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4.1 Verstehen – Analysieren – InterpretierenInterpretation

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Verstehen in den GeisteswissenschaftenGeisteswissenschaften GeisteswissenschaftenGeisteswissenschaften unterscheiden sich, wie wir in der vorigen Einheit sahen, vor allem insofern von den Naturwissenschaften, als subjektives menschliches Verstehen ihr zentrales Moment ist, und dies in mehrfacher Hinsicht: Der GeisteswissenschaftlerGeisteswissenschaften ist um eigenes Verstehen bemüht, nimmt bei der Arbeit vom eigenen Verstehen seinen Ausgang und hat im menschlichen Verstehen selbst seinen Untersuchungsgegenstand, denn Literatur beispielsweise ist entscheidend durch den Prozess des Verstehens geprägt: Erstens werden Texte normalerweise für ein um Verstehen bemühtes Publikum geschrieben, so dass Texte immer schon den Verstehensvorgang zu steuern versuchen – sei es mit dem Ziel der Erleichterung oder der Irritation; zweitens reagieren Schriftsteller stets auf vorherige Texte, die sie selbst verstanden haben, so dass die subjektive Aufnahme von Literatur Teil späterer Texte und damit der Literaturgeschichte wird. Diesen Zusammenhang hat die Konstanzer rezeptionsästhetische Schule systematisiert, von der in Einheit 11.2.2 die Rede sein wird. Wie aber vollzieht sich das Verstehen eines Textes?

HermeneutikHermeneutik als Theorie des Verstehens Diese Frage ist Gegenstand der philosophischen HermeneutikHermeneutik (hermenéutica). Der Begriff bezeichnete von alters her zunächst die Ermittlung des ‚wahren‘ Schriftsinns insbesondere der Bibel und diente u.a. dazu, nicht mehr verständliche kanonische Texte wieder lesbar zu machen, mithin zu ‚übersetzen‘ und so die Kontinuität der Tradition zu gewährleisten. Seit dem Ende des 18. Jh. entwickelte sich HermeneutikHermeneutik dann in einem ausgedehnteren Sinne zur Theorie menschlichen Verstehens noch vor jeglichem gezielten methodischen Zugriff, wobei das Augenmerk verstärkt dem verstehenden Subjekt und seiner Beteiligung am Sinnentstehungsprozess galt. Die Bedeutung eines Textes, so stellte man fest, wird nicht wie in einem Behälter vom AutorAutor zum Leser transportiert und von diesem dann unverändert ‚entnommen‘, sondern Bedeutung entsteht erst im Leseakt, indem Signale des Textes auf das Wissen, die Erwartungen und die Fragen (den ‚Horizont‘) des jeweiligen Lesers treffen (vgl. Einheit 11.2.2). Menschliches Verstehen zielt generell auf die Erzeugung von Kohärenz, Widerspruchsfreiheit in einem Gesamtverständnis, das allen Teilen ihre Bedeutung zuweist. Stellen Sie sich vor, Sie beginnen einen Text zu lesen. In aller Regel wird der erste Satz, isoliert betrachtet, für Sie im Grunde kaum verstehbar sein: Wird beispielsweise ein Eigenname erwähnt, bleibt dieser Verweis völlig leer, da Sie über die fiktive Person, die sich dahinter verbirgt, zunächst keinerlei Informationen haben. Ähnliches gilt etwa für eine einsetzende HandlungHandlung, über deren Motivation, Kontext, Folgen, Ziel, Situation Sie noch nichts wissen. Wenn Sie dennoch bei den meisten Texten den Eindruck haben zu verstehen, dann liegt das daran, dass Sie diese ersten Sätze auf einen vermuteten Gesamtsinn des Textes beziehen und all das, was nicht in der Bedeutung der Einzelwörter liegt, aus diesem Gesamtverständnis heraus ‚auffüllen‘. Im Bestreben zu verstehen – und das gilt nicht nur für Texte, sondern für Verstehen schlechthin – bilden wir permanent Hypothesen, die wir in der Begegnung mit dem Einzelnen überprüfen. Zu Beginn einer Lektüre wird die Bedeutungshypothese nicht dem Text entspringen, den Sie ja noch nicht kennen, sondern Ihrem allgemeinen Weltverständnis, Ihrem kulturellen Hintergrund, Ihrer Biographie und Ihrer Leseerfahrung. Im Laufe der Lektüre wird sich dieses Verständnis ändern, nämlich dann, wenn der Text Informationen liefert, die nicht in Ihr momentanes Gesamtverständnis passen und eine Modifikation, vielleicht auch radikale Umkehrung desselben erforderlich machen. Geschieht dies, so werden Sie nicht nur die folgenden Einzelheiten des Textes anders verstehen, sondern Sie werden auch rückblickend das bereits Gelesene neu bewerten, manches als irrelevant erkennen, was Ihnen zunächst bedeutsam schien, und umgekehrt neue Zusammenhänge herstellen. Verstehen ist kein linearer Vorgang, der sich vom ersten bis zum letzten Satz vollzieht, sondern ein ständiges Hin- und Hergehen zwischen einem vorläufigen Gesamtverständnis, das der Leser permanent, dabei meist unbewusst, konstruiert, und den Einzelheiten, d.h. einzelnen Sätzen, Motiven, FigurenFigur, HandlungsepisodenHandlung, die nur innerhalb eines solchen Gesamtverständnisses verstehbar sind. Dieses Modell nennt man den hermeneutischen ZirkelHermeneutischer Zirkel (círculo hermenéutico). Dieser ist prinzipiell unabschließbar: Ein ‚absolutes‘ Verständnis von Literatur gibt es nicht, da Texte niemals den Sinn vollständig festlegen, sondern auch bei wiederholter Lektüre ein zwar durch den Text mitgestaltetes, aber immer auch subjektiv bestimmtes Gesamtverständnis besteht. Diese Wirkungsweise von Literatur zu begreifen ist von grundlegender Bedeutung, da sich zeigt, dass ein literarisches Werk eigentlich erst im Dialog mit dem Leser und seinem subjektiven Welt- und Textvorverständnis entsteht. Hier liegt der Grund dafür, dass auch Texte längst vergangener Epochen dem heutigen Leser ‚etwas sagen‘ können, da er sie im Verstehensakt ein Stück weit in seinen persönlichen HorizontHorizont integriert.

