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5. Eliza

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Dad hielt Mum in den Armen, die bitterlich weinte. Nachdem Winter Will in dem Lokal angegriffen hatte, war die Polizei und ein Krankenwagen gerufen worden. Der Ladeninhaber sowie die anderen Gäste hatten Winter festgehalten, bis die Polizei gekommen war und sie nach Velvet Hill eingewiesen hatte: Eine psychiatrische Klinik. Dort würde Winter so lange bleiben müssen, bis die Ärzte der Meinung waren, dass sie keine Gefahr mehr für andere darstellte. Unsere Eltern waren erst angerufen worden, als Winter bereits weg gewesen war. Sie waren fassungslos darüber, dass Winter auf einen Mann losgegangen sein sollte. Voller Sorge um ihre jüngste Tochter, die nun alleine in einer Anstalt gefangen gehalten wurde.

Will saß im Krankenwagen. Er hatte bereits seine Aussage gemacht und war verarztet worden. Um seine Hand lag ein dicker Verband. Ich blieb schuldbewusst vor ihm stehen. Er sah auf, doch als er mich erkannte, lächelte er. „Eliza!“

„Tut mir leid, dass wir uns unter so blöden Umständen wiedersehen“, sagte ich. „Ich kann gar nicht glauben, was Winter getan hat.“

„Und ich erst“, rief er ungläubig aus, jedoch ohne dabei wütend zu klingen. „Deine Schwester wirkte immer so zart und zerbrechlich, aber sie kann ordentlich zutreten.“

„Es tut mir leid. Ich verstehe es auch nicht!“

„Du brauchst dich nicht bei mir zu entschuldigen. Du hast nichts falsch gemacht. Mir tut es eher um deine Schwester leid. Aus der Irrenanstalt lassen sie einen selten so schnell wieder raus.“

Mir kamen die Tränen beim Gedanken an Winter, die jetzt womöglich an ihr Bett gefesselt wurde und eine Beruhigungsspritze nach der anderen verpasst bekam, so lange, bis sie nicht einmal mehr wusste, wer sie selbst überhaupt war.

Will beugte sich vor und ergriff tröstend meine Hand. Er streichelte mit seinem Daumen über meine weiche Haut. „Hey, willst du mir erzählen, was los ist?“

Ich zog meine Hand nicht weg und nickte. Will stieg aus dem Krankenwagen und wir suchten uns eine kleine Nische in dem Lokal. Die Polizei sprach immer noch mit meinen Eltern.

„Winter hasst mich“, begann ich mit zitternder Unterlippe. „Seitdem Liam tot ist, kann sie mich nicht einmal mehr ansehen, ohne auf mich loszugehen. Sie hat versucht, mich zu erwürgen.“

Will hob überrascht die Augenbrauen. „Das ist wirklich heftig!“

„Sie war heute bei ihrer ersten Therapiesitzung und hatte mir über unseren Vater ausrichten lassen, dass es ihr leidtue. Ich dachte, es ginge wieder bergauf, aber offenbar hätte ich nicht falscher liegen können. Trotzdem kann ich nicht verstehen, was sie dazu gebracht hat, dich anzugreifen.“

„Ich hatte ehrlich gesagt nicht das Gefühl, dass es ihr wirklich um mich ging. Sie schien eher jemanden zu brauchen, an dem sie ihre Wut auslassen konnte. Wenn es nicht zufällig ich gewesen wäre, wäre sie vielleicht auch auf jemand anderen losgegangen.“

„Aber warum? Sie ist normalerweise alles andere als gewalttätig.“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich hoffe, die Leute in der Psychiatrie können ihr helfen. Vielleicht tut es ihr sogar gut, wenn sie einfach mal abschalten kann und von allem weg ist.“

Ich schüttelte den Kopf. Niemandem tat es gut, irgendwo gegen seinen Willen festgehalten zu werden.

