Читать книгу Schattenjagd - Maya Shepherd - Страница 5
1. Eliza
Оглавление„Ist es richtig, dass du Kylie Sullivan an dem Abend vor ihrem Tod getroffen hast?“, fragte Detektive Windows, wobei das grüne Lämpchen des Aufnahmegeräts leuchtete.
„Ja, aber ich habe sie nicht umgebracht!“, wiederholte ich zum bestimmt zehnten Mal. Es war egal, wie oft die Polizistin die Frage noch stellen würde, sie würde kein Geständnis von mir bekommen. Ich hatte Kylie nicht umgebracht!
„Aber du hattest Streit mit ihr, oder? Worum ging es dabei?“
„Ich wollte mich bei ihr für mein Verhalten entschuldigen, bevor ich Wexford verlassen hatte. Mehr nicht.“
„Welches Verhalten meinst du damit?“, hakte Windows nach.
„Ich war gemein zu ihr, so wie zu allen anderen auch. Deshalb habe ich Wexford auch verlassen.“
„Und warum bist du ausgerechnet jetzt zurückgekehrt?“
„Ich habe meine Familie vermisst“, sagte ich ehrlich und schaute der Polizistin in die Augen. War das so schwer zu verstehen?
Doch Detektive Windows blieb weiter misstrauisch. „Nehmen wir mal an, du hast nichts mit all den Morden zu tun. Wie kommt es dann, dass deine Schwester Winter etwas anderes behauptet? Vor wenigen Tagen war sie genau in diesem Zimmer und hat dich des Mordes an Kylie Sullivan und Kevin O’Brian beschuldigt. Sie hat nicht ausgeschlossen, dass du auch für die anderen Morde verantwortlich sein könntest. Sie kannte sogar dein Versteck und hat es uns verraten. Sag mir, Eliza, warum sollte deine Schwester sich so etwas einfach ausdenken?“
Ihre Worte trafen mich wie ein Stich ins Herz. Was Kevin anging, hatte Winter nicht einmal gelogen. Aber es war ein Unfall gewesen! Ein Versehen! Es tat weh, dass Winters Wut auf mich so groß war, dass sie nicht einmal vor der Polizei zurückgeschreckt war. Ich hätte Lucas niemals küssen dürfen, dann würde ich jetzt nicht hier sitzen.
„Wir haben uns gestritten. Winter hat mich und ihren Exfreund dabei erwischt, wie wir uns geküsst haben, deshalb war sie sauer. Sie wollte mir eins auswischen!“
„Wenn das alles ist, warum bist du dann abgehauen, als die Polizei in der Pension aufgetaucht ist? Du hättest nicht fliehen müssen, wenn du nichts zu verbergen hast!“
„Ich war seit einem halben Jahr verschwunden. Sie hätten mich doch sofort bei meinen Eltern abgeliefert, das wollte ich nicht! Ich wollte selbst entscheiden, wann ich zu ihnen zurückgehe.“
„Warum bist du damals abgehauen?“
Nun waren wir wieder am Ausgangspunkt angelangt. Die eine Frage, um die sich alles zu drehen schien. Völlig entnervt stöhnte ich auf und gab dieselbe Antwort, wie viele Male zuvor. „Ich war schlecht in der Schule, hatte Stress mit meiner Familie und generell lief alles beschissen für mich. Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen? Ich weiß, dass es falsch war, einfach wegzulaufen, aber ich kann es nicht mehr ungeschehen machen!“
Meine Stimme war lauter geworden und ich ballte meine Hände zu Fäusten. Detektive Windows musterte mich prüfend, schob dann aber schließlich ihren Stuhl zurück und stand auf. „Ich glaube dir kein Wort, aber ich gebe zu, dass wir nichts in der Hand haben, um dir das Gegenteil zu beweisen. Du kannst jetzt gehen.“
Sie ging zur Tür und klopfte dagegen. Ich folgte ihr in sicherem Abstand. Als die Tür sich öffnete, drehte sich die Polizistin mit einem drohenden Blick zu mir um. „Glaub ja nicht, dass es damit vorbei ist! Ich weiß, dass du etwas zu verbergen hast und ich werde nicht locker lassen, bis ich weiß, was es ist. Wir sehen uns wieder, Eliza.“
Ohne mir die Hand zu reichen, ging sie davon und ließ mich auf dem Flur des Polizeireviers zurück. Selbst wenn Detektive Windows herausfinden würde, dass ich eine Schattenwandlerin war, würde sie es nicht glauben. Für Menschen wie sie existierten übernatürliche Wesen wie ich nicht.
