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Farid

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Isa war gerade auf dem Weg zu Gina, als draußen die Zwischentür zum Nordflügel dumpf ins Schloss fiel. Einen Moment lang verharrte sie noch hinter der Tür ihrer Wohnung. Es war eine dumme Angewohnheit. Sie war nicht menschenscheu und hatte auch kein anderes Problem mit Kontakten jeder Art. Diese Marotte stammte von Gary. Die Jahre mit ihm hatten auf sie abgefärbt. Ungewollt. Sie wusste allerdings, dass sie mit dieser Art Zurückhaltung nicht allein war auf der Welt. Gina hatte unlängst eine ähnliche Episode geschildert, ohne damit etwas zu bezwecken.

Gina war Buch-Autorin wie sie auch, schrieb aber über völlig andere Themen und schöpfte nie aus dem wahren Leben. Alles bei Gina kam aus ihrer Fantasie. Dicke Freundinnen wollte Isa sie beide nicht nennen, dafür waren ihre Kontakte zu spontan; oder zu selten? Wenn Isa über Gina sprach, nannte sie sie stets eine Schreib-Kollegin, was sie de facto ja war. Nichts weiter. Nur selten sprachen sie über sehr private Dinge. Aber es hatte auch keine je bei der anderen einen literarischen Rat gesucht. Ausgenommen davon war der Umstand, wie sie sich kennengelernt hatten. Gina hatte bei Isa angerufen, weil sie einen Verlag für ihren ersten Roman suchte. Isa war zu dieser Zeit schon stadtbekannt, und da lag die Anfrage nahe. Dass sie beide im selben Block wohnten, wussten sie auch lange danach noch gar nicht.

An diesem Tag sollte Isa Gina helfen, die Datei für das nächste Buch zu layouten. Gina hatte sich nach dem Verlagskonkurs ebenso wie Isa dazu entschlossen, die Veröffentlichung in die eigene Hand zu nehmen. Neben dem Schreiben kann man seit ein paar Jahren auch all die Dinge selbst vollziehen, die sich ein Verlag sehr gut bezahlen ließ. Satz, Layout, Titelbild und Covergestaltung, bis hin zum Marketing. Das spart Frust und Geld. Sehr schnell hatte sich Gina Isas Devise zu eigen gemacht: Schreiben ist Lust, veröffentlichen ist Frust. Seit ein paar Jahren hatte Isa große Genugtuung verspürt, wenn sie eines ihrer Werke aus eigener Kraft ins mediale Licht der Welt hob. Sorgen machten ihr nur noch das Marketing. Ohne Öffentlichkeit bekam man kein Buch an den Mann, bei eigenen Lesungen ausgenommen. Dort aber wollten die Menschen mehr und mehr unterhalten werden und neben dem Eintritt möglichst kein weiteres Geld ausgeben.

Mit ihren Gedanken bei Gina, öffnete sie endlich ihre Wohnungstür. Noch niemals war sie in Ginas Wohnung, wusste nicht einmal die genaue Wohnungsnummer, obwohl Gina nur eine Etage tiefer im Nordflügel wohnte. Der hatte einen separaten Eingang, wie jeder Flügel des Blockes. Also sah man sich selten, zudem war Isa keine, die gerne in das intime Umfeld anderer Menschen eindrang.

Vor der Nachbarstür im Gang stand ein Mann, eingehüllt in eine warme Jacke, die Wollmütze tief in die Stirn gezogen und winterliche, vor Nässe triefende Schuhe an den Füßen.

Es konnte nur einer der neuen Mieter sein, den sie von der ersten Begegnung ziemlich anders — adretter? — in Erinnerung hatte.

Ohne zu wissen warum, hatte sie damit gerechnet, dass seine Tür sich rasch hinter ihm schloss. Das war ein Irrtum. Er grüßte sie, wie sie ihn zuvor — schließlich machte sie in diesem Haus beim Grüßen keinen Unterschied, ob Mann oder Frau, ob jung oder alt:

»Hallo. Isch bin Farid. Isch hier wohnen. Aus Afghanistan. Isch haben Freundin.«

So, so. Freundin also. Sie wollte höflich etwas dazu sagen, aber sie konnte nur staunen. Ob sie über ihn oder über sich selbst und ihre falsche Vermutung staunte, war kein Grund, um in diesem Moment darüber nachzudenken. Vielmehr bewegte sie etwas anderes. Diese «Madam» war also seine Freundin? Gesehen hatte Isa die unscheinbare Frau in ihrem Hidschab nie wieder. Vermutlich gab die Wohnungsverwaltung für unverheiratete Ausländer kein Okay. Es war also zu erwarten, dass die Frau illegal hier einwohnte und sich deshalb nicht oft blicken ließ.

Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln. Sie wünschte ihm eine gute Zeit und man werde sich ja jetzt oft begegnen.

»Ja«, sagte er, aber es klang dahin gehaucht wie: »jea«.

Dann ging er hinein und sie selbst schlüpfte durch die Zwischentür, wo gleich in der ersten Wohnung auf dem ebenso langen Gang des Nordflügels seit Kurzem ein anderer Ausländer wohnte, über den man sagte, er sei ebenfalls Afghane. Vielleicht waren die beiden befreundet und einer hat den andern zu dieser Wohnung animiert. Hinter dessen Tür tönte oft laute Musik bis in den Gang. Sie hörte sie bisweilen, wenn sie an der Tür vorbeischritt. Dennoch. Bei ihrem Nachbarn, der nun auch einen Namen besaß, hatte sie noch nie einen Mucks gehört. Kein Wunder, dass sie lange Zeit glaubte, die Wohnung sei noch gar nicht wiedervermietet. Zwar gab es einen Umstand, den eine Hausfrau hätte anders deuten können, aber das hatte sie nicht. Sie kümmerte sich nicht um die Marotten anderer Leute. Aber jetzt dachte sie daran: Immerhin hatte schon am selben Tag, als sie die jungen Leute zum ersten Mal gesehen hatte, ein Fußabtreter vor der Tür gelegen. Für deutsche Verhältnisse ein sicheres Indiz für Sauberkeit.

Nett war er ja, dachte sie. Und wenn sie seine Worte richtig deutete, ging ihm die Freundin über alles. Wie oft sie in letzter Zeit so merkwürdig darüber nachdachte, wie verschieden sich die Welt entwickelt hat, konnte sie nicht mehr zählen. Momentan spürte sie, wie enttäuscht sie von sich selbst war, weil sie wenigstens ein Wort von Dankbarkeit erwartet hätte, dass er hier sein darf. So war sie nie. Dankbarkeit zu erwarten hätte ihr Leben, in dem sie selbst arm dran war, gar nicht ermöglicht.

Warum sollte ihr gegenüber jemand von Dankbarkeit reden? Es ist nicht ihr Verdienst, dass es hier keinen Krieg gibt wie in seinem Land. Hier ist er sicher, und so wie er ausschaute, hat er sogar ausreichend warme Kleidung. Dennoch schien er erkältet. Die Nase rot gefroren, Tränen vom eisigen Wind in den Augen. Vermutlich bekam ihm das Klima nicht. Wissen diese Menschen nicht, wohin sie da flüchten?

Ärgerlich unterdrückte Isa diesen Gedanken. Heimlich möchte sie Gary Recht geben. Es ist eine Schwäche von ihr, nicht nur jedem Menschen Aufmerksamkeit zu widmen, auch seine Gedanken und Gefühle ergründen zu wollen.

Noch auf den Stufen nach unten stapfte sie härter auf als gewöhnlich: Es musste doch für einen erwachsenen Mann logisch gewesen sein, dass es hier kalt wird. Und es musste ihm auch bewusst gewesen sein, dass er hier kein goldenes Schloss errichtet bekommt.

Die jungen Leute können mit einer Zwei-Zimmer-Wohnung mit Komfort wahrhaft zufrieden sein.

In diesem Mietshaus, auf diesem Flur, trafen nun gelegentlich zwei Welten aufeinander, die voneinander nichts wussten. Vielleicht lernte man daraus? Vielleicht tat man sich gegenseitig gut?

Zum ersten Mal besprach sie mit Gina etwas, was sie gerade erlebt hatte. Und zum ersten Mal wusste sie, warum sie ihre Meinung nie lauthals von sich gab. Aus Gina kamen Töne, die sie nicht vermutet hätte: »Ich kann dieses Ausländergeschwafel nicht mehr hören. Überall nur noch: Ausländer. Ausländer. Ausländer. Als hätten wir keine eigenen Sorgen.«

Kannte sie Gina je so abwerten, so unumkehrbar in ihrer Meinung?