Will sah sie ernst an. „Warum hast du eigentlich nicht auf meine Nachricht geantwortet?“

Ich hatte den Gedanken daran verdrängt. Zwar hatte ich mich im ersten Moment darüber gefreut, von ihm zu hören, aber mich gleichzeitig dazu entschlossen, es zu ignorieren. Die Situation zwischen Lucas, Winter und mir war schon kompliziert genug, ohne dass ich Lucas eifersüchtig machte. Will war aus meiner Sicht keine Konkurrenz für ihn, aber Lucas war auf jedes männliche Wesen eifersüchtig, das sich in meiner Nähe aufhielt. Ich konnte ihm seine Eifersucht nicht einmal vorwerfen, da ich ihm früher jeden Grund dafür geliefert hatte. In der einen Nacht war ich bei ihm gewesen und die nächste hatte ich bereits mit einem anderen verbracht, obwohl ich wusste, wie Lucas für mich empfand. Es war mir egal gewesen, aber das war jetzt anders. Wenn ich schon nicht mit ihm zusammen sein konnte, wollte ich ihm wenigstens nicht wehtun.

„Ich hätte dich noch angerufen“, behauptete ich dennoch Will gegenüber. Dieser sah mich misstrauisch an. Er glaubte mir nicht und hatte damit auch noch recht. Bereits vom ersten Moment an, als wir einander kennengelernt hatten, hatte ich mich mit ihm verbunden gefühlt. Damals hatte ich noch nicht einmal gewusst, dass er ebenfalls ein Schattenwandler war. Vielleicht verband uns nur dieses Schicksal, vielleicht aber auch mehr. Doch was immer es war, ich würde es nicht zulassen.

„Du hast zurzeit viele Probleme, ich verstehe das“, erwiderte Will und beugte sich näher zu mir. „Wie kommst du mit den Schatten zurecht?“

„Du hast einen Riecher für Probleme, oder?“, grinste ich ihn traurig an.

„Dafür muss man nicht viel Einfühlungsvermögen haben. Ich habe es selbst durchgemacht, wenn ich dich daran erinnern darf. Ich weiß, wie schwer es am Anfang ist.“

„Lucas hilft mir. Er lässt mich regelmäßig von sich trinken“, erklärte ich und stellte damit direkt klar, dass es bereits einen Mann in meinem Leben gab.

Doch Will wirkte davon reichlich unbeeindruckt. „Und trotzdem verlierst du immer wieder die Kontrolle über dich.“

Ich dachte an die sieben Stunden, die ich völlig vom Erdboden verschluckt gewesen war, ohne es auch nur zu merken. Ich hatte jegliche Kontrolle verloren. „Ja leider“, gestand ich.

„Das ist alles eine Sache der Übung und der Konzentration. Du bist innerlich total aufgewühlt. Die Schatten spüren das und nutzen es für sich. Es ist leicht für sie, jemanden zu überwältigen, der nicht im Reinen mit sich selbst ist.“

„Aber was soll ich dagegen tun?“, fragte ich verzweifelt. „Meine Schwester sitzt meinetwegen in einer Klinik fest.“

„Du solltest damit anfangen, dir nicht für alles die Schuld zu geben“, sagte er ernst und sah mir eindringlich in die Augen. „Ich kann dir helfen. Ich kann dir zeigen, wie du deine innere Ruhe finden und die Schatten kontrollieren kannst. Ich kann dir sogar zeigen, wie du sie für dich nutzt. Unser Schicksal ist nicht nur ein Fluch, es kann auch ein Segen sein!“

Meine Eltern nährten sich unserem Tisch. Mums Augen waren rot und völlig verweint, trotzdem reichte sie Will überschwänglich die Hand. „Es tut mir sehr leid, was unsere Tochter ihnen angetan hat. Ich kann es mir wirklich nicht erklären. Danke, dass sie sie nicht angezeigt haben!“

Will winkte lächelnd ab. „Machen sie sich meinetwegen keine Sorgen. Mich haut so schnell nichts um. Ich hoffe, Winter geht es bald wieder gut.“

Mum kamen erneut die Tränen und Dad führte sie zum Wagen. Ich folgte ihnen, drehte mich dann nochmal kurz zu Will um und sagte: „Ich ruf dich an.“ Dieses Mal meinte ich es sogar ehrlich. Ich wollte Lucas nicht verletzen, aber wenn Will mir wirklich helfen konnte, die Schatten zu kontrollieren, durfte ich sein Angebot nicht ausschlagen. Das musste selbst Lucas einsehen.

