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DENISE EBENTHEUER

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Das Schicksal gleicht einem hohen Berg. Du kannst den bequemen, aber längeren Weg wählen, oder den steinigen kürzeren. Achte nur immer darauf, den Blick in die Ferne nicht zu verlieren.

Sechs Jahre zuvor

Es gab Tage, an denen Denise ungemein traurig werden konnte. Besonders waren es jene, an denen die Natur die Seiten umblättert von Grün auf Rot-Orange.

Früher kannte sie dieses Gefühl nicht. Früher interessierte sie die Natur nicht mehr, als dass sie sie wahrnahm, im Guten wie im Schlechten. Seit einigen Jahren nahm sie ihr Umfeld ganz bewusst wahr.

In der S-Bahn Linie S7, die von Potsdam nach Berlin-Mitte fuhr, hatte sie Zeit, ihren Tag im Gymnasium Revue passieren zu lassen. Freitags tat sie das merkwürdigerweise öfter als an jedem anderen Tag zur Feierabendzeit.

Es hatte angefangen zu regnen. Dicke Tropfen peitschten gegen die Scheiben und zogen hektisch ihre Bahnen schräg über das Fenster. Ihre Gedanken kreisten zwischen der letzten Unterrichtsstunde, die sie mit ihrer Klasse absolviert hatte, und einer schwachen Erinnerung aus ihrer eigenen Schulzeit.

Ihr war, als verstummte das Geplauder um sie herum, als schlugen die Räder jetzt weniger auf die Schienenstöße, als driftete sie ab in jene Zeit, der sie vermutlich zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte, um sie als eine glückselige Zeit zu sehen.

Es war eine glückselige Zeit, obwohl sie nicht sagen konnte, dass sie jetzt nicht zufrieden war mit dem, was sie tat und mit dem, wie sie lebte. Der Name ihrer Arbeitsstätte, ein privat geführtes Gymnasium, vermittelte den Anschein, es sei die Kaderschmiede für die Filmindustrie. Nicht nur der Name. Auch die Lage dicht beim Filmpark täuschte dies vor. Die einzige Verbindung zu dieser Annahme war das Bemühen der Einrichtung um die musische Erziehung der Schüler. Sie war damals sofort begeistert gewesen, denn ihr Teil des Doppelgymnasiums traf alles, was sie sich selbst für den Start ins Leben gewünscht hätte. Nichts erschien ihr erbaulicher, als jungen Menschen die musische Seite des Lebens zugänglich zu machen. Seit langem glaubte sie, das Technische überwiegt zu sehr in dieser Zeit und die Sinne kommen zu kurz. Alles Musische fördert die soziale Kompetenz junger Menschen, und die zumindest hatte in den letzten Jahren gelitten. Und überhaupt – wer seine Sinne nicht komplex genug schult, hat im Leben ein Defizit an Empathie und vermutlich auch an Sympathie.

Denise war nicht vorgewarnt. Sie war sogar zu überrascht, um sich dem Blick zu widersetzen, der sie traf. Irgendwo schräg vor ihr sah sie blauen Augen auf sich gerichtet. Sie nahm das bunte Magazin und hielt es besonders hoch, sodass ihre Arme bald zu schmerzen begannen. Ein paar Stationen ging das so, dann gab sie auf, der Kerl war offenbar ausgestiegen. Kaum legte sie das Blatt beiseite, hörte sie eine Stimme direkt hinter ihr. »Denise? Denise Ebentheuer?«

Sie fuhr herum und blickte geradewegs in diese blauen — wie sie geglaubt hatte — aufdringlichen Augen.

»Luc? Luc Abelius? Mein Gott, wie lange … ich meine, wie kommst du hierher?«

Zuerst konnte sie ihn nur anstarren, obwohl sie ihn in den ersten Jahren nach dem Abi oft in ihren Träumen gesehen hatte. Vielleicht war es die Überraschung, aber sie fand ihn jetzt noch attraktiver, weil männlicher.

