Читать книгу Mensch auf eigene Gefahr - Maxi Hill - Страница 6
Zwei Jahre zuvor
ОглавлениеIrgendwann merkte Isa-Kathrin Benson, dass es ihr nicht gelang, auch nur einen Satz gründlich zu durchdenken, bevor sie ihn aufschrieb. Kein guter Start in den aschgrauen Vormittag.
Gegen elf Uhr gab sie auf. Es war besser, eine Stunde an die frische Luft zu gehen und anschließend den Einkauf zu erledigen. Vielleicht würde sie sich auch mit irgendjemand auf einen Kaffee an ein ruhiges Plätzchen setzen. Damit hatte sie in den letzten Jahren kein Problem und sie konnte darauf wetten: Irgendjemanden traf sie immer. Viel zu oft musste sie eine spontane Einladung ablehnen, weil sie Sinnvolleres vorhatte. Was ist schon sinnvoll? Das Schreiben ist zumindest nicht wichtiger als die Menschen. Das hat sie stets bewiesen, wenn ihre Enkeltochter Laura in den Ferien zu Besuch kam. Gary wäre niemals auf die Idee gekommen, einen seiner Termine sausen zu lassen. Dafür fühlte er sich zu wichtig. Für Isa gab es kein Pardon. Wenn das Kind da war, hat sie nicht einen Finger auf die Tastatur gesetzt. Manchmal war sie deswegen auf Gary ärgerlich. Sie wusste schließlich, wie gerne er das Oberhaupt spielte. Manchmal tat er sich so hervor, dass es sie schmerzte, wenn er sich heimlich mit dem Kind davonschlich und ein Geschenk überreichte, das sie ganz alleine beschafft und liebevoll verpackt hatte.
Es machte leider keinen Sinn, seine Argumente als egoistisch zu benennen. Für Gary gab es nur eine Sicht auf die Dinge – seine. Wie kann man das einem Menschen übel nehmen? Jeder ist einmal von sich überzeugt. Wenn es aber soweit ging wie am letzten Abend, dass er ihr vorwarf, immer Recht haben zu wollen, weil sie anderer Meinung war, dann ging ihr die eigene Toleranz entschieden zu weit.
Dieser kleine Wortwechsel drückte noch immer zwischen ihren Rippen. Dafür gab sie sich selbst die Schuld, niemanden sonst. Wer zu lange erträgt, verwirkt sein Recht, aufzubegehren.
Solange sie über sich und die Dinge nachdachte, die sie nie im Leben geändert hatte, schlüpfte sie mit grantigen Bewegungen in ihre Jeans, zog einen frischen Pullover über und griff nach der Steppjacke. Es war schon empfindlich kalt, und in der Stadt zog es heftig um manche Ecken.
Wenn Laura noch jünger wäre und öfter käme, wüsste sie, was sie jetzt besorgen würde. Zum Glück hat sie die Zeit mit der Enkelin genossen und sie weiß, dass das Mädchen nur deshalb ebenso tief in ihrem Herzen verwurzelt ist wie Tochter Mia. Die wenige Zeit miteinander genutzt zu haben, die ihnen bei der Entfernung der Wohnorte möglich war, war ihr sehr wertvoll. Jetzt war das Mädchen den Kinderschuhen entwachsen und hatte andere Vorlieben. Das war der Lauf der Zeit.
Sie hängte ihre Tasche über die Schulter und nahm das Schlüsselbund in die Hand. Wie gewöhnlich schaute Isa zuerst durch den Spion. Wenn die Putzkolonne den Fußboden bearbeitete, wollte sie warten. Sobald die Frauen mit ihren Wischmobs an ihrer Tür vorbei sein würden, könnte sie allerdings über den Flur des angrenzenden Nordflügels das Haus verlassen, ohne deren Arbeit zu stören.
Es war alles ruhig. Umso mehr erschrak sie, als sie die Tür hinter sich zuzog und direkt auf eine junge Frau fremder Herkunft stieß. Sie stand vor der Wohnung schräg gegenüber.
Die letzte Nachbarin, alleinstehend, introvertiert und wenig gesprächig, mit ebenso scheuer Katze, war unlängst klanglos ausgezogen. Die Zwei-Zimmer-Wohnung stand jetzt leer. Vielleicht, so dachte Isa, ist heute einer der Besichtigungstermine.
Obwohl die Fremde sofort lächelte, sah sie scheu aus, dennoch anders als die bisherige Nachbarin. Sie schaute nicht weg, aber sie hatte einen seltsam demütigen Blick.
