Читать книгу Mensch auf eigene Gefahr - Maxi Hill - Страница 8
Sheyla
ОглавлениеDen ganzen Dienstag fiel Regen aus schweren Wolken, die der Wind vom Westen her über das Land trieb. Warum, so dachte Isa, sollte sie sich in die Stadt begeben? Was nicht im Haus war, konnte nicht konsumiert werden. Sie würden nicht verhungern.
Es gab Zeiten, da liebte sie schlechtes Wetter. An diesen Tagen musste sie nicht mit sich hadern, wenn sie sich kaum vom Computer entfernte, genau gesagt, von ihrem Text. Gary quittierte ihren Arbeitseifer stets mit den Worten: »Man kann es auch übertreiben.« Nur wenn er seine Ruhe wollte, galt ihre Abwesenheit nicht als Verstoß gegen die Ehepflicht.
Nur selten verschwendete sie einen Gedanken daran, wie er seinen Job mitunter übertrieb. Vermutlich hatte sie das Toleranz-Gen vererbt bekommen. Vermutlich. Von welchem ihrer Elternteile, könnte sie nicht sagen. Sie kannte ihren Vater nicht, hat ihn nicht mehr kennengelernt. Dennoch sagte unlängst ein Rezensent zu ihr, sie habe ein Talent, das vererbt sein muss. Als er dann fragte, wer von den Eltern es ihr in die Wiege gelegt habe, dachte sie zum ersten Mal darüber nach. Zu ihrem Erstaunen sogar laut.
Ihr Vater war ein musischer Mann, das wusste sie von ihrer Mutter. Blieb die Frage: Warum hat keines ihrer Geschwister einen musischen Beruf ergriffen?
Der Tag war wie geschaffen fürs Schaffen. Das Letzte, worauf sie jetzt Lust hatte, war, über Unergründliches nachzudenken. Das Ergründbare lag in einem Stapel Ausdrucke vor ihr und musste zu einer plausiblen Story verwoben werden. Eine Geschichte aus dem Leben und doch verquickt mit ihren Ängsten, mit ihren Hoffnungen und Wünschen …
Es war das Wesen der Dinge, das sie zu ergründen versuchte, besonders aber das Wesen der Menschen; der schwierigste Teil ihrer Berufung.
Sie schrieb und schrieb und dachte dabei an Gina, die vermutlich verzweifeln würde, wenn sie strikt bei der Wahrheit bleiben müsste und doch einen Spannungsbogen erzeugen oder den narrativen Haken zur richtigen Zeit zu setzen hätte. Wenn alle Strategie versagte, half ihr zumeist, zu philosophieren: Was wäre wenn?
Besonders wichtig war für Isa-Kathrin Benson von jeher die Plausibilität ihrer Werke. Zu oft in manch einem Film — ja, sie schaute durchaus gerne Filme, weil sie daran gute Studien treiben konnte für Plot und Struktur — passierten Dinge, die durch nichts zu erklären waren. Für sie eine Todsünde. Vielleicht hatte ihr Hang zur Plausibilität einen zu großen Anteil an ihren Geschichten, denen Leser wie Professionelle bescheinigten, sie würden wertvolle Themen enthalten. Bisweilen hörte sie Worte wie: sie sollten von viel mehr Menschen gelesen werden. Andererseits hielten sich gerade diejenigen sehr zurück, die daran drehen könnten, weil sie über die nötigen Kanäle verfügten.
Das war kein Thema für diesen Tag. Das Jammern gehörte zu einer anderen Einstellung, zu einem anderen Universum.
Die Tastatur klapperte seit Stunden im Takt ihrer schnellen Finger bis sie die Wohnungstür klappen hörte, als Gary vom Dienst nach Hause kam. Erst in diesem Moment bemerkte sie, noch keinen Happen gegessen zu haben, und was geradezu sträflich war, keinen Tropfen getrunken.
Mitunter amüsierte ihren Mann, dass seine akribische Frau inzwischen auch mal ein zeitliches Chaos zulassen konnte, nie ein sichtbares. Freilich nur, sofern sie ein Manuskript fesselte. Eigentlich fesselte sie immer irgendein Stoff. Was er schon immer beherrschte, hat sie in den letzten Jahren dazugelernt, ohne es erlernen zu müssen: Prioritäten zu setzen. Das Leben hatte Isa neue Ranglisten geschrieben.
»Du sitzt doch nicht etwa seit heute Morgen dort! «
Das war ein handfester Vorwurf.