Als wir zu Hause ankamen, erwartete uns bereits Miss Snowwhite an der Haustür. Sobald sie mich sah, machte sie einen Buckel und begann, heftig zu fauchen, so, als wüsste sie ganz genau, was passiert war und würde mir die Schuld dafür geben. Ich machte einen weiten Bogen um sie und ging mit Mona in mein Zimmer. Theoretisch hätte Mona jetzt Winters Zimmer einige Zeit für sich haben können, aber niemand von uns wagte es, das in dieser Nacht auszusprechen. Winter schien immer noch bei uns zu sein, obwohl sie viele Kilometer entfernt war. Dad hatte alles versucht, um sie noch heute sehen zu dürfen. Doch die Klinikleitung hatte ihn auf den nächsten Tag verwiesen. Es gab Besuchszeiten, an die wir uns zu halten hatten. Vor zehn Uhr würden wir keinen Zutritt erhalten. Der Arzt hatte ihm allerdings versichert, dass Winter schlafen würde und wir uns keine Sorgen machen sollten. Der hatte leicht reden! Schließlich war es nicht seine Tochter oder Schwester, die zwangseingewiesen worden war. Für ihn war Winter nur eine Verrückte von vielen.

Mona verkroch sich heute jedoch nicht wie üblich unter ihre Bettdecke, sondern begann stattdessen, in einem Buch herumzublättern. Offenbar hatte sie das alles so sehr aufgewühlt, dass sie keinen Schlaf finden konnte. Ich hingegen wäre am liebsten sofort eingeschlafen, um nicht die Stunden zählen zu müssen, bis wir erfahren würden, wie es mit Winter weiterging. Ich drehte Mona den Rücken zu und schloss meine Augen. Ich hörte das Rascheln der Buchseiten beim Umschlagen und das Klopfen des Regens gegen die Fensterscheibe und auf das Dach. Ich konnte nicht an etwas Schönes denken, das es mir leichter machen würde, einzuschlafen. Alle meine Gedanken drehten sich um meine kleine Schwester. Wie hatte Will gesagt? Er konnte mir zeigen, meine innere Ruhe zu finden? Genau das bräuchte ich jetzt! Aber vielleicht würden auch die Gefühle eines anderen Menschen ausreichen, um mich zu beruhigen. Es war leicht, sich in die Schatten fallen zu lassen. Sie zerrten bereits an mir, seit der Anruf der Polizei mich aus dem Schlaf gerissen hatte. Viel schwerer war es jedoch, nicht in meinem Kummer zu versinken, sondern an meinem Ziel gedanklich festzuhalten. Lucas.

Lucas.

Lucas.

Lucas.

Ich klammerte mich an seinen Namen und glitt in den Schatten von meinem Zimmer, durch unser Haus, in den Regen hinaus, die Treppe im Haus der Rileys empor und erschien schließlich in Lucas’ dunklem Zimmer. Er lag in seinem Bett und schlief, wusste nichts von alldem, was passiert war. Ich hatte keine Zeit gehabt, ihm Bescheid zu sagen. Wir hatten uns nur schnell etwas übergezogen und waren auch schon losgefahren. Dad hatte jede Geschwindigkeitsbegrenzung überschritten und trotzdem waren wir zu spät gekommen. Sie hatten Winter bereits abholen lassen.

Wenn ich Lucas jetzt wecken und ihm erzählen würde, was geschehen war, würden seine Gefühle nicht anders aussehen als meine eigenen. Sorge, Kummer und vielleicht auch Schuld. Ich brauchte jedoch etwas Positives. Ein Gefühl, in dem ich mich einwickeln konnte. Trost.