Es sollte ihr recht sein, Hauptsache es gab keinen Lärm oder Streit mit respektlosen Nachbarn. Auch die leidige Unsauberkeit, die die Fremden angeblich verursachten, wäre ärgerlich. Darüber klagten zumindest Leute in den großen Plattenbausiedlungen an den Stadträndern.
Isa glaubte nicht an schlecht belegte Worte, sie glaubte nur daran, was sie sah. In diesem Moment stellte eine junge Frau zwei pralle Einkaufsbeutel vor der Nachbarstür ab. Sie trug eine weiße Hidschab und einen graugrünen Parka. Mehr konnte Isa auf den ersten Blick nicht erfassen.
Die junge Frau lächelte ihr zu, als sie grüßend fragte.
»Kommen Sie nicht in die Wohnung?« Vermutlich wartete sie auf die Dame von der Wohnungsverwaltung, die es mal wieder mit den Fremden nicht so genau nahm. Vielleicht war die Frau nicht pünktlich gewesen und der Vermieter hatte nicht warten wollen. Das kannte man von den Fremden. Weil es aber den deutschen Werten widersprach, wurde Unpünktlichkeit strikt abgelehnt.
Die Frau machte eine undeutliche Geste und lächelte wieder, weshalb Isa zweifelte, ob sie verstanden wurde. Sie musste vermutlich deutlicher werden:
»Kann ich Ihnen helfen?«
Das Strahlen im kopftuchumrahmten Gesicht wurde heller. Ein zögerndes »Nein« löste sich von den schmalen Lippen, ehe die Hand der Frau fast unmerklich zum anderen Ende des Flures wies. Vom Aufzug her näherten sich zwei junge Männer, dunkelhaarig, gut gekleidet, laut redend. Beide sahen sehr ordentlich aus und waren südländischen Typs.
Isa hatte die Geste der Frau verstanden. Nur eines machte sie wütend. Wenn diese Wohnung für drei junge Leute vermietet wurde, war all das vorprogrammiert, was sie befürchtete.
Mit der Ausländerbehörde hatte sie nichts am Hut. Bei der Wohnungsverwaltung musste sie momentan für sich selbst nichts klären. Also blieben ihre Zweifel über die drei fremden Menschen noch eine Weile in ihr. Mit Geduld war sie in den Jahren gesegnet. Irgendwann würde sie wissen, wie viele neue Nachbarn sie bekommen hat.
Die beiden Männer grüßten höflich, redeten aber ungeniert in gleicher Lautstärke weiter. Zuletzt hörte Isa, wie einer der beiden etwas in Richtung der Wartenden sagte, was sich anhörte wie: Madame. Das machte ihr die Männer mit einem Schlag sympathisch. Sie lächelte noch, als sie schon im Aufzug stand und im Frontspiegel ihr Gesicht sehen konnte. Benimm dich nicht wie deine eigene Großmutter. Was weißt du schon, was ‚Madame‘ in fremden Kulturen bedeutet? Hier würdest Du an Matrone denken. An Herrin. An Gebieterin? Gäbe es dafür einen Grund zum Lächeln?
Innerlich zufrieden stemmte sie sich dennoch vehement gegen jedes Vorurteil, das zur gängigen Meinung zählte. Bisher war auch sie von einem fremdbestimmten Leben muslimischer Frauen überzeugt, die sich zu unterwerfen haben, die vor den Männern rechtlos sind und auf eigene Wünsche verzichten müssen. Mit einem höflichen «Madam» ging das alles nicht zusammen.
Isa wusste, dass ihre Gedanken jeder Logik entbehrten, aber sie war nun mal so beschaffen, dass sie sich über alles, was ihr begegnete, den Kopf zerbrach. Zum Leidwesen von Gary.
Sie ging quer über den Platz, schlenderte durch die Einkaufstraße, schaute sich ein paar Auslagen an, änderte ihre Richtung und ging denselben Weg noch einmal. Erst als sie in einem bekannten Café schon wieder diese blonde Frau mit ihrem Mann dicht am Fenster sitzen sah, bemerkte sie die eigene Abwesenheit. Auch sie saß gerne in einem Café und trieb Studien, die manch ein Café-Milieu ermöglichte.
An diesem späten Vormittag trieb sie etwas anderes um. Warum sah sie heute so viele fremdartige Gesichter? Wo waren sie in all den Wochen und Monate, als sich die Frontmacher gegen schleichende Überfremdung, die Hasser alles Undeutschen, schon längst die Mäuler darüber zerrissen, man im sehe Stadtbild nur noch Ausländer. Isa hatte die Sache als Stimmungsmache abgetan und nicht näher darüber nachgedacht.
