Читать книгу Nur noch einmal - bis zuletzt - Maxi Hill - Страница 7
Der ganz profane Alltag
ОглавлениеEs ist noch nicht viel Zeit vergangen. Dennoch scheint es mir, als habe ich einen sehr weiten Weg voller Entscheidungen zurückgelegt. Nur eine davon ist nicht typisch für Dana Simon, die es gewohnt ist, den Dingen ins Auge zu schauen und einen gangbaren Weg zu suchen, der jedem gerecht wird. Diese eine Entscheidung wird niemandem gerecht. Zugleich ist sie für alle ein guter Kompromiss — außer für meinen Sohn. Er weiß nichts von der betrogenen Frau, die so gerne noch an der Seite ihres Mannes gelebt, geliebt und gekämpft hätte.
Ich fahre mit stoischer Entschlossenheit zu meiner Agentur. Die Pflicht lenkt ab von all den Dingen, die ohne irgendeine Entscheidung meinerseits so gekommen wären, wie sie gekommen sind.
Berge von Papier stapeln sich auf dem Schreibtisch. Die Arbeitsräume sind noch verwaist. Mein Blick schweift nicht sehr interessiert über den Berg an Post, der sich angehäuft hat, weil ich tags zuvor einen Grund hatte, nicht im Dienst zu erscheinen. Routiniert sortiere ich die Geschäftspost von den übrigen Eingängen und räume den Ordner mit den aktuellen Unterlagen zurück an seinen Platz. Den lege ich seit kurzem vorsorglich allabendlich bereit. Es könnte schließlich sein, dass ich eines Morgens nicht erscheine. In diesen Dingen bin ich sehr penibel, dennoch bedeutet mir mein Beruf keinesfalls mehr als meine Familie, wie Peter neuerlich behauptet hat.
Hier und da blättere ich lustlos herum, ehe ich den Stapel von Werbeangeboten rigoros in den Papierkorb zu meinen Füßen befördere. Der Ärger über die Reizüberflutung durch Werbung macht mich zuweilen kurzatmig, erst recht, weil ich dazugehöre zu dieser Zunft. Dagegen anzukämpfen, hieße gegen den Strom zu rudern.
An der Projektwand leuchtete das Rot der neuen Image-Broschüre für einen Kunden. Meine Agentur N.JOY hat seit ein paar Wochen daran gearbeitet, nun liegt das Ergebnis zur Bestätigung vor. Die Kollegen wollen mich damit todsicher überraschen. Keine Frage. Ich habe ein gutes Team. Dennoch beschleicht mich zuweilen deshalb ein Zweifel. Nicht weil ich glaube, sie würden die Sache nicht beherrschen, wenn ich nicht mehr dahinter stehe. Es sind die nebensächlichen Dinge. Kreative sind verträumt, entrückt, schusselig im Umgang mit den profanen Objekten des Lebens, blind für lauernde Gefahren. Schon oft habe ich den Kaffeeautomaten ausgeschaltet, die summenden Ventilatoren vom Netz getrennt, wenn ich nach einem Meeting bei einem Kunden spätabends noch einmal in der verwaisten Agentur nach dem Rechten gesehen habe.
Das Bürohaus mitten in der Stadt gibt zehn Firmen eine Adresse. Eine Katastrophe, welcher Art auch immer, wäre nicht auszudenken. Meine Ermahnungen tags darauf fielen bislang immer glimpflich aus. Zu glimpflich? Sollte man strafen? Sollte man belehren? Ich strafe auch meinen Sohn nicht. Ich versuche stets, ihn mit den Konsequenzen zu konfrontieren. Auch hier habe ich nicht nur reife, mündige Menschen um mich herum, sondern Wesen mit einer Seele. Die Kollegen sind sehr dankbar über die ausgeglichene Atmosphäre, auf die ich großen Wert lege. Die Leute pflegen ihrerseits ein ebenso gutes Verhältnis zu mir. Nur eine kleine, kaum vernehmbare Distanz entspringt der Achtung, die mir von allen gezollt wird. Ist es die Achtung, die mich noch immer die Strapaze eines langen Arbeitstages ertragen lässt?