Vorsichtig ließ ich mich neben ihm nieder, streichelte sanft über seine nackte Haut und fuhr mit der Hand durch sein dunkelblondes Haar. Es war weich und wellig. Ich hatte noch nie verstehen können, warum er es immer unter der grauen Mütze verstecken musste. Aber ich hatte mich schon vor langer Zeit damit abgefunden. Die Mütze gehörte mittlerweile einfach zu Lucas. Auch jetzt lag sie nicht weit von ihm, direkt auf dem Nachttisch. Lucas regte sich leicht unter mir und öffnete verschlafen die Augen. Als er mich bemerkte, zuckte er kurz zusammen. „Was tust du hier?“

„Ich kann nicht schlafen“, sagte ich und fühlte mich schuldig, weil ich ihm die Wahrheit verschwieg. Er machte mir unaufgefordert Platz in seinem Bett und ich kuschelte mich in seine Arme, ließ mich von seinem Geruch umhüllen. Mir wurde warm und ich drückte mich noch enger an ihn.

Wir sahen einander an, meine Hand lag auf seiner Wange und ich nahm seine Gefühle in mir auf. Nur einen Hauch Besorgnis, wie immer, wenn es um mich ging. Aber vor allem viel Liebe, Zuneigung und Verlangen. Er sehnte sich so sehr nach mir und ich wollte es doch ebenfalls. Es wäre nicht das erste Mal, dass wir miteinander schliefen. Sondern nur eines von vielen Malen und trotzdem wäre es doch komplett anders. Denn ich war anders. Viele glaubten mir vielleicht nicht, aber ich spürte es in meinem Herzen. Es machte keinen Unterschied, ob ich mich länger dagegen wehrte. Es würde Winter nicht helfen, sondern nur Lucas und mich unglücklich machen. Ich wollte ihn so sehr, dass mir alles andere unwichtig erschien. Ich legte meine Lippen auf seine und presste mich an ihn. Seine Hüften passten perfekt gegen meine. Unsere Herzen schlugen im gleichen Takt und unsere Körper bewegten sich in dem dazu passenden Rhythmus. Ich fühlte zum ersten Mal das, was Lucas schon immer gewusst hatte: Wir gehörten zusammen.

Am nächsten Morgen fuhren meine Eltern ohne Mona und mich in die Klinik, um Winter zu sehen und alles weitere mit den Ärzten zu besprechen. Ich hätte sie gerne begleitet, aber ich verstand, warum sie dagegen waren. Winters unkontrollierte Wutanfälle hatten mit mir begonnen. Sie wollten sie nicht reizen, indem sie mich ihr vor die Nase setzten. Gleichzeitig würden sie versuchen, in Velvet Hill einen ambulanten Therapieplatz für Mona zu bekommen. Nachdem bei Winter die wöchentliche Therapiestunde offenbar nicht ausgereicht hatte, wollten sie sich nicht vorwerfen müssen, für Mona nicht genug unternommen zu haben. Zudem würden sie ohnehin die nächsten Wochen oder gar Monate mehrmals die Woche dorthin fahren, um meine Schwester so oft wie möglich zu besuchen. Wie hatte es nur soweit kommen können, dass sie jetzt tatsächlich in eine Psychiatrie eingewiesen worden war? Ich war der Auslöser für all das, wie sollte ich mir das jemals verzeihen können?

Kaum dass meine Eltern das Haus verlassen hatten, kam Mona auf mich zu. Unter dem Arm trug sie immer noch das Buch, in dem sie in der letzten Nacht bereits geblättert hatte. Es sah sehr alt aus.

„Ich glaube, ich weiß, warum Winter so durchgedreht ist“, sagte sie ohne Umschweife. Überrascht sah ich sie an. „Warum?“

„Sie ist verflucht.“

Ich rollte mit den Augen und nahm an, das sei wieder eine von Monas komischen Theorien. Sich selbst hielt sie durch ihre Gabe als Medium ebenfalls für verflucht. „Willst du mir etwa erzählen, sie sei von einem Dämon besessen, der sie zwingt, auf alle Menschen ihrer Umgebung loszugehen?“

Mona schüttelte ernst den Kopf. „Kein Dämon!“, sagte sie und sah mich mit einem bösen Blick an. „Liam ist durch ihre Hände gestorben. Er war ein Schattenwandler und dadurch wurde sie zur Jägerin.“

Verwirrt runzelte ich die Stirn und sah sie neugierig an. Mona legte das Buch auf dem Tisch ab und schlug es an einer markierten Stelle auf. Erst jetzt sah ich, dass es keine gewöhnlichen gedruckten Buchstaben enthielt, sondern handschriftlich verfasst und mit Zeichnungen versehen worden war. Der Titel der aufgeschlagenen Seite lautete: Schattenjäger.