»Und du? Wie kommst du hierher?«

Waren nicht eben noch ihre Gedanken in jener Zeit herumspaziert, als sie auch diesen Jungen kannte und dann auch wieder nicht kannte? Hatte sie nicht oft in der Menge gerade solch sinnliche Augen vermisst?

»Ich hab dich kleiner in Erinnerung«, sagte sie merkwürdig irritiert von diesem Zufall. Sein dunkles Haar hatte er freilich noch, aber er war breitschultriger, und in seinem markanten Gesicht lag etwas Bezwingendes, was früher niemals bei Luc Abelius zu erwarten gewesen wäre.

»Ich dich auch … etwas…« Er lächelte, doch es sah diesmal nicht so verklemmt aus wie früher, es sah zufrieden aus, offen, selig sogar. Sie antwortete nicht, schaute ihn nur an, als könnte sie es gar nicht fassen, was ihr an diesem grauen Tag passierte. Und wie sie in seinen Augen zu forschen begann — eine alte Marotte, gegen die sie nicht ankam — kam ihr eine Situation auf dem Bahnsteig in Potsdam ins Bewusstsein. Hatte er sie schon vorher gesehen und erkannt? War er ihr vielleicht gefolgt? Ist er noch der Zurückhaltende, der er früher war?

Denise atmete tief durch und versuchte, sich zu entspannen. Irgendwann im atemlosen Schweigen nahm er ihre Hand, die aus irgendeinem Grund schon wieder das bunte Blatt umklammerte, als brauche sie einen Rettungsring. Ihre Hand war kühl, das spürte sie, doch in ihr Herz strömten seine Wärme und irgendwie auch seine Freude. Der Zufall, gerade in diesem Moment an ihre Schulzeit erinnert zu werden, ließ sie lächeln. Sie hatte vergessen, wie es war, wenn ausgerechnet dieser schüchterne Junge mit den himmelblauen Augen aber mit seltsam dunklem Haar einmal mit ihr gesprochen hatte — nur mit ihr.

Allein seine genetische Besonderheit hatte damals auf sie gewirkt, als habe sie einen kostbaren Edelstein entdeckt. Mehr zu fühlen oder gar zu erwarten, hatte sie sich nicht erlaubt. Dieser Luc erschien ihr damals unnahbar, und wenn er noch der alte Luc war, musste ihm der Zufall vermutlich — anders als ihr selbst — äußerst unangenehm sein. Hätte er sie angesprochen, wenn es so wäre?

Kurz vor dem Bahnhof Friedrichstraße zog sie die Schultern an und sagte: »Ich muss gleich raus.« Ihre heimliche Erwartung, ihr sträfliches Hoffen, hielt sie im Zaum. Sie war ja keine achtzehn mehr.

»Das trifft sich«, sagte er nur und bereitete sich selbst darauf vor, mit ihr auszusteigen. Ob es zu seinem Tagesplan gehörte oder nicht, sie liefen in dieselbe Richtung dem Abgang entgegen. Der Wind peitschte über den Bahnsteig. Sie zog ihre Kapuze über das Haar, für dessen perfekten Sitz sie jeden Morgen akribisch sorgte und auf den sie stets besonderen Wert legte.

Unten vor dem Ausgang, der noch von der Brücke geschützt lag, versperrte ein Knäuel Wartender ihren Weg, der in wenigen Sekunden kein gemeinsamer mehr sein würde.

Luc blieb dicht hinter ihr, und schon bald spürte sie seine Hand auf ihrer Schulter. Ihr Herz taumelte zwischen kindlichem Bitten und sehr erwachsener Konsequenz, die Sache nicht so nah an sich heran kommen zu lassen.

»Warte bitte einen Moment«, sagte er. Sein Gesicht war erregt und die Brust hob sich spürbar unter seiner Jacke. »Du kannst jetzt nicht so, wie du bist, durch diesen Regen…«

Er zog einen Schirm aus seiner Tasche und Denise dachte sofort an ihren Vater, der eher zum Schirm griff als ihre Mutter. Und diese Eigenschaft, sich anders vor Regen zu schützen als mit einem lästigen Schirm, hatte sie von ihrer Mama geerbt. Mit einer Kapuze fühlte sie sich stets auf der sicheren Seite, aber zumeist taugte ein normales Gewebe nicht wirklich, um vor einem Guss wie diesem geschützt zu sein.

Er fragte sie nicht, in welche Richtung sie gehen muss, er zog sie unter dem Schirm näher an sich heran, und das war das ganze Gegenteil vom Verhalten des Jungen von einst, den sie noch nach Jahren irgendwie in Erinnerung behalten hatte.

Sie wehrte sich nicht gegen seine Nähe, aber keine zehn Schritte hielt diese Nähe, als ein plötzlicher Windstoß seinen Schirm umstülpte. Wie auf Kommando rannten sie auf eine Nische am Eingang des Gebäudes auf der andern Straßenseite zu. Sie lachten wie Kinder, und Denise leckte die Regentropfen von ihren Lippen. Luc schüttelte die Nässe vom Schirm, umständlich, aber dann fasste er Mut:

»Wartet jemand zu Hause auf dich?«

»Nein. Und auf dich…?«

»Nein.«

»Dann könnten wir doch…«

Denise lächelte. Diese Art Direktheit gefiel ihr ungemein.

»Ja, natürlich. Dann könnten wir…« Das war es, was sie sich vorgestellt hatte. Mit können und würden hatte sie bei ihm rechnen dürfen. Aber eigentlich hatte er sie doch ganz direkt gefragt, und nun sollte er erleben, wie es ist, wenn daran nichts mehr zu ändern geht.

»Wo schlägst du vor?«, sagte er und zog sie mit sich fort.

So direkt hatte sie mit seinem Vorstoß nicht gerechnet. Denise Ebentheuer war schon immer ein Mensch der Tat, im Gegensatz zu Luc Abelius, zumindest wenn es um sie ging. Wie er damals zu anderen Mädchen stand, wusste sie nicht.

»Wenn dir das Café angenehm genug ist..?«

Es bedurfte gerade nicht ihrer leisen Empörung. War es schon immer seine Meinung, dass sie etwas Besseres ist oder braucht?

Nur schemenhaft hob sich ein Moment aus ihrer vagen Erinnerung heraus. Sie waren auf Bildungsexkursion und sie hatte ihr Pausenbrot vergessen. Als alle zu essen begannen, saß sie da und schaute sich unsicher um. Unsicherheit war in der Regel nicht ihr Ding, aber ihr war dieser Ort fremd und sie wusste nicht, ob es in greifbarer Nähe irgendetwas Essbares gab, in einer Pizzabude oder bei einem Bäcker. Luc Abelius war derjenige, der ihre Not erkannt hatte. Er bot ihr sein Pausenbrot an, und weil sie das nicht annehmen wollte, teilten sie es sich christlich. Es war einfaches, normal belegtes Brot, ohne Schnick-Schnack wie Salatblätter oder Mayo dazwischen. Warum es ihr so köstlich schmeckte, wusste sie nicht sofort.

Es war das erste Mal, dass sie ihm so nah war und dass sie mehr von ihm spürte, als seine übliche Zurückhaltung, die sie ohnehin nie verstanden hat. Sie waren jung und durften sich noch etwas erlauben, aber Luc Abelius erlaubte sich scheinbar nie etwas. Heute sah die Sache möglicherweise anders aus.

Seine blauen Augen so dicht vor ihr und dazu das schneeweiße, sehr gerade gewachsene Gebiss hatten damals eine Woge des Staunens ausgelöst. Zumindest Staunen, an mehr wollte sie nicht denken.

Sie wusste nicht viel von ihm, aber Luc Abelius schien kein Kind von betuchten Eltern zu sein, wie die meisten Kommilitonen auf dem Gymnasium in Zehlendorf. Aber er war nie aufsässig, nie flapsig, nie unordentlich, auch wenn er nicht zu der Spezies gehörte, die mit ihren Markenklamotten den Klassenstandard bestimmen wollten. Wäre er nicht so zurückhaltend gewesen, wer weiß…?

Eine verteufelte Ironie - Schicksal

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