Ich atme tief durch. Im Grunde bin ich ungeeignet für die straffe, energische Führung. Gottlob weiß mein Team nichts von der Mühe, mit der ich gegen meine Natur leite. Gottlob weiß es so manch anderer nicht. Würde einer von ihnen spüren, wie ich mich plage … und sei es nur die Plage, die gebotene Würde auszustrahlen.
Werde ich heute zur notwendigen Konsequenz finden?
Ich wusste schon bei Nacht, wie dieser Tag aussehen wird: Wie jeder Tag nach einer unverhofften Abwesenheit von mir. Sie würden alle so tun, als sei nichts für sie so interessant, wie das Befinden der Chefin. Dabei sitzen sie wie auf Kohlen, um mir dieses oder jenes Problem unterzujubeln. So gut, wie jede kleine Auszeit tut, so gut weiß ich schließlich, was früher die Tage ohne Auswertungen, ohne Anweisungen für mich waren. Dass der gestrige anders verlaufen ist, ist nicht die Schuld meiner Leute.
Für eine Weile nehmen mich die Rechnungen in Beschlag. Zum Glück gibt es dafür einen externen Buchhalter. Dann prüfe ich den Terminplaner. Zehn Uhr der erste Termin — A. Hawn, Psychotherapeutin – steht darin. Das hatte ich selbst eingetragen. Vielleicht eine Vermittlung durch Mona? Erinnern kann ich mich nicht.
Gewöhnlich gehe ich einigermaßen wissend in die Erstgespräche mit einem potentiellen Kunden. In den letzten Tagen hatte ich keinen Nerv, mich mit derartigen Hintergründen wie dem Heilmittelwerbegesetz zu beschäftigen. Ich war zu abgelenkt, nicht nur von jenem Abend, auch von bedeutungsschweren Dingen des Lebens. Einen Augenaufschlag lang bin ich abgelenkt, fühle etwas in mir, das ich nicht deuten kann. Irgendetwas gerät durcheinander… Ich muss mich konzentrieren…
Eine Psychotherapeutin namens Hawn will Werbung für ihre Praxis machen. Das ist nicht nur Neuland für die Agentur. Mir kommt es immerhin ungewöhnlich vor, dass sich jemand aus der Heilpraktiker-Branche aus freien Stücken an die N.JOY wendet. Dahinter kann nur Mona stecken. Andererseits geht mir der Name nicht gut von den Lippen. Irgendetwas blockiert meine sprichwörtliche Nachsicht mit Monas Heimlichtuerei.
Nach zehn Uhr ist es mit der Ruhe in den Arbeitsräumen vorbei. Die Kollegen haben ihr Frühstück beendet, an dem ich mich Lasse zuliebe nicht beteilige. Zu viel liegt mir an der halben Stunde mit Lasse – früher kam freilich Peter dazu.
Ein leises Schnaufen verrät, dass jemand in der Tür steht und nervös seine Hände reibt.
»Jetzt nicht mehr Britta«, sage ich. Es fällt in der Tat etwas herrisch aus, etwas ungeduldig.
Britta ist eine meiner beiden Mitarbeiterinnen. Leider bringt sie zu wenig Eigenes hervor, weshalb man sie leicht übersehen kann. Nur wenn sie beklagen darf, wie sehr ihre ganz private Erwartung enttäuscht worden ist, sprudelt es aus Britta heraus. Dann hilft es nicht, ihre Erwartungen korrigieren zu wollen, das enttäuscht Britta doppelt. Wie sehr ich mir bis vor kurzem noch wünschte, mehr Zeit für Gespräche, mehr Muße für die persönlichen Sorgen meiner Leute zu haben, einmal fachliche Ansichten kontrovers auszudiskutieren, das behalte ich für mich. Es ist kein trügerisches Gefühl, dafür Wichtiges vernachlässigen zu müssen. So ist das Leben. Es ließe sich so vieles ändern, aber dafür ist es leider zu spät…
»Aber ich muss…«, zischt Britta.