An diesem Tag sah sie das Bild der Stadt in einem anderen Licht. War es, weil sie vormittags nur selten durch die Straßen spazierte? Waren es ihre Gedanken über die drei Menschen auf dem heimischen Flur? Waren es jene höflichen Worte, die sie nicht erwartet hatte?
Sie konnte sich die Fragen nicht beantworten. Dafür ging ihr etwas anderes durch den Kopf:
Viele Menschen, die sie kannte, auch kluge Leute, sagten, es sei vernünftiger, die Kulturen dort zu belassen, wo sie hingehören. Ihr Wochenspruch im Kalender war da anderer Meinung: Wir sind unterschiedlich, damit wir voneinander lernen können.
Dennoch sind Kultur und Mensch zwei eigene Kategorien. Beschämend, dass sich die Regierenden nicht einig sind, was zu ihrem Land gehört. Wer Kulturen friedlich nebeneinander zulassen will, muss sie nicht gleich vermischen wollen. Es wäre klüger, die Menschen Toleranz zu lehren, als ihre Gefühle zu verletzen. Jede Kultur definiert sich durch das, was die jeweiligen Menschenselbst geschaffen haben. Wenn eine fremde Kultur dazu stößt, darf man sie nicht als zu sich gehörig ausgeben. Man darf aber hoffen, das Fremde kommt sich näher, bis das Leben es von selbst durchmischt. Nur dieses Gemisch hat Bestand. Seit den Kreuzzügen sind die Nationen durchmischt. Keine Doktrin von oben hätte das Angeborene, das Traditionelle besiegen können. Nur der Mensch als Individuum hatte entschieden, was zu ihm gehören durfte.
Es waren die Parallelen zu ihrem Leben, die ihr beim Gehen durch die geschäftige Menge keine Ruhe ließen:
Wie wäre das Leben für unsere Familie verlaufen, hätte meine Mutter nicht schon lange vor dem Krieg Schlesien verlassen. Ich wäre ein Umsiedler-Kind gewesen. Umsiedler musste man damals sagen, obwohl die Menschen vertriebene worden waren und flüchten mussten. Umsiedler war das offizielle Wort, als hätten die Menschen es nach dem Krieg selbst so gewollt.
Sie lief gedankenschwer über den Platz dem Einkaufscenter entgegen, in dessen Untergeschoß ihr Standard-Händler war. Oben in der Mall herrschte geschäftiges Treiben. Am Mall-Café, das ein Ausländer führte, vermutlich ein Italiener, reichten die spärlich eingedeckten Tische kaum aus. Das Bild glich dem üblichen: Die schwerbehinderte Frau in ihrem Rollstuhl, die stets ein Bein über das andere schlug, als wollte sie ihr Handicap hinter Grazie verbergen. Der Opa mit seinem Rollator, der allmorgendlich zum Frühstück erschien. Er saß noch immer da und wartete vermutlich vergeblich auf eine der beiden Frauen, die ihm gewöhnlich Gesellschaft leisteten.
Etwas anderes glich dem Üblichen nicht: An den meisten Tischen saßen Gruppen von Männern mit schwarzem Haar und dunkler Haut. Nur zwei Frauen konnte Isa in deren Menge ausmachen. Die fremden Männer tranken Kaffee aus Plastikbechern und rauchten dazu. Kaum einer unter ihnen, der nicht sein Handy zückte. Isa kannte dieses Bild auch von den deutschen jungen Leuten. Vielleicht war sie nicht mehr jung genug, jedenfalls lehnte sie es auch bei ihren Kindern rundweg ab, sich permanent dem Elektronik-Wahn hinzugeben. Heute dachte sie zum ersten Mal milder: Vielleicht vergisst ein Mensch dabei, dass er mit scheelen Blicken und üblen Worten bedacht wird. Haben diese Fremden freiwillig ihre Heimat verlassen? In dieser kalten Welt kennen sie sich nicht aus. Vermutlich besänftigen sie ihr Heimweh mit einem Anruf bei der Mutter zu Hause. Mit einer Mail an den Onkel. Mit einer WhatsApp an den Bruder. Wer einen solchen Schritt gegangen ist, war entweder in Not oder er wurde verführt. Auch Verführer wollen leben.