Das Verhör hatte über zwei Stunden gedauert und trotzdem saßen mein Vater und Lucas noch genau auf derselben Bank, auf der ich sie zurückgelassen hatte. Erleichtert kamen sie mir entgegen. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Lucas besorgt und legte mir seine Hand auf die Schulter. Ich nickte, sah aber unmittelbar zu Dad. „Wo ist Winter?“ Sie war ebenfalls zur Befragung hier gewesen, so wie wir alle.
Er setzte eine bedauernde Miene auf. „Sie war früher fertig und wollte nicht länger warten. Mum ist mit ihr und Mona schon einmal vorgefahren. Wenn wir Glück haben, ist das Essen bereits fertig, wenn wir nach Hause kommen.“ Er schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln und legte seine Hand auf meine andere Schulter. „Lass uns nach Hause gehen!“
Wenn ich an meine Schwester dachte, ergriff mich ein beklemmendes Gefühl. Obwohl die Polizei mich ihretwegen des mehrfachen Mordes verdächtigte, konnte ich ihr nicht böse sein. Winter hatte jeden Grund, mich zu hassen. Ich hatte sie im Stich gelassen, ihren Exfreund geküsst und zudem war ich schuld daran, dass Liam Dearing in ihr Leben getreten war. Liam, dessen kleine Schwester ich auf dem Gewissen hatte und der mich deshalb gejagt hatte. Liam, den Winter hatte töten müssen, um mich zu retten. Sie ging mir aus dem Weg, sah mich nicht einmal mehr an. Ich hätte mir gewünscht, dass sie mich anschreien und mir eine Ohrfeige nach der anderen verpassen würde, aber stattdessen ignorierte sie mich. Es war fast, als würde ich für sie gar nicht mehr existieren. Das tat mehr weh, als alles andere es je tun könnte.
Wir quetschten uns zu dritt auf die Vorderbank des Leihwagens von Lucas’ Eltern. Ihr Pick-up befand sich noch in der Reparatur, nachdem ich ihn bei der Suche nach Winter gegen einen Laternenpfahl gesetzt hatte. Lucas hatte meinetwegen einen zweiten Nebenjob angenommen, um seinen Eltern das Geld für die Reparatur irgendwann zurückzahlen zu können. Ich saß in der Mitte, zwischen den beiden wichtigsten Männern in meinem Leben: meinem Dad und Lucas. Beide liebten mich bedingungslos und waren bereit, mir alles zu verzeihen. Ich war nicht nur eine miserable Tochter, sondern auch eine noch schlechtere Freundin gewesen. Ich verdiente weder die Liebe des einen noch die des anderen.
Als Slade’s Castle in Sichtweite kam, sah ich bereits dicken Rauch aus unserem Schornstein aufsteigen, während der Regen heftig gegen die Fensterscheiben des Autos prasselte. Der kurze irische Sommer war nun endgültig vorbei und ich hatte ihn komplett verpasst. Keine Tage am Strand, keine Grillfeste und keinen Jahrmarkt. Stattdessen hatte ich mich völlig zugedröhnt von einer Party zur anderen geschleppt, bevor schließlich mein Schattenwandlergen ausgebrochen war und ich Probleme hatte, überhaupt ein Mensch zu bleiben und mich nicht alle paar Minuten in Schatten aufzulösen.
Der Wagen hielt in der Einfahrt zwischen unserem Haus und dem der Familie Riley. Bevor Dad die Tür öffnete, wandte er sich an Lucas. „Danke, dass du mitgekommen bist. Möchtest du etwas essen?“
Er schüttelte den Kopf. „Danke für das Angebot, Mr. Rice, aber ich muss gleich zur Arbeit.“
Dad grinste von Lucas zu mir. „Nimm dir mal ein Beispiel an ihm!“
Ich rollte mit den Augen. Zwar hatte ich mir vorgenommen, mich zu bessern, aber mir war auch klar, dass das nicht von einem auf den anderen Tag gehen würde. Zudem hätte mich der Inhaber des Kinos, in dem Lucas arbeitete, vermutlich ohnehin nicht eingestellt. Ich glaubte nicht, dass er bereits vergessen hatte, wie ich vor einem Jahr in seinem Kino geraucht und dabei ein Feuer entzündet hatte.