Auch wenn sie sehr nerven kann, es ist nicht ihretwegen. Wenn ich mich geschäftig gebe, dann ist es nicht gelogen. Die Zeit drängt einfach.
Es gibt im kleinen Team gewisse Zeichen, die man sich in solchen Situationen gegenseitig sendet. Vor langen Erklärungen scheut sich jeder. Den Finger zu heben ist leichter. Das erstickt jedes Gegenargument im Keime. Ich hebe heute zwei Finger.
»Ja, ja … ich fasse mich kurz!« Wenn Britta mault, dann geht es ihr so lala. Meistens zieht sie sich in ihr Schneckenhaus zurück und schmollt lange. Viel zu lange. Als sie losgeworden ist, was sie bewegt hat, schaue ich ihr hinterher. Im Stillen danke ich dem alten Konfuzius für seine Weisheiten, an die ich Britta erinnern musste. Trotzdem ist nicht anzunehmen, dass sie jetzt selbst nachdenkt, so, wie es Konfuzius als den edelsten Weg bezeichnete, ein Ziel zu erreichen. Es ist aber anzunehmen, dass sie an diesem Tag nicht noch einmal mit dem gleichen Problem in der Tür steht.
Wie ich erst später bemerke, wiederholt Britta, anstatt an ihren Arbeitsplatz zu gehen, ihre Frage im Nebenzimmer zu Christoph. Der sitzt vor seiner Datei. Jeder weiß, Chris kann Störungen dieser Art nicht ausstehen. Am wenigsten von Britta.
Christoph ist der Designer meiner Agentur. Jung genug, um unkonventionelle Wege zu beschreiten, und alt genug, um ein Tabu zu akzeptieren. Der dunkle Spitzbart im blassen Gesicht lässt ihn älter erscheinen. Sein steifer Gang wie auch die schwarze Baskenmütze erinnern eher an einen Pastor als an einen «abgefahrenen» Werbedesigner. Seine jugendlich sprunghafte Kreativität braucht trotz ständiger Kompromisse, zu denen ich gerne bereit bin, noch sehr viel Führung. Zu guter Letzt kommt immer ein bemerkenswertes Ergebnis zustande. Nur das zählt.
Meine Besonnenheit, gemischt mit Christophs Höhenflügen bewirken bisweilen erstaunliche Resultate. Meistens jedenfalls. Wenn Christoph etwas zu diskutieren hat, ist es im Gegensatz zu Britta immer erquicklich, nie sind es alte Hüte.
Für einen Moment tut sie mir leid. Ich weiß, wie sensible Menschen fühlen. Auch wenn man den rechten Weg nach Konfuzius΄ Weisheiten finden sollte, bleibt eben die Erfahrung als der bitterste Weg. Den habe ich jetzt zu gehen – bis zum Ende.
Punkt zehn Uhr klopft es energisch an der Tür. Diese Momente sagen mir stets, wie unvorteilhaft der direkte Zugang zu meinem Büro ist. Andererseits bin ich nicht der Typ Chef, der sich abschirmen lässt.
Eine Frau erscheint, ohne mein «Herein» abzuwarten. Im ersten Moment wirkt sie bescheiden. Erst die Art ihrer Worte verrät alles andere als Bescheidenheit:
»Ava Hawn, guten Morgen, ich habe einen Termin…«
Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor, wenngleich ich nicht sagen kann woher. Unter Schmerzen erhebe ich mich und lächle, so gut es geht: »Hallo Frau Hawn, ich bin Dana Simon, nehmen Sie bitte Platz.«
Ich sehe Verwirrung im fremden Gesicht. Sie legt lächelnd ihre Visitenkarte auf den Schreibtisch.
Ava Hawn ist groß und schlank. Sie hält ihren Kopf etwas schräg. Das scheint entweder eine Manie zu sein, oder ihre Art, Menschen zu mustern. Sogar als sie Platz nimmt, änderte sie diese Kopfhaltung nicht. Wenn dabei ihr hell schimmerndes, fein glänzendes Haar auf die Schulter fällt, wölbt sich ihre Frisur. Das vermittelt diesem Gesicht mehr Lockerheit und dem Haar mehr Fülle.