Sie schloss die Datei und klappte die Mappe zu, in der sie ihre Recherchematerialen aufbewahrte. Ohne ein Wort huschte sie zur Küche. Es war nur der heftigen Bewegung geschuldet, dass die Tür hinter ihr lauter als gewöhnlich zuschlug. Sie zuckte, aber der physikalische Zufall passte zu ihrem Gemüt.
»Isa! Was ist los mit dir?«, schrie Gary, der die Tür sofort wieder öffnete. Ihr wurde ganz komisch bei seinen lauten Worten. Als sie ihn anschaute, sah sie in ein Gesicht, das momentan nichts Liebenswertes hatte. Es spiegelte sogar einen Menschen, den sie niemals lieben könnte.
»Glaubst du, ich weiß nicht, was mit dir los ist?«, brüllte sie beinahe zurück. »Du brauchst minutiös dein Essen auf dem Tisch. Und nun glaubst du, es bleibt an dir hängen, zu kochen. Das ich nicht lache!« Theatralisch schwenkte ihr Arm zum Arbeitszimmer. »Vergiss bitte nicht, dass ich zwei Jobs habe — mindestens. Ich manage nicht nur den Haushalt, damit mein gestresster Mann minutiös sobald er zur Tür hereinkommt, das warme Essen auf dem Tisch bekommt. Was willst du eigentlich…« Sie drehte sich abrupt weg und klapperte besonders laut mit den Tellern. Immerhin hatte sie seine Lieblingssuppe aufgetaut, die sie eigenhändig vorgekocht hatte.
Als er sich später zum Essen setzte, starrte er sie lange an, ehe er seine Worte zwischen vibrierenden Lippen herausstieß. »Stößt du auch andere Menschen so vor den Kopf, obwohl sie es gut meinen?«
»Wer wen vor den Kopf stößt, wollen wir gar nicht erörtern. «
Schweigend aßen sie, jeder mit seinem Groll in der Brust. Freilich hatte auch sie ihre Meinung auf zynische Weise ausgedrückt, aber im Kern hatte sie doch Recht.
Diesmal war eine Nichtigkeit eskaliert. Warum kühlte ein langes gemeinsames Leben die Liebe zweier Menschen ab? Weil der Zweck der Liebe seit langem erfüllt war?
Den Abend verbrachte Gary Benson allein vor dem Fernseher. Isa behagte es nicht, noch große Worte zu sagen. Früher hätten solche Szenen Tränen in ihre Augen getrieben. Für Kummer war ihre Zeit zu knapp. Trotzdem wusste sie, wie oft er ihr nur vortäuschte, noch zu ihr zu stehen. Dagegen sprachen leider genügend Beispiele.
Sie wollte sich den Tag nicht vollends verderben und schloss innerlich ab: Der ideale Mann— und das war ihre Altersweisheit — ist ebenso ein Gerücht, wie die vollkommene Ehe. Beides gab es nicht. Zu keiner Zeit.
Der Rechner arbeitet, der Mann samt Länderspiel war vergessen, die Story in Isas Kopf bekam gerade jene Brisanz, die der Zweck des Schreibens war…
Ihr Körper zuckte, als es an der Tür läutete. Wie spät es inzwischen war, hatte sie nicht bemerkt. Sie neigte dazu, den Frust des Tages in ihre Bücher zu übertragen. Diesmal nicht. Sie war erstaunlich ruhig geblieben, wohl, weil sie ein Quäntchen Schuld bei sich selbst gesehen hatte.
Das Läuten der Klingel verriet ihr, der Besucher stand nicht unten an der Haustür, sondern direkt vor der Wohnungstür. Wie spät es auch immer war, für gewöhnlich ging Isa nach dem Abendbrot nicht mehr an die Tür, überließ es Gary und seiner Gabe, eine Sache rasch zu beenden. Diesmal beeilte sie sich sogar, wollte Gary keinen Grund für seine schlechte Laune geben. Natürlich plagten sie Schuldgefühle, aber sie vermochte an ihrem Leben mit Gray nicht wirklich etwas zu ändern. Es blieb bei gelegentlichen Andeutungen, bei denen sie nur selten — und wenn, dann nur für sich im Stillen — einen Erfolg verbuchen konnte.
An der Tür gab der Spion nur ein verzerrtes Bild eines Menschen, einer Frau vermutlich, worauf das weiße Tuch schließen ließ. Es konnte keiner in das Haus hinein, der nicht einen Adressaten angab. Also durfte sie beruhigt öffnen.