Abb. 4.1

Der hermeneutische ZirkelHermeneutischer Zirkel als Kreismodell

Unhintergehbare Subjektivität Die Kehrseite des hermeneutischen ZirkelsHermeneutischer Zirkel und der Wiederaneignung von Texten durch die Leser ist der Umstand, dass es damit keinen ein für allemal geschlossenen Textsinn gibt, an den man sich annähern könnte, sondern die Subjektivität des jeweiligen Betrachters unhintergehbarer Bestandteil des literaturwissenschaftlichen Objekts ist. Anders formuliert: In den auf Verstehen gründenden GeisteswissenschaftenGeisteswissenschaften ist der Untersuchende immer Teil dessen, was er untersucht – es ist beispielsweise schlichtweg nicht möglich, restlos den ‚Sinn‘ zu ermitteln, den ein Text zum Zeitpunkt seiner Entstehung gehabt hat, da die damaligen subjektiven Verstehensbedingungen (wessen überhaupt?) nicht vollständig ermittelbar sind und wir jeden Text notwendigerweise vom Standpunkt eines heutigen Betrachters aus wahrnehmen. HermeneutischeHermeneutik Differenz Zwischen früheren RezeptionenRezeption und heutigen sowie zwischen diesen und künftigen Lesarten liegt eine hermeneutischeHermeneutik Differenz, die interpretatorisch annähernd beschrieben (siehe Einheit 11.2.2), aber nicht aufgelöst werden kann.

Ansatzpunkte der Objektivierungobjektiv Der Natur literarischer KommunikationKommunikation Rechnung zu tragen heißt indes nicht, der Beliebigkeit Tür und Tor zu öffnen und das Ziel einer überindividuellen Verständigung über Literatur ins Reich der Utopie zu verbannen. Wenngleich es absolute ObjektivitätObjektivität nicht geben kann, so stehen uns doch an beiden Polen des hermeneutischen ZirkelsHermeneutischer Zirkel Ansatzpunkte für eine Objektivierungobjektiv zur Verfügung:

1 Der Text ist, sobald durch kritische Edition eine gesicherte Textgrundlage erarbeitet wurde, objektivobjektiv gegeben.

2 Der hermeneutischeHermeneutik Hintergrund, vor dem ein Text verstanden wird, kann seinerseits annähernd transparent gemacht und entsubjektiviert und der Weg (gr. methodos, also die MethodeMethode) zur jeweiligen Ermittlung des Textsinns systematisiert und begründet werden.