»Sie sind die Chefin hier, das ist doch richtig?«
Ich nicke. Mechanisch greife ich nach einer Blanko-Mappe für Kundenunterlagen.
»Ich frage… nun ja, N.JOY hat nichts mit dem Namen Simon zu tun?«
»N.JOY ist ein Kunstname.«
Während ich mich rechtfertige, mustere ich die Frau.
Ich weiß nicht, ob ich sie mag oder nicht. Zumeist mache ich mir darüber keine Gedanken. Heute schwingt etwas mit, das neu ist, das wie eine Vorahnung schmeckt.
Ich schaue auf drahtige Beine, die verkrampft aus dem leidlich über die Knie gezogenen Rock staken. Ihre Körperhaltung hat den Anschein von Unsicherheit, dabei weiß ich nur zu gut, ich bin in der Beurteilung meiner Kunden längst nicht mehr gerecht. Das fällt besonders schwer, wenn man hautnah erfahren hat, wie sie reagieren, wenn es erst um den Preis der Leistung geht. Im nächsten Moment scheint mir die Täuschung durch die Frau beabsichtigt. Sie beugt sich vertrauensvoll nach vorn, als wolle sie mir ein Geheimnis zuflüstern.
»Es ist ein grauenvoller Name.«
Auch, wenn ich der Kundin in spe Recht geben würde, so selbstherrliche Äußerungen hört man selten. Zum ersten Mal spüre ich eine leise Befriedigung in mir aufsteigen. Ich weiß, diese Frau hat Recht, und ich weiß, dass der Kompromiss, den ich damals mit Peter eingegangen war, kein guter ist. Plötzlich freut man sich über so viel Ehrlichkeit.
»Sie sind, wie ich an Ihrem Slang höre, von hier«, redet Ava Hawn weiter. Keine Frage, eher ein Vorwurf. »Bedeuten Ihnen Ihre Wurzeln so wenig, oder waren die deutschen Namen vergriffen?«
Hier fällt es mir zum ersten Mal auf. Die Frau spricht mit feinem englischem Akzent.
»Nein, es ist…«
Mir bleibt nur, süßsauer zu lächeln. In mir kämpft oberflächlich Scham mit tiefer Genugtuung. Ich kann einem Kunden schließlich nicht sagen, was mein Mann vor der Gründung der Agentur über den Mainstream sagte, dem man zu folgen habe oder kläglich scheitern werde. Also erkläre ich: »Unsere Berater meinten, der Name würde gewisse Assoziationen auslösen.«
»Das ist ja der Punkt. Wer immer Ihre Berater waren, man will Ihren Kunden vorgaukeln, dass sie es mit einer weltoffenen Agentur zu tun haben.«
Ava Hawn spricht konzentriert, nur ihre Augen sind ständig in Bewegung, suchen, staunen, kiebitzen beinahe unhöflich über Aktenordner und Computer-Bildschirm. Ich kann in diesen Dingen sehr tolerant sein. Ich habe nichts zu verbergen, aber auch nichts leichtfertig offen herumliegen. Selbst der Monitor spielt nur mit dem Schriftzug N.JOY. Trotzdem schalte ich das ständige Gewusel vollständig ab, während ich mir eine Antwort zurechtlege.
»Diese Assoziation war nicht gemeint, sondern die im Sinn des Wortes.«
»Die Freude also. Haben Sie so viel mehr Freude an Ihrer Arbeit als an Ihren Wurzeln?«
»Das hieße, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. In erster Linie sollen unsere Auftraggeber Freude an uns haben.«
»Wer freut sich schon wegen eines Namens«, sagt die Therapeutin. Das klingt nicht freundlich und nicht wohlmeinend. Ich muss mich sehr zurücknehmen, um meine kurze Erleichterung über so viel Offenheit nicht gleich wieder zum Teufel zu wünschen.