Vor ihr stand die Frau im weißen Hidschab, der sie vor Wochen begegnet war. An diesem Abend lächelte sie nicht. Sie schien verzweifelt, worüber auch immer. Das blasse Gesicht war auf den Wangen feucht und es musste einen Grund dafür geben.
Isas Unterbewusstsein reagierte auf eine greifbare Tragödie, zugleich aber kamen ihr Garys Worte in den Sinn: »Wenn du dich erst mal mit einen von denen einlässt…«
Einen Moment lang standen sich zwei Frauen gegenüber, die miteinander nichts anfangen konnten. Isa verstand keine der Sprachen aus jener Welt, aus der die Frau kommen konnte. Die Frau sprach kaum Deutsch. Nur ein paar hilflose Brocken lösten sich von den zitternden Lippen. Zeitweise hatte sie den Eindruck, sie maßen sich gegenseitig, was vermutlich auch so war.
»Können Sie wieder nicht in Ihre Wohnung?«
Das feuchte Gesicht verneinte die Vermutung. Sie wolle zu Farid, aber er öffne nicht. Ob Isa die Brocken richtig deutete, war ihr längst nicht mehr klar. Mit Händen und merkwürdig akzentuierten Worten versuchte die Frau zu erklären, dass sie nicht hier wohne, aber schon seit Tagen ihren Freund nicht mehr erreiche. Auf dem Handy melde er sich nicht. Die Klingel sei abgestellt und es wisse auch sonst niemand, wo er sei. Also könne er nur in der Wohnung liegen. Hilflos. Krank oder sogar …Das Wort tot kam ebenso nicht über ihre Lippen, wie all die anderen Worte, die Isa nur aus den gestikulierten Bewegungen mutmaßen konnte.
Was war zu tun? Erst einmal grübelte sie darüber, warum die Frau nicht auch hier wohnte. Also wohnte Farid mit jenem anderen jungen Mann hier und sie hatte ihn vor Tagen nur falsch verstanden. Isch habe Freundin sollte wohl heißen: Ich habe einen Freund. Nicht selten gab es derart Probleme mit der Sprache.
Isa lächelte der Frau zu. Es gab nur diese zwei Möglichkeiten, wie man mit Menschen umging, die der Sprache nicht mächtig waren: Abkehr oder Mitleid. Sie entschied sich für letzteres, schluckte aber den mitleidigen Ton herunter und bemühte sich um einen banalen.
»Er wird mit seinem Freund unterwegs sein.«
Die Frau verstand sie offenbar besser als sie glaubte. Sie wehrte sofort ab und bat Isa, die Polizei zu rufen, weil etwas Schlimmes passiert sein musste.
Das war undenkbar. Ohne nachweislichen Grund würde kein Ordnungshüter kommen. Vielleicht aber wusste der Wachdienst Bescheid, wie man in diesen Fällen verfahren sollte. Also schloss sie die Tür ihrer Wohnung und bewegte die Frau, mit ihr zu kommen.
Das hieß keineswegs, die Frau würde aufhören zu weinen. Immerhin hatte sie nach Isas Hand geangelt, so, als wollte sie damit einen Dank ausdrücken.
Unten vor der Loge der Sicherheitsfirma blieb die Frau ängstlich zurück. Hinter der Glaswand, durch die die wechselnden Wachleute alles überblickten, was sich vor dem und im Hauseingang tummelte, saß heute der junge Herr Springer, mit dem Isa schon oft ein paar nette Worte gewechselt hatte, auch scherzende, die es für Isa nur selten gab.
Auch diesmal fiel sie nicht gleich mit der Tür ins Haus. Ein kleiner Smalltalk über das Fußball-Länderspiel, das Gary gerade schaute und das womöglich auch der Mann bisher geschaut hatte — wenn auch heimlich, weil während des Dienstes nicht gestattet. Erst dann erkundigte sie sich nach den Möglichkeiten.
Wie sich herausstellte, war die Frau bereits in ihrer Not beim Diensthabenden, Herrn Springer, gewesen, aber er habe ihr nur sagen können, was er dann wiederholte: »Wenn sie die Polizei braucht, muss sie sie selbst rufen. Den Einsatz zahlt der, der ruft, falls…. «
Logisch. Aber ob das den Tatsachen entsprach, wusste Isa nicht. Vorstellbar, falls kein berechtigter Einsatz vonnöten war.
Kaum konnte sie die Frau davon überzeugen, noch abzuwarten. In ihren Vorstellungen sah sie selbst den Mann hilflos oder tot hinter der Tür liegen.
Davon reden konnte sie nicht. Nur daran denken, was schon alles passiert war mit Menschen wie diesem Farid, gleichsam durch Menschen wie ihn.