Mona begann, aus dem Buch vorzulesen: „Gelingt es einem gewöhnlichen Menschen, einen Schattenwandler zu töten, so wird dieser automatisch zum Schattenjäger. Seine Aufgabe ist es von nun an, jeden Schattenwandler zu töten, der ihm begegnet. Es ist ein Drang, der stärker ist als der Mensch selbst ...“

Mona unterbrach sich und sah mich herausfordernd an. „Verstehst du es jetzt?“

„Winter wollte mich also gar nicht angreifen?“

„Nein, und Will auch nicht. Sie konnte nur nicht anders, weil sie jetzt eine Schattenjägerin ist. Sie ist jetzt dein natürlicher Feind. Wo es übernatürliche Wesen gibt, muss es auch Menschen geben, die gegen sie kämpfen, damit die Welt im Gleichgewicht bleibt.“

„Aber warum ist mir oder Will dann noch nie ein anderer Jäger begegnet?“

Mona legte wieder ihren überheblichen Gesichtsausdruck auf, wie immer, wenn etwas für sie offensichtlich war. „Normale Menschen wissen nichts von Schattenwandlern. Das bedeutet, sie töten niemanden von ihnen wegen ihrem Fluch, sondern aus menschlichen Gründen. Zudem sind Schattenwandler Menschen überlegen. Kannst du dir vorstellen, wie oft es dann passiert, dass es einem Menschen gelingt, einen Schattenwandler zu töten?“

„Und was tun wir jetzt?“

Sie zuckte die Schultern. „Nichts. Es gibt nichts, was wir tun könnten.“

Damit konnte ich mich unmöglich zufrieden geben. „Steht in deinem schlauen Buch dazu nichts? Woher hast du das überhaupt?“ Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass sie es bei unserer eiligen Flucht aus dem Anwesen dabei gehabt hätte.

„Es gehörte meiner Großmutter. Es ist ein Familienerbstück, das an jedes Medium der Familie weitergegeben wird. Ich habe es an mich genommen, als wir Liam beerdigt haben.“

Ich sah sie entsetzt an. „Ihr habt ihn beerdigt? Wann wart ihr nochmal bei dem Anwesen? Und wer ist wir?“

„Winter, Lucas und ich“, sagte Mona als wäre es das Normalste der Welt. Ich erinnerte mich an den Tag, an dem ich Winter bei Lucas im Auto hatten sitzen sehen. Sie waren einander so nah gewesen, dass ich eifersüchtig geworden war. War es an diesem Tag gewesen? Sie hatten dieses Geheimnis geteilt und Lucas hatte mir nichts davon erzählt. Ich fühlte mich von ihm hintergangen. Aber ich versuchte, den Schmerz hinunterzuschlucken und mich stattdessen darauf zu konzentrieren, wie wir Winter helfen konnten.

„Aber es muss doch irgendetwas geben, das wir für sie tun können!“

Mona schüttelte den Kopf. „Sie hat einen Schattenwandler ermordet und ist somit für den Rest ihres Lebens verflucht. Für Winter ist ein normales Leben nur möglich, wenn sie keinem Schattenwandler begegnet.“

Ich suchte verzweifelt Trost in dem Zimmer meiner Schwester. Wie hatte es nur soweit kommen können? Der ganze Raum roch noch nach ihr. Ein süßer, leichter Duft, der mich an ihr weiches Lachen erinnerte. Sie war doch meine kleine Schwester. Ich sollte sie beschützen und jetzt durfte ich sie nie wieder sehen, ohne eine mörderische Wut in ihr auszulösen.