Heute fielen ihr sogar ein paar scheele Blicke Vorbeieilender auf. Sie sah Hände vor geifernden Mündern. Blieb für diesen Tag eine Frage: Wer von all den Menschen, die sich als feindlich begreifen, ist ärmer dran?
Bis jetzt war das alles weit weg. Jetzt stand es irgendwie direkt neben ihr. Sie würde sich nicht mehr abwenden können, wenn es an ihre Tür klopfte. Sie würde jedoch sagen müssen: Ich weiß zu wenig von euch und eurem Land. Genau das müsste sie ändern, sie selbst, wenn sie diese fremden jungen Leute als Nachbarn anerkennen wollte. Anderenfalls wäre auch sie reichlich arm dran.
Auf der engen Rolltreppe nach unten wurde sie von eiligen Einheimischen angerempelt, unsanft beiseitegeschoben oder als wäre es unvermeidbar, mit Taschen und Rucksäcken attackiert.
Es zog Isa nach Hause, weil sie spürte, dass sie Kopfschmerzen bekam. Nur noch rasch den Einkauf erledigen.
Gleich hinter der Ladenschranke am Brotregal kam ihr ein merkwürdiger Gedanke. Sie stand vor dem Angebot unzähliger Brotsorten zu einer Zeit, in der «am Ende der Welt» — das sie hautnah kannte — manch einer kaum ein Körnchen Hirse in den Topf bekam.
Sie fröstelte, und das lag nicht an der Raumtemperatur des Ladens.
Zu dieser Zeit hatte sich nicht im Entferntesten abgezeichnet, was ihr Denken bald mehr als gewollt besetzen sollte. Manch einer ihrer Leser bezeichnete ihre Art zu schreiben als großes Mitgefühl. Das wollte sie nicht. Wenn jeder mitdenken würde, wäre die Welt schon ein bisschen besser. Sie alle hatten es gut getroffen auf diesem Teil der Welt: Satt zu essen, warme Kleidung, ausreichend Wasser für jeden Luxus, Wohnungen ohne Mangel in Städten mit gutem Flair.
Sie kaufte frisches Gemüse, verschiedene Sorten Käse, etwas frischen Hack und Joghurt für den Nachtisch, auf den Gary keinen Tag verzichtete. Außerhalb der Kasse verstaute sie alles in einen Nylon-Beutel. An jeder ihrer Handtaschen verankert sie einen solchen mit einem Karabinerhaken, um niemals zu einer Plastiktüte greifen zu müssen.
Einen kurzen Moment nur traf sie ein kleiner Stich. Es war das Gesetz der Hausfrau, dem sie ewig gefolgt war und das sie nun sträflich verletzt hatte. Sie kaufte gewöhnlich ein, was Gary schmeckte. Warum hatte sie nun verschiedene Sorten Käse im Korb? Gary aß so gut wie keinen Käse. Fisch in allen Variationen, im Gegensatz zu ihr selbst — sofern sie den Fisch nicht eigenhändig frisch gebraten hatte.
Warum so viel Gemüse, und erst recht so viel Käse?
Hatte sie das junge Paar zum Kauf animiert, das lange suchend vor der riesigen Käseauswahl stand, verschiedene Sorten prüfte und doch zögerlich weiterging? Es waren Fremde, ohne Frage Araber, Inder oder Türken. Vielleicht Studenten von der Universität? Denen aber hätte sie zugetraut, mit den sparsamen Aufschriften klarzukommen.
Als ob das Leben an diesem Tag ganz neue Geschütze auffuhr, kehrte sie nicht um. Fisch war noch als Konserve im Haus und das frische Hack war allein Gary zuliebe im Korb gelandet.
Im Weitergehen überlegte sie, ob sie jemals ihre eigenen Wünsche in den Vordergrund geschoben hatte. Erinnern konnte sie sich nicht. Aber sie kannte das Leben: Das eigene Tun hinterfragt man nicht.
Wenn sie Gary heute von den neuen Mietern erzählte, würde er sofort skeptisch werden. Er würde sich seiner Standardmahnung bedienen, bestenfalls würde er sie fragen, was sie getan habe. »Nichts«, würde sie antworten. Es war ja nur eine höfliche Floskel, kein Versprechen zur ständigen Hilfe oder eine Einladung zu irgendwas.
Während sie schon in der Tasche nach dem Wohnungsschlüssel kramte, fragte sie sich, ob ihr Spaziergang an diesem Tage anders verlaufen wäre, hätte es diese zufällige und überdies profane Verkettung von Blicken und Gesten auf dem heimischen Flur nicht gegeben.