Was blieb ihr also? Sie versprach mit Händen und Lippen, dass sie aufpassen wolle, wann Farid wieder zu Hause erscheine, obwohl sie wusste, wie illusorisch das war. In Ihrer Not versprach sie sogar, der Frau eine Nachricht zu senden, sobald es so sei. Dazu müsse sie jedoch deren Handy-Nummer notieren. Das hieß, sie mussten gemeinsam noch einmal nach oben.
Noch ehe Isa eine klare Vorstellung davon bekam, ob es genügt hatte, die Frau zu überzeugen, abzuwarten und zu gehen, schlangen sich deren Arme um ihren Hals. Sie weinte nicht mehr, sie presse ihren Dank in Isa hinein; ihr Körper vibrierte.
»Ich Sheyla. Ich Tschetschenien. Farid Afghanistan.«
So verhielt es sich also. Dann war es kein Wunder, dass das Ausländeramt Sheyla nicht mit ihrem Freund zusammen wohnen ließ. Dass es einen anderen, einen triftigeren Grund gab, wusste Isa an diesem Tag noch nicht.
Allmählich fügte sich alles zusammen. Isa bekam eine Vorstellung davon, was die Frau getrieben hatte, ausgerechnet bei ihr zu klingeln. Sie hatten sich kürzlich zufällig getroffen und waren freundlich zueinander. Es war nicht auszuschließen, dass diese Frau, deren Kopftuch ihre Herkunft verriet, auch mal ablehnende Worte hörte, scheele Blicke oder garstige Gesten zu ertragen hatte. Jeder Mensch würde in seiner Not zu demjenigen gehen, der all das vermissen ließ.
Wenn sie also für diese Frau, deren Name wie Scheila klang, hilfreich war, dann bitteschön, weil sie so veranlagt war, nicht weil sie glaubte, sie müsse für alle Welt zur Verfügung stehen.
Isa wusste nicht, ob Gary ihre Abwesenheit bemerkt hatte. Nur das ließ sie mit sich hadern. Gewöhnlich berichteten sie sich gegenseitig, wer an der Tür geläutet hatte und was er bezweckte. Gary war Pragmatiker. Wenn er warnte, sie weiß nicht, worauf sie sich einlässt, steckte meistens ein Fünkchen Wahrheit dahinter.
»Denke an Afrika«, hatte er gesagt, als sie sich mit dem Obdachlosen Felix beschäftig hatte. »Du kriegst die Hungerleider nicht mehr los, wenn sie erst Blut geleckt haben. Und glaub mir, hier denken die Leute wie dort. Die hat ΄s, der fallen die Tausender nur so in den Schoß. Oder willst du jedem erzählen, wie die Buchbranche wirklich tickt?«
Vielleicht waren es Garys männliche Spiele mit ihrer weiblichen Furcht, die ihn so hatten reden lassen. Vielleicht war es das ewige Rollenspiel, das in letzter Zeit auch das Urteil intelligenter Menschen bestimmte: Wer unaufgefordert hierher flüchtet, ist entweder ein Sozialschmarotzer oder er kämpft gegen alles Fortschrittliche der westlichen Welt. Jedes dieser Argumente stand für eine andere Gefahr.
Es war nicht so, dass ihr diese Art Gedanken völlig fremd waren. Sie hatte aber eine greifbare Erfahrung mit den Auswüchsen des Elends, wenn auch zu einer anderen Zeit auf einem anderen Kontinent. Im Inneren ihres Herzens lehnte sie es ab zu denken, hinter allem, was man nicht versteht, stecke eine böse Absicht. Man braucht nichts im Leben zu fürchten, man muss nur alles verstehen.
Und darum war sie gerade bemüht, auch wenn es Gary nicht passte.
Eigentlich war es egal, wie Gary über das Problem dachte. Sie haben selten im Voraus über ein Thema gestritten, über das sie sich selbst noch Klarheit verschaffen mussten. In den letzten Jahren waren ihre Ansichten, ihre Wertvorstellungen, immer weiter voneinander abgerückt. Gary ahnte nicht einmal, wie weit sie sich entfernt hat von seinen Urteilen, von seinem Schwarz-Weiß-Denken. Womöglich, weil sie — wie an diesem Tage auch — jeder Diskussion aus dem Wege ging, der Harmonie wegen. Vielleicht suchte sie in ihren Büchern die Harmonie, die Zuhörer, die Gleichgesinnten. Vielleicht entfernten ihre Bücher sie auch von Gary? Gut möglich.