StrukturanalyseStrukturanalyse Eine auf den erstgenannten Ansatzpunkt bezogene Herangehensweise an literarische Texte ist die StrukturanalyseStrukturanalyse (análisis estructural, m.). ‚StrukturStruktur‘ (estructura) bedeutet allgemein die Gesamtheit aller Teile eines Ganzen und ihre Beziehung untereinander (siehe Einheit 12.1.1). Der Begriff ‚Analyse‘ geht in dieselbe Richtung: Er bezeichnet in der Philosophie die logische Auflösung, Zerlegung eines Begriffes in seine Merkmale, eines Bewusstseinsinhalts in seine Elemente; in den Naturwissenschaften wie der Chemie etwa die Bestimmung der Einzelbestandteile eines StoffsStoff. Im Gegensatz zu letzterer kann eine literaturwissenschaftliche StrukturanalyseStrukturanalyse nicht bei den ermittelten Bestandteilen stehen bleiben, sondern besteht, um mit der StrukturStruktur die Beziehung der Teile zueinander deutlich zu machen, aus einer Zerlegung und Wieder-Zusammenfügung, was im Übrigen dem hermeneutischenHermeneutik Wechselspiel von Teil und Ganzem entspricht. Ziel einer StrukturanalyseStrukturanalyse ist es, ein Modell Abstraktes Modell textinterner Funktionen herauszuarbeiten, das zeigt, wie der Text ‚funktioniert‘, wie er unterteilt ist, mit welchen sprachlichen und formalen Mitteln er Bedeutung erzeugt. Der Versuch, StrukturenStruktur eines Textes aufzudecken, ist nicht frei von Subjektivität, da es beispielsweise von der Fragestellung und dem Interesse des Betrachters abhängt, was als ‚relevanter‘ Bestandteil im Hinblick auf die Gesamtbedeutung gelten kann und welche StrukturenStruktur man überhaupt erkennt; man erreicht aber größtmögliche ObjektivitätObjektivität, wenn zwei Prinzipien befolgt werden:


Abb. 4.2

StrukturanalyseStrukturanalyse (Schritt 1 und 2)

1 Prinzipien der StrukturanalyseStrukturanalyse Die Analyse von TextstrukturenStruktur sollte textimmanenttextimmanent bleiben, d.h. von allem Außertextuellen wie Autor, Realitätsbezug usw., sofern nicht innerhalb des Textes explizit darauf verwiesen wird, absehen. Hinsichtlich der Inhaltsebene beschränkt sie sich auf nachweisbare (etwa in Wörterbüchern verzeichnete) Wortbedeutungen und Konnotationen (Nebenbedeutungen).

2 Eine StrukturanalyseStrukturanalyse sollte interpretatorischeInterpretation Offenheit bewahren, also ein notwendiges anfängliches Leseverständnis nicht als zu erreichenden Zielpunkt setzen, sondern anhand der Sinn- und FormstrukturenStruktur des Textes kritisch hinterfragen und auch eine mögliche Widersprüchlichkeit oder Mehrdeutigkeit des Textes in Rechnung stellen.

Analyse als erster Schritt zur InterpretationInterpretation Eine solche Ermittlung der TextstrukturenStruktur ist Grundgerüst und Vorbereitung einer InterpretationInterpretation (interpretación). Dieses Objektivierungsverfahrenobjektiv bezieht sich vor allem auf den zweiten der oben genannten Ansatzpunkte der Objektivierungobjektiv: die Offenlegung des ‚hermeneutischenHermeneutik Hintergrunds‘ sowie der spezifischen MethodeMethode. Dahinter steckt der Gedanke, dass ich mein Textverständnis objektivierenobjektiv und damit wissenschaftlich validieren (gültig machen) kann, wenn ich (a) eine nicht von meinem subjektiven Weltverständnis abhängende Grundlage angebe, also z.B. mein Textverständnis in der nachweisbaren Biographie des AutorsAutor (produktionsästhetischProduktionsästhetik) oder der Erwartungshaltung der Leserschaft (rezeptionsästhetischRezeption) verankere, und (b) die MethodeMethode angebe, der ich beim Textverstehen gefolgt bin, so dass andere meine Vorgehensweise nachvollziehen und ggf. kritisieren können. Eine korrekte StrukturanalyseStrukturanalyse steckt den Bedeutungsspielraum ab, den anschließende InterpretationenInterpretation haben, da sie offenkundigen SinnstrukturenStruktur des Textes natürlich nicht widersprechen dürfen; oft aber erschließen sich literarische Texte nicht rein strukturellStruktur und textimmanenttextimmanent, so dass die InterpretationInterpretation eine wichtige literaturwissenschaftliche Arbeitstechnik für ein adäquates Textverständnis darstellt. Wir werden in den Einheiten 10–12 näher darauf eingehen.

Aufgabe 4.1 ? Grenzen Sie in Ihren eigenen Worten nochmals die Begriffe ‚Verstehen‘, ‚Analyse‘, ‚InterpretationInterpretation‘ voneinander ab. Wie ist es zu begründen, dass trotz wissenschaftlicher ObjektivitätObjektivität verschiedene und nicht selten konträre InterpretationenInterpretation zu einem Text existieren? Können Sie sich Kriterien vorstellen, aufgrund derer man InterpretationenInterpretation qualitativ beurteilen kann?

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