Im Handumdrehen spürte Isa kein Schlagen mehr in ihrer Brust. Es war ein Rütteln, ein Getöse zwischen den Rippen, das ihre Bestürzung verstärkte. »Alles kehrt wieder zurück, heißt ein altes Sprichwort«, sagte sie sehr darauf bedacht, Gina nicht zu kritisieren. »Ich denke, jetzt ist die Zeit, wo sich die Sünden unserer Vorfahren zu rächen beginnen.«

»Meine Vorfahren haben weder Afghanistan noch Syrien gekannt. Und wenn, dann aus den Märchen aus Tausend und einer Nacht.«

Unmerklich duckte Isa ab, klein beizugeben lag ihr aber nicht, nicht, wenn ihr Gewissen sie ermahnte.

»Wo ich das Elend gesehen habe, hatten unsere Vorfahren die Völker gebeutelt. Seit Jahrhunderten…«

»Aber den Fortschritt haben sie auch dahin gebracht.«

»Es kommt immer darauf an, wie man Fortschritt definiert. Auch heute sagt man, man bringe den Fortschritt. Was tut man? Man verhindert deren Fähigkeit zur Selbsthilfe.«

»Dann sollen die jungen kräftigen Männer doch auch bleiben, wo sie gebraucht werden, und ihre Heimat voranbringen. Wir brauchen sie doch nicht.«

Isa verstand die kranke Vorsicht nicht, die in vielen Menschen steckte, wenn sie von Ausländern hörten. »Wir waren ein paar Jahre lang selbst Ausländer in einer völlig anderen Kultur. Ja, wir wurden berufen. Und ja, wir mussten uns anpassen. Aber wir durften auch unsere Kultur ausleben, sofern wir damit die Gefühle der Einheimischen nicht verletzten. Zumeist ging es gut.«

»Willst du jetzt meine Zustimmung oder darf es die Wahrheit sein…«

Die Wahrheit. Gina hatte also die Wahrheit gepachtet.

Isa lächelte unbestimmt, sagte aber im selben Atemzug: »Die heben wir uns für den Moment noch auf. Wenn die Arbeit getan ist, sehen wir weiter.«

Sie schwenkte den Stick, auf dem sie die Layoutvorlage für Ginas Buch vorbereitet hatte. Gina verstand. Ihre Augen signalisierten sogar Zufriedenheit. Über die Fremden verloren sie kein weiteres Wort an diesem Tage und auch später hielten sie sich zurück.

Später auf dem kurzen Weg durch das Haus zurück zu ihrer Wohnung fielen ihr die Gesten wieder ein, die sie bei Gina noch nie gesehen hatte. Sie waren immerhin deutlicher als die Worte.

Warum hatte sie überhaupt mit Gina über die Sache zu reden begonnen? Vielleicht hatte Gary in einem Punkt Recht. Es ging ihr nicht ausschließlich um fremde Hoffnung. Es ging ihr zu einem Teil um ihren eigenen Seelenfrieden, um ihre Selbstbestätigung, ein guter Mensch zu sein.

Zu dieser Zeit war Isa vieles unklar, was Farid und seine Freundin betraf. Unwissenheit konnte den Anschein, den eine Situation hatte, enorm verändern. Schon bald hatte sie etwas bemerkt, was sie nicht gerne preisgab, schon gar nicht vor Gary. Dabei war es etwas, was den gesunden Menschenverstand überhaupt nicht belasten musste, weil es so logisch war wie das Einmaleins: Die Regeln von Farids Leben waren nicht ihre Regeln. Keinesfalls. Was sie dachte, konnte bedeutungslos sein, sie hätte es nicht so genau sagen können. Sie spürte nur, wie etwas jenes Bild zerstörte, von dem sie glaubte, es mache sie mitmenschlich. Niemals könnte sie etwas zwanghaft wollen oder sein. Auch deshalb versuchte sie seit Monaten zu respektieren, was Gary von ihr erwartete: Distanz.

Dagegen aber hatte ein anderer Mensch eine andere Strategie.

Mensch auf eigene Gefahr

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