„Ich komme gleich nach“, sagte ich zu Dad, der eilig aus dem Auto sprang und durch den Regen zur Haustür rannte. Als er weg war, wurde es still im Wagen. Wir sahen beide hinaus in den grauen Himmel. Seitdem Liam tot war und wir Winter wieder nach Hause gebracht hatten, waren wir nicht mehr miteinander alleine gewesen. Ich wusste nicht, was er über mein Verhalten in Liams Anwesen dachte. Ich war bereit gewesen, Liam zu ermorden. Lieber er als ich. Fürchtete Lucas meine skrupellose Seite?
Plötzlich legte er seine Hand sanft und warm über meine. Er sah mir ins Gesicht, mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen. „Wir bekommen das alles schon wieder hin.“ Er zog aus seiner Jackentasche eine kleine Schachtel und reichte sie mir.
Überrascht nahm ich sie entgegen. „Für mich?“
„Nein, für deine Mum“, sagte er ernst, begann dann aber zu lachen. „Natürlich für dich!“
Die Schachtel war aus rotem Samt und fühlte sich weich unter meiner Haut an, als ich den Deckel aufschnappen ließ. Auf einem kleinen schwarzen Kissen lag eine filigrane Kette aus glänzendem Silber mit einem kleinen Vogel als Anhänger. An der Stelle, wo der Vogel sein Auge gehabt hätte, funkelte ein kleiner weißer Stein.
„Zum Neuanfang“, sagte Lucas und ich hörte das Lächeln in seiner Stimme, ohne ihn ansehen zu müssen. Er hatte meinetwegen Streit mit seinen Eltern und musste einen Job annehmen, um die Kosten bezahlen zu können, die ich verursacht hatte. Er war definitiv zu gut für mich und ich wusste schon jetzt, dass ich ihn auf die eine oder andere Art enttäuschen würde.
Er sah meine Besorgnis und konnte meine Gedanken lesen, ohne dass ich auch nur ein Wort sagen musste.
„Es ist ein Geschenk und ich erwarte dafür keine Gegenleistung von dir. Ich glaube an dich! Du wirst es nicht leicht haben, aber ich weiß, du wirst es schaffen.“
Ich drängte meine Zweifel zurück und ließ mich von meiner Zuneigung leiten. „Solange du mir hilfst, kann ich alles schaffen.“
„Ich werde immer für dich da sein, aber bitte lauf nicht mehr weg. Lass mich nicht noch einmal einfach zurück, das könnte ich nicht ertragen.“
Ich wandte mich ihm zu, fühlte mich zu ihm und seiner bedingungslosen Liebe hingezogen. „Es tut mir so leid! Ich verspreche dir, dass ich es irgendwie wiedergutmachen werde.“
Lucas’ Hand legte sich zärtlich auf meine Wange. Sein Daumen strich unter meinem Auge entlang. Ich hatte geweint, ohne es überhaupt zu merken. „Bleib einfach bei mir, das reicht mir völlig“, flüsterte er und nährte sich mir langsam. Er war mir so vertraut und es fühlte sich gut an, in seiner Nähe zu sein. Sicher und geborgen. Mein Bauch kribbelte, wenn ich in seine blauen Augen sah und mein Herzschlag beschleunigte sich bei dem Gedanken daran, ihn noch einmal zu küssen. Früher hatte es mir nichts bedeutet. Früher hatte ich Lucas immer für selbstverständlich genommen. Er war für mich ein Testobjekt gewesen, an dem ich meine weiblichen Reize hatte ausprobieren können. Ich hatte es geliebt, zu wissen, dass er von mir mehr als Freundschaft wollte, aber ihm genau das nicht zu geben. Immer wieder hatte ich ihm bewusst Hoffnungen gemacht, ohne mich je um seine Gefühle zu scheren. Es war mir egal gewesen, ob er litt. Ich hatte es nicht einmal ernst genommen, weil ich selbst so wenig fühlte, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass es jemandem anders erging.
Ich wollte ihn küssen, mit ihm verschmelzen, mich nie mehr von ihm lösen, aber ich konnte dem Drang nicht nachgeben. Winters enttäuschtes und maßlos verletztes Gesicht tauchte immer unmittelbar vor meinen Augen auf, wenn ich Lucas zu nahe kam. Ich hatte ihr so wehgetan, indem ich den Kuss mit ihrem Exfreund zugelassen hatte. Winter hätte ihn so viel mehr verdient als ich. Er würde viel besser zu ihr als zu mir passen, da machte ich mir nichts vor. Vielleicht würde Lucas das irgendwann auch einsehen. Winter würde ihn ohne Zweifel zurücknehmen. Sie hatte ihn schon immer geliebt und würde es vermutlich auch immer tun.