»Man beschrieb Sie mir als eine Werbeagentur, an die ich hohe Erwartungen knüpfen darf.«
Also doch Mona?
»Und nun zögern Sie?«
»Nicht wirklich.«
Die Frau wühlt in einer scheußlichen Tasche herum. Offensichtlich sucht sie etwas Wichtiges. Für einen Moment habe ich so fremde Gedanken im Kopf, dass ich selbst erschrecke. Ich könnte schließlich auch ehrlich zu ihr sagen, wie grauenvoll diese Tasche ist. Ich könnte fragen, ob die modernen bereits vergriffen waren. Derlei Eigenschaften habe ich mir manchmal im Leben gewünscht, leider blieben sie völlig unterentwickelt. Daher bewundere ich Menschen, die unverblümt sagen können, was sie denken.
Erst einmal greife ich zum Telefon und bitte Britta mit Engelszungen, uns zwei Tassen Kaffee zu kochen. Seit ich meine Agentur leite, habe ich einen leichten Gesprächseinstieg zu meiner Gewohnheit gemacht. Es ist allemal höflicher, als mit der Tür ins Haus zu fallen, obwohl ich in letzter Zeit die Kunden lieber gehen sehe als kommen. Meine diffusen Nächte verschleiern zunehmend den Ausgang meiner Tage.
»Ich betreibe eine kleine Praxis«, schnauft die Frau in ihr Taschentuch, das sie endlich gefunden hat. Sie betupft ihre sehr schmale Nase mehrmals ungeniert und schiebt wie nebenbei ihre Visitenkarte weiter zu mir heran. Entgegen meiner Gewohnheit habe ich sie noch nicht an mich genommen — ein unverzeihlicher Lapsus. Jetzt schaue ich genauer hin: Dieses Stückchen verunstaltete Identität sieht aus, als wäre sie das Werk eines Fliesenlegers; eine geballte Scheußlichkeit typografischer Missgriffe. Um mich dazu zu äußern, sehe ich noch keinen Grund, schließlich kommt diese Frau nicht von ungefähr zu einer Werbeagentur.
So denke ich noch –eine halbe Stunde später denke ich anders.
Es ist ihre Entscheidung, auf den Smalltalk zu verzichten.
»Sie läuft in der Tat gut«, fährt sie über ihre Praxis fort. »Aber das reicht mir nicht.« Sie schaut mich so durchdringend an, so fordernd, dass meine Lippen wie von selbst zucken. »Kaum ein Mensch ist damit zufrieden, was er hat…nicht wahr?«
»Sie wollen also eine Imagekampagne?«
»Es geht mir nicht um das, was Sie Image nennen«, fällt sie mir ins Wort. »Ich habe meine Praxis mit dem Ziel eröffnet, psychotherapeutische Behandlungen durchzuführen.« Sie hebt ihre Schultern und wippt ein wenig damit. »Die Menschen haben Vorbehalte gegen alles Psychische. Die gilt es abzubauen.«
»Ist es nicht so bei allen intimen Dingen?«
»Mag sein. Was würden Sie machen, wenn niemand braucht, was Sie anbieten? Bisher war ich gezwungen, physiotherapeutische Methoden anzubieten. Darin bin ich zwar erfolgreich, aber der Körper ist nicht mein Spezialgebiet. Eine einfallsreiche Werbung könnte nutzen.«
»Sofern es das Gesetz erlaubt. Ich muss mich da erst schlau machen.«
Ihre Geste wirkt abfällig, die Worte nicht minder.
»Die heutigen Gesetze sind schizophren.«
Vielleicht hat sie damit Recht. Ich selbst bin schließlich eine von denen, die die kuriose Wirklichkeit als unabänderlich hinnehmen, ohne Aufbegehren, ohne Kritik zu üben. Warum ich nicht sein kann wie diese Frau, bereitet mir schon mein Leben lang Unbehagen.
