Читать книгу Schattenchance - Maya Shepherd - Страница 4
Winter
ОглавлениеMeine Augenlider fühlten sich schwer und geschwollen an. Müde stützte ich meinen Kopf auf meiner Hand ab und hätte auf der Stelle in dem warmen Sonnenlicht, das durchs Fenster auf meinen Tisch fiel, einschlafen können. Es würde ein wunderschöner Frühlingstag werden – was für eine Verschwendung, ihn in der Schule verbringen zu müssen!
Das Wochenende hatte ich damit verbracht, mich möglichst unauffällig in Wexford in der Nähe von Liams Wohnung herumzutreiben. Ich kannte nun die Getränke- und Speisekarte sämtlicher Lokale, die sich dort im Umkreis befanden, auswendig. Am Samstag hatte er am späten Nachmittag in Begleitung von Faye das Haus verlassen. Ihr Umgang miteinander hatte mir zwar verraten, dass sie kein Paar waren, aber es schmerzte dennoch, sie zusammen zu sehen. Scheinbