Читать книгу Mensch auf eigene Gefahr - Maxi Hill - Страница 5
Das Interview
ОглавлениеAn Isa-Kathrin Benson kam man nicht so leicht heran. Der Sicherheitsdienst hielt mich auf. Nicht wegen der Autorin, die ich, Jenny Mai, zu interviewen hatte. Er hielt alle Menschen auf, die nicht in diesen Wohnblock gehörten, der die Menschen in sich aufsaugt wie ein hungriger Schlund. Mehr Menschen als in einem Dorf wohnen hier. In einem Dorf würde jeder jeden kennen. Das war hier illusorisch, nicht erst, seit die Zeit so viele Fremde zu uns gespült hat.
Die Sprechanlage surrte. Dann hörte ich die Stimme der Frau, die ich nur von Lesungen und Talks kannte. Was galt der berufliche Blick gegen ein Interview im ganz intimen Umfeld? Das Kultur-Magazin der Stadt hatte sich zur Aufgabe gemacht, auch die regionale Literatur wieder stärker in den Fokus rückte.
Hoch oben wohnte sie und gab mir durch die Sprechanlage eine klare Wegweisung.
Schon von ihrer Tür aus schaute sie mir über den langen Mittelgang entgegen. Als ich näher kam, suchte ich nach ein paar persönlichen Worten, ehe es zur Sache gehen sollte: »Ich hatte Sie mir älter vorgestellt.«
»Dann kommen Sie morgen gleich nach dem Aufstehe nochmal wieder«, scherzte Isa-Kathrin Benson. Wir lachten und das Eis war sofort gebrochen. »Das Altern ist eine der Gerechtigkeiten des Lebens. Sie kommen auch noch dahin«, sagte sie schmunzelnd. »Keine Angst. Älter zu werden kann durchaus bequem sein.«
Während ich über die Schwelle stieg, bemühte ich mich, keinen abschätzenden Blick auf die kleinen Anzeichen ihres Alters zuzulassen.
»Heißt das, man muss sich im Alter keine Mühe mehr geben?«
»Im Gegenteil. Die Eitelkeit altert leider nicht mit, sie ändert sich nur in der Richtung.«
Ich dachte an Marie Ebner-Eschenbach: Jung zu sein ist schön, alt ist bequem. Laut sagte ich: »Wenn das so ist, kann das Alter nur von Vorteil sein.«
»Man muss zumindest keine Meinung mehr fürchten. Keine über sich und keine, die man von sich gibt.«
Wortlos nahm sie meine Jacke und trug sie zur Garderobe.
»Mein Opa sagte immer: Alter schützt vor Torheit nicht.« Ich spürte an ihrem Gesicht: Das war zu platt für eine, die sich zu artikulieren verstand.
»Das ist nicht meine Version. Für manche Torheit ist man nur zu schwach geworden, für andere zu klug.«
Von Torheit spürte ich bei Isa Kathrin Benson nichts. Sie schien mir wenig eitel, dafür freundlich, zurückhaltend, bescheiden.
Ihre Stimme klang sanft und doch nicht kraftlos. Sie trug hellgraue Jeans und eine weiße Bluse unter dem hellgrauen Kaschmirpullover. Edel, aber nicht over-dressed, wie man sagt. Ihr Haar umspielte das faltenlose Gesicht. Es schimmerte in einem Braun, dem ein leichtes Violett untergemischt war: Frisch. Modern.
Während sie Kaffee einschenkte, bestaunte ich das Bücherregal. Dürrenmatt, Feuchtwanger, Seghers, Simmel, Strittmatter und «unser» Juri Koch standen aufgereiht neben vielen anderen deutschsprachigen Literaten. Im Fach darunter die Wälzer von den Franzosen: Zola, Balzac, Dumas und Stendhal.
Bescheidener platziert waren mehr als zwanzig Bände aus Isa-Kathrin Bensons eigener Feder, wie man sagt.
Sie schreibe nicht mit der Hand, erwiderte sie. Das könne sie nicht. Der Computer sei ihre Prothese für das, was manche Leute Talent nennen. Sie nenne es Fleiß und die Gabe, sich selbst infrage zu stellen — immer wieder, auch wenn es weh tut. Wenn sie den Eindruck habe, mit ihrer Arbeit vollkommen zufrieden zu sein, verwerfe sie das Werk. Oder sie lässt es jemanden lesen, der ihr nicht gutgesinnt ist, dem ein Verriss das Ego stärkt. Daran könne sie sich hochhangeln.
Und dann stand sie selbst vor dem Bücherschrank und strich mit der Rückseite des Zeigefingers behutsam über die Wölbung ihrer Schätze.
Die Franzosen stünden nur in ihrem Schrank, weil man sie auch in der DDR zu kaufen bekam. Damals, als die Zensur die Bücherregale beherrschte und somit den Horizont der Menschen. Dennoch gebe es auch gute DDR-Literaten. Seghers sei noch immer ihr Vorbild. Sie habe es mit ihrem siebten Kreuz immerhin geschafft, das Kind Isa aus ärmstem Haus zum Lesen zu begeistern. Die Mutter habe nicht das Geld gehabt, um die Schulliteratur anzuschaffen. Zum Glück habe es in ihrem Dorf eine flexible Bibliothek gegeben, die zweimal in der Woche die Ausleihe betrieb. Kostenlos, schob sie mit Nachdruck hinterher, als wollte sie das Gute betonen, das zu schnell vergessen worden ist.