Ich vergrub mein Gesicht in ihrem Kissen und weinte so lange, bis sich mein Herz nicht mehr ganz so schwer anfühlte. Als ich mich erhob, löste sich ein flacher Gegenstand unter dem Kissen und fiel polternd zu Boden. Es war ein Buch. Ich nahm es in die Hand und schlug es auf, nur um es direkt wieder erschrocken zuzuschlagen. Es war das Tagebuch meiner Schwester. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass sie Tagebuch schrieb. Niemand durfte ein fremdes Tagebuch lesen. Es war der größte Vertrauensbruch, den man begehen konnte. Winter vertraute mir schon lange nicht mehr, auch wenn ich nun durch Mona wusste, dass sie mich vermutlich nicht so sehr hasste, wie ich angenommen hatte. Aber der Fluch war nicht an allem schuld, da machte ich mir nichts vor. Unser Verhältnis war bereits vor Liams Tod schlecht gewesen. Oft wusste ich einfach nicht, was Winter von mir erwartete. Das kleine Buch brannte zwischen meinen Fingern. Es würde mir helfen, sie zu verstehen und Winter würde nie davon erfahren. Ich schlug die letzte beschriebene Seite auf. Der Eintrag war auf den neunzehnten September diesen Jahres datiert. Zwei Tage bevor Liam sie entführt hatte. Zwei Tage bevor sie mich knutschend mit Lucas in der Umkleide erwischt hatte.

Liebes Tagebuch,

meine Schwester ist nun seit fast einem Monat zurück und es vergeht kein Tag, an dem ich mir nicht wünsche, dass sie wieder verschwindet.

Mein Brust zog sich bei ihren geschriebenen Worten zusammen, aber ich zwang mich trotzdem dazu, weiterzulesen.

Ich weiß, ich sollte so nicht denken, aber kaum dass Eliza wieder da ist, läuft mein Leben völlig aus dem Ruder. Es dreht sich alles nur noch um sie. Eliza, die Schattenwandlerin. Eliza, die unsere Eltern so sehr vermissen und denen ich nichts von ihr erzählen darf. Eliza, die Lucas schon immer mehr geliebt hat als mich. Eliza, deren Name jeder an der Schule kennt. Eliza, Eliza, Eliza! Es hat Monate gedauert bis ich diesen Namen nicht mehr täglich hören musste. Und gerade als alles gut lief, tauchte sie wieder hier auf. Warum konnte sie nicht in Amerika bleiben? Von mir aus hätte sie Rockstar, Model, Schauspielerin oder was auch immer werden können. Ich hätte ihr jedes Glück der Erde gewünscht, solange uns viele Meilen voneinander trennen. Die Wahrheit ist: Ich habe sie nicht einen Tag vermisst. Anfangs habe ich das geglaubt, aber ich brauchte nur Zeit, um zu begreifen, dass ich nicht sie, sondern den Stress, den sie mir täglich bereitete, vermisste.

Ich muss ein schlechter Mensch sein, dass ich so über meine eigene Schwester denke. Liam würde das ehrlich nennen. Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll. Ich misstraue ihm, aber mein Herz klopft schneller, wenn er in meiner Nähe ist. Er sieht mich auf eine Weise an, wie kein Mann zuvor es getan hat. Auf eine Weise, die ich mir immer von Lucas gewünscht hätte. Doch Lucas hatte immer nur Augen für Eliza. Ich wette, wenn ich die Worte in meinem Tagebuch nach ihrer Häufigkeit zählen würde, wäre das Topergebnis Eliza. Es nervt mich, dass jeder über sie spricht, aber ich selbst kann auch kaum an etwas anderes denken. Wenn Eliza nicht geht, werde ich es vielleicht eines Tages sein, die Wexford den Rücken kehrt.

Bis bald,

deine Winter

Die Tränen rannen ungehindert über mein Gesicht. Ich wusste, dass meine Schwester wütend auf mich war, aber damit hätte ich nicht gerechnet. Ich hatte in meiner Naivität immer angenommen, dass zumindest ein Teil von ihr sich über meine Rückkehr gefreut hatte. Dabei hatte Winter sich nur gewünscht, dass ich so schnell wie möglich wieder verschwand. Winters Hass auf mich wurde durch den Jägerfluch nur verstärkt, aber er kam dennoch tief aus ihrem Herzen. Ich traf eine Entscheidung.

Schattenjagd

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