihre für Luc Abelius verschüttet geglaubte Zuneigung erkennen zu lassen.
»Der Zufall, Denise, hat der nicht alles viel schöner gemacht? Das hätte keiner planen können…« Bei diesen Worten wollte sie ihre Hände, die er noch immer hielt, zurückziehen, aber er umklammerte sie zu fest und beendete seinen Satz, als hätte es keine Reaktion von ihr gegeben: »Für mich waren es — ehrlich — die schönsten zwei Stunden seit Jahren.« Sie spürte, wie sich sein Daumen in ihre Handhöhle schob und sanft kreiste. Ein warmes Gefühl tief in ihrem Inneren stellte sich ein und sie wusste natürlich, wie gefährlich es war, wenn eine Frau zuerst das ganz besondere Verlangen erkennbar macht. Wenigstens lächelte sie in die Dunkelheit. Sie hätte ohnehin nicht gewusst, wie sie Luc erklären sollte, was sie selbst kaum verstand. Seine Worte hatten ihn vermutlich selbst zutiefst bewegt, das konnte sie an jedem Muskel spüren. Womöglich brauchte er noch eine Weile, um auch ihr Adieu zu sagen. Die Art, wie er sie jetzt ansah, ließ sie ungemein weich werden. Sie konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als käme er noch mit zu ihr… Aber darum zu bitten, verbot sie sich. Als er sich dann über sie beugte und ihre Lippen suchte, sank sie an seine Brust. Sein Körper umfing ihren und er küsste sie begehrlich im Mondschein mitten auf dem Gehweg. Zum ersten Mal kümmerte es Denise nicht, ob sie jemand sah, ob sie jemandem im Wege standen und überhaupt… Sie hatte viel zu lange auf diesen Augenblick gewartet. Sie erwiderte seine Küsse, wie sie noch nie Küsse in der Öffentlichkeit erwidert hatte, leidenschaftlich, fast stürmisch. Es war nur folgerichtig, dass diese Nacht, dass dieses Wochenende anders verlief, als all die Wochenenden zuvor. Und es war sogar folgerichtig, dass ihre Schüler heute darunter zu leiden hatten, weil sie ihre Unterrichtsvorbereitungen sträflich vernachlässigt hatte.