Das Paar wohnte geschmackvoll, aber auf Repräsentation ist die Wohnung nicht ausgerichtet. Alles war geradlinig und sachlich, ohne jeden Schnickschnack.
»Man muss leben können und arbeiten, mehr braucht es nicht«, sagte sie fast beschämt, als sie meinem Blick nachspürte. »Es gibt Menschen auf dieser Welt, die all die Annehmlichkeiten, die wir uns vehement als unser minimales Recht einfordern, nie im Leben kennenlernen werden.«
»Ein Satz aus einem Ihrer Bücher. Ich finde so manches von Ihnen sehr mutig…«
Ihr gütiger Blick beschämte jetzt mich. Ich musste die Sache abwarten und fragte, was es auf sich hat, wenn man sagt, sie sei ein Sprachrohr der Schwachen.
»Bei meiner Biografie?«
Sie gab mir das Gefühl zu glauben, ich würde ihre Biografie kennen. Aber ich kannte, um ehrlich zu sein, allenfalls ihre Bibliografie, die mir inzwischen vollständig aus dem Bücherschrank entgegen schaute.
»Wer das Leben mit seinen Facetten kennt und seine Wurzeln nicht verleugnet…« Sie zog die schmalen Schultern an. Ihr kurzer Blick prüfte in meinem Gesicht, was ich zu hören gedacht hatte. Ich nickte, während ich meinen Notizblock aus der Tasche fischte und ihn auf meinen Knien bereithielt.
»Mein Leben stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Selbst der liebe Gott hatte kein Erbarmen gezeigt. Ich habe vier Geschwister und mein Vater war im Krieg geblieben. Ohne die Prägung durch das Leben verläuft vieles anders – glaube ich.«
Was hatte ich erwartet? In dem Moment war mir nur klar: Wer mit dem, was er schreibt, als Sprachrohr der Schwachen gilt, dessen Wurzeln saugten vermutlich nie am Wohlstand.
Isa-Kathrin Benson strich ein paar Haare aus ihrer Stirn. Es war sehr still in diesem riesigen Haus, in dieser Wohnung, die sehr viel Ruhe ausstrahlte, dennoch keinesfalls lauschig wirkte.
Meine Vorstellung von dem, was ich ursächlich hören wollte, rückte von mir ab und blieb doch nah bei mir. Nah, weil jedes Wort mit der Ursache, mit dem Wesen verbunden war, das ich hinter den Geschichten zu ergründen versuchte. Auftragsgemäß.
Durch mein Fragen ermuntert erzählte sie von ihrem Werden in der schwersten Zeit, die es je gab auf deutschem Boden. Von fünf vaterlosen Kindern und einer geplagten Mutter.
Als sie endete, zog sie wieder die Schultern hoch, als wollte sie sagen: Ich hab ΄s Ihnen ja gesagt.
Mir war klar, dass ein solcher Mensch die Schattenseiten des Lebens nachvollziehbar beschreiben kann.
»Nicht alles, was mich bewegt, hat mit Armut zu tun. Es sind die Armutszeugnisse unserer Zeit, die mich rastlos machen.«
Jetzt wollte sie vermutlich nicht deutlicher werden. Ihre zuckenden Lippen wurden von der zierlichen Tasse verborgen, nach der sie gegriffen hatte. Der Moment verflog. Einmal mehr fiel mir auf, welche Würde in der schmalen Gestalt lag, deren Hände keine Sekunde ruhten.
Unvermittelt hob sie eine Hand. Ihre Augen huschten umher. Nicht lange, da läutete ihre Klingel. Was dann passierte, konnte nicht als Wunsch, nicht als Hoffnung, wohl aber in der Kategorie Angst verbucht werden. Solange sie zur Tür ging, eilten meine Gedanken durch den Tag:
Ich erinnerte mich an unser Telefonat. Auf meine Frage hin sagte sie — und es klang in meinen Ohren vorwurfsvoll: »Mir geht es selten um Kritik am gesellschaftlichen Thema. Ich möchte erzählen, welche Wirkung es auf einzelne Menschen, auf deren Schicksale hat. Wenn man dabei Konflikte schafft, ist das allerdings gewollt. «
Wie sich viel später herausstellen sollte, wurde ich nach dem Läuten an der Tür Augen- und Ohrenzeuge eines Konfliktes, den wir vermutlich — wäre das Leben anders verlaufen — aus Isa-Kathrin Bensons Feder erfahren hätten, irgendwann ganz bestimmt.
Nach dem Zwischenfall mit der fremden Frau, der auch mir Angst gemacht hatte, und an zwei weiteren Tagen danach erfuhr ich von Isa-Kathrin Benson jenen Bruchteil ihres Lebens, von dem ich keine Ahnung hatte und dem die Autorin selbst nicht die Bedeutung zugemessen hatte, die sie noch für sie bekommen sollte.
Ich werde im Weiteren also nicht über das literarische Schaffen der Isa-Kathrin Benson schreiben. Ich werde über eine Frau schreiben, die über ihr eigenes Denken und Handeln haderte, vieles unterschätzt hat, die aber mit großem Herzen gegen den Strom schwamm, bis an die Ufer ihres Gewissens. Eine Frau, die sich bemühte, immer Mensch zu sein, notfalls auf eigene Gefahr.