Ich zog mich zurück und spürte deutlich, wie die Kälte zwischen uns glitt. Lucas wandte den Blick ab und sah zu dem Haus seiner Eltern. Er trommelte unruhig mit den Fingern auf dem Lenkrad. „Brauchst du noch etwas?“
Ich wusste, was er damit meinte. Nichts, das er mir aus der Stadt hätte mitbringen können. Er sprach von den Gefühlen, die ich brauchte, um meine menschliche Gestalt aufrechterhalten zu können. Das Verhör hatte mich geschwächt und ich fühlte, wie die Schatten bereits an mir zerrten. Lange würde ich nicht mehr die Kontrolle behalten können. Das Essen mit meinen Eltern, Winter und Mona wäre eine zusätzliche Belastung. Auch wenn ich nicht von ihm trinken wollte, durfte ich das Risiko, aufzufliegen, nicht eingehen.
„Ja“, antwortete ich geknickt. Er sah mich an, die Freude und Zuversicht waren aus seinem Blick verschwunden. Zurück blieb kühle Resignation.
„Beeil dich bitte, ich will nicht an meinem ersten Arbeitstag direkt zu spät kommen.“
Ich schluckte und beugte mich zu ihm vor. Es fiel mir schwer, Blickkontakt zu ihm zu halten. Meine Hand legte sich um sein Handgelenk und ich begann, die Emotionen aus ihm herauszuziehen. Verletzte Gefühle, Enttäuschung und Eifersucht. Ihr Geschmack war bitter. Würde ich je bei Lucas etwas anderes auslösen als Kummer? Ich tat ihm nicht gut! Er litt meinetwegen. Winter wusste das und sie verachtete mich dafür. Aber ich glaubte nicht, dass sie oder Lucas wussten, wie sehr ich mich selbst dafür hasste. Es gab keinen Tag, an dem ich mein Dasein als Schattenwandlerin nicht verfluchte.
Ich trank nicht viel, nur die oberste Gefühlsschicht, dann löste ich mich von Lucas. „Viel Spaß auf der Arbeit und pass auf, dass die Mädchen dich nicht interessanter als den Film finden“, versuchte ich lustig zu sein, aber Lucas lachte nicht. Nicht einmal ein bisschen. Er blieb im Auto sitzen, als ich durch den Regen in das Haus lief.
Aus unserem Esszimmer hörte ich bereits Geschirr klappern. Ich streifte mir schnell die nassen Schuhe von den Füßen und ging auf Socken zu der geöffneten Tür. Mum hatte den Tisch reichlich gedeckt. Rindergulasch, dampfende Kartoffeln, buntes Gemüse, duftendes Brot und eine klare Brühe zur Vorspeise. Unsere vielen Katzen saßen bereits rund um den Tisch, nur von Miss Snowwhite war nichts zu sehen. Das Vieh hatte mich schon seit ihrem Einzug nicht ausstehen können, aber seit ich offiziell zurück war, hatte ich sie noch nicht einmal gesehen. Vermutlich verbarrikadierte sie sich in Winters Zimmer. Seitdem Mona bei uns eingezogen war, bekochte Mum sie täglich. Ihrer Ansicht nach schien das dünne, verängstigte Mädchen genau das zu brauchen. Mum war eine Köchin, bei der die Liebe wahrlich durch den Magen ging.
Alle anderen saßen bereits. Mum und Dad jeweils an den Kopfenden und Winter und Mona nebeneinander auf der rechten Tischseite. Ich nahm gegenüber meiner Schwester Platz. „Entschuldigt die Verspätung“, murmelte ich leise.
„Das macht nichts, Schatz, jetzt bist du ja da“, sagte Mum liebevoll und reichte mir die Hand. Ich zögerte, sie zu ergreifen, da ich wusste, was darauf folgen würde. Vor einem halben Jahr hätte ich mich noch geweigert, doch jetzt tat ich ihr den Gefallen. Ich hielt Dad meine Hand entgegen, sodass wir alle miteinander verbunden waren. Das Aufsagen des Tischspruches war eine alte Tradition in unserer Familie, auf die meine Eltern seit meiner Rückkehr erhöhten Wert legten.
Dad schaute Mum feierlich an, bevor er anfing: „Wir reichen uns die Hände nach guter alter Sitt und wünschen uns zum Essen recht guten Appetit.“
Während Mum und ich geduldig mitsprachen, starrte Mona uns mit großen Augen und offenem Mund an. Sie hatte sich noch nicht an die Bräuche unserer Familie gewöhnt und alles erschien irgendwie fremd für sie. Mein Blick wanderte zu Winter, die den Kopf gesenkt hatte und ihre Lippen fest aufeinanderpresste. Irgendetwas regte sie auf. War ich es? Was hatte ich dieses Mal getan? Meine bloße Anwesenheit reichte aus, um sie wütend zu machen.
Wir lösten unsere Hände voneinander und Mum stand auf, um die Suppe auszuschenken. Sie füllte als Erstes Monas Schale. Mir entging nicht, dass sie ihr deutlich mehr einschenkte als jedem anderen von uns. Mona war erst wenige Tage bei uns und schon hatte Mum das einsame Mädchen in ihr Herz geschlossen, als wäre sie ihre eigene Tochter. Ich hatte gewusst, dass sie so reagieren würde. Genau deshalb hatte ich Mona mitgebracht. Sie brauchte jemanden, der sich um sie kümmerte und Mum brauchte jemanden, um den sie sich kümmern konnte.
Während ich meine Brühe löffelte, bemerkte ich plötzlich, dass Winter mich anstarrte. Ihre Hand hielt den Löffel in der Schale fest umklammert, ohne auch nur einen Schluck davon gekostet zu haben. Ich hob den Kopf und blickte ihr in das wütende Gesicht. Ich gab mir Mühe, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen und versuchte es stattdessen mit einem Lächeln. Winters Hand begann zu zittern und im nächsten Moment flog mir ihre Schüssel samt heißer Brühe ins Gesicht. Ich schrie auf und wich erschrocken zurück. Mein Stuhl knallte krachend zu Boden, während Winter ebenfalls stand und am ganzen Körper bebte.
Mona, Mum und Dad starrten uns sprachlos an. In Winters Augen glitzerten nun Tränen. Sie schaute von mir zu den anderen. „Sind wir jetzt etwa wieder eine Familie, nur weil SIE wieder da ist?!“, fragte sie anklagend und deutete mit dem Finger auf mich. Ich wischte mir mit der Serviette die Suppe von der Haut. Es brannte etwas, aber es schmerzte nicht halb so sehr wie Winters unbändiger Zorn auf mich.
„Seit einem halben Jahr haben wir an keinem Tag mehr diesen bescheuerten Tischspruch aufgesagt und nur weil Eliza zurück ist, soll jetzt alles wieder gut sein?“ Sie war völlig außer sich. Vor unseren Eltern war Winter sonst noch nie laut geworden, egal wie sehr wir uns auch gestritten hatten. Sie hatte vor ihnen nie die Kontrolle verloren und immer die Zähne zusammengebissen.
„Winter, beruhige dich bitte wieder und setz dich hin!“, sagte Dad ruhig, aber ich hörte den strengen Unterton in seiner Stimme.
Winter starrte ihn fassungslos an. Auf diese Weise hatte er nie mit ihr gesprochen. Die strenge Stimme war immer an mich gerichtet gewesen, nie an Winter, die sich immer zusammengerissen und keinen Grund zur Sorge gegeben hatte. Sie zog scharf die Luft ein. „Solange DIE hier mit euch an einem Tisch sitzt, will ich nicht mehr zu dieser Familie gehören!“
Sie rannte an Dad vorbei aus dem Esszimmer. Er sprang auf und brüllte ihr „Komm sofort zurück!“ nach, doch die Haustür fiel bereits ins Schloss.
Dads Gesichtsfarbe nahm einen leicht rötlichen Ton an. „Was ist nur in sie gefahren?“, fragte er meine Mutter mit vor Wut bebender Stimme.
Mum zuckte mit den Schultern. „Lass sie in Ruhe. Das war in letzter Zeit alles etwas viel für sie.“ Ich wusste, was sie meinte, auch ohne dass sie es aussprechen musste: meine Rückkehr und den für Winter damit verbundenen Bruch mit Lucas. Es war meine Schuld, dass sie mit ihrem Freund Schluss gemacht hatte. Es war meine Schuld, dass sie jetzt Ärger mit unseren Eltern hatte. Es war meine Schuld, dass sie ihre Wut kaum noch bändigen konnte. Ich fühlte mich schrecklich und brach mitten am Tisch in Tränen aus. Ich hatte meine kleine Schwester verloren. Letztendlich hatte Liam doch noch bekommen, was er wollte.