»Wenn das so weiter geht«, lamentiert sie, »gibt es gute Werbung bald nur noch für den kleinen Katechismus und für Katzenfutter. Was beinahe identisch ist.«
Ich ducke mich innerlich unter diesem Wortgewitter. Genau so, wie ihre kuriosen Worte im Raum stehen, kommen sie mir von irgendwoher bekannt vor. Ich glaube sogar, sie bei Peter gehört zu haben, kann es aber nicht beschwören. Zudem weiß ich bei Gott nicht, warum er derartige Mutmaßungen über Werbung anstellen sollte.
Ava Hawn scheint eine Antenne für meine Gedanken zu haben. Sie verzieht ihren schmalen Mund, was so schadenfroh aussieht, als wolle sie jemandem ein Schnippchen schlagen.
»Zum Glück gibt es Lücken in jedem Gesetz.«
Ava Hawn schaut mich ein bisschen bösartig an. Das ist nicht neu und nicht außergewöhnlich. Es wird sich sogar noch verstärken, wenn die Aufgaben abgesteckt sind und die Kalkulation vorliegt. Erst unlängst hatte ich mich von einem Kunden verabschiedet, der den Eindruck vermitteln wollte, alles besser zu können, nur um den Preis der Leistung zu drücken. Im Stillen erwarte ich noch mehr Worte dieser Art. Also lächle ich still. Bei fremden Menschen fällt mir das nicht schwer und wie es scheint, wirkt es bereits. Der Ton von Ava Hawn wird sachter, ihr Blick milder. In dieser Milde finde ich die Frau sogar attraktiv. Sie ist nicht wesentlich älter als ich, hat graublaue Augen und eine feinporige Haut.
»Ich bin kein Arzt, und das Heilpraktikergesetz besteht seit 1939. Das hat noch der Stellvertreter Eures Führers unterzeichnet. Nach dem Gesetz bin ich frei in der Wahl meiner Methoden.«
»Aus der Gesetzesfreiheit erwachsen noch keine epochemachenden Werbeideen, die das Image einer Branche verbessern, oder gar ein Stigma auflösen.«
»Ich bin ihr Partner, nicht die ganze Branche. Ich erwarte eine professionelle Werbung, die sich von allem Bisherigen abhebt. Es gibt leider verdammt viele Möchtegern-Psychologen.«
Das ist kein guter Einstieg in eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Zum ersten Mal habe ich das Vorgefühl von einem kontroversen Ausgang. Vielleicht ist es sogar eine verkappte Prüfung meines Gewerbes?
»Jede gute Werbung kann scheitern«, sage ich. »Es kommt auf mehr an, als auf eine gute Idee. Schon Henry Ford sagte: Die Hälfte jedes Dollars, die er für Werbung ausgäbe, sei umsonst. Er wisse nur nicht, welche Hälfte.«
Ava Hawn grinst vielsagend.
»Keine Angst. Ich raste nicht aus, wenn es ums Geld geht. Es gibt andere Gründe, die mich mehr fordern…«
Der mehrdeutige Ton in den Worten der Frau gefällt mir nicht, nur das Lächeln, mit dem sie auf meine Hände blickt, verrät noch etwas von Normalität.
Meine Hände ruhen nie wirklich. Wie nervös sie mit dem Stift spielen, fällt mir selbst nur selten auf. Peter greift bisweilen danach — er griff danach, wenn er mir andeuten wollte, ruhig zu werden. Ich befehle mir Selbstdisziplin, obwohl ich noch längst nicht im Klaren bin, ob ich dieses Geschäft wirklich eingehe.
»Klartext, Frau Hawn. Es gibt keine Patentrezepte. Wer das behauptet, sollte Showmaster werden. Wir bemühen uns um Substanz. Der Erfolg unserer Arbeit hängt jedoch maßgeblich von der Mitwirkung unserer Kunden ab.«
»Alles im Leben hängt von etwas ab. Drum prüfe, wer sich ewig bindet…«
Es ist nicht nur das Gesicht der Frau, das sich in diesem Moment total verändert. Es ist nicht der Tonfall, der mein Unbehagen an die Oberfläche zurückbefördert. Es ist eine Geste, die mich an etwas erinnert. Im nächsten Augenblich weiß ich es genau. Ich täusche mich nicht.
»Peter Simon? Ist das Ihr Mann?«
»Woher kennen Sie … ich meine …Ja, schon…«
»Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, passen Sie gut auf. Ich muss es auch. Ihr Mann und meine Tochter… ich meine, bei Jodies Alter ist er ein Auslaufmodell.«
Ein gemeines Spiel, denke ich. Ein Spiel mit gezinkten Karten, so sehr ich sie als Mutter verstehen kann.
»Ihrem Gedankenspiel kann ich im Moment nicht folgen«, sage ich. Sie muss spüren, dass ich mich verstelle.
Ich habe keinen Nerv für ein vertiefendes Gespräch um eine Sache, die mich selbst sehr belastet. Ich gebe vor, unser Gespräch habe jetzt den Punkt erreicht, wo wir gemeinsam mit den Kreativen Nägel mit Köpfen machen sollten. Ich bringe Jodies Mutter mit Chris zusammen, der nicht zum ersten Mal das weitere Prozedere wie Briefing oder Brainstorming mit einem Kunden beredet. Ich hoffe, Ava Hawn ist es überhaupt ernst mit einem Auftrag.
Nach diesem Zwischenfall weiß ich nicht, was ich denken soll. Ich nehme zum ersten Mal nicht an diesen Gespräche teil, sondern verpflichte Michaela, Chris zu unterstützen. Ich verlasse meinen Platz mit der Begründung, einen Termin außer Haus zu haben. Christoph kennt in der Regel meine Termine, aber er ist auch froh, hin und wieder allein das Zepter zu schwingen.
Meine Agentur ist nie das Wichtigste in meinem Leben gewesen. Im Augenblick belastet mich sogar alles Berufliche über Gebühr. Im Moment will ich mir keine Gedanken um den Erfolg anderer Menschen machen. Ich will nicht über den Sinn und Unsinn von Werbung nachdenken. Sie ist genauso verlogen, wie Liebe verlogen sein kann, wenn sie nicht auf Wahrhaftigkeit beruht. Werbung beruht nur selten auf Wahrhaftigkeit. Kein Kunde verrät uns die Macken seines Produktes. Alle sinnen nur darauf, Mängel hinter der besten Idee zu verschleiern, Vorteile ins beste Licht zu rücken. Das ist zwischen den Menschen nicht anders, und das liegt in der Natur von uns Menschen. So leben wir. So überleben wir. So findet jeder seinen Platz.
Auf meinem Weg nachhause mache ich mir nicht einmal mehr Gedanken darüber, was mit meiner Firma wird, wenn ich aussteige…
Über die Dinge zu sinnen, ist eine einsame Beschäftigung, geeignet für Leute wie mich, die sich in keiner Gesellschaft wortreich auslassen. In mir kämpfen an diesem einsamen Nachmittag in meinem vertrauen Zuhause bei süßem Tee mit bitterer Medizin zwei Ritter um die Ehre. Der eine fragt: Wie wäre mir jetzt zumute, hätte ich nicht längst von Peters Liebschaft gewusst? Der andere sagt: Die Liebe kennt nur zwei Zustände — Krieg und Frieden.
An Liebe zu denken ist für diesen Tag kontraproduktiv. Derartige Gedanken durchbrechen den selbstgebauten Schutzwall, den ich um mich errichtet habe, weil es für jeden Kampf zu spät ist. Ich weiß nicht, woran ich denken soll — also denke ich an Lasse. Für ihn nehme ich die letzte Anstrengung in Kauf…
Ich schleiche im Haus herum, ohne Sinn und Zweck. Vor dem großen Spiegel erschrecke ich vor mir selbst. Ich fühle mich schuldig. Es liegt an mir, dass Peter diesen Weg für sich gewählt hat. Andererseits fällt wenigstens einer der Menschen, die ich liebe, nicht ins Bodenlose …
Wenn Peter glücklich ist, wird es auch Lasse gut gehen.
Die Wanduhr in der Küche klackt seltsam laut an diesem stillen Tag in meinem Haus. In zwanzig Minuten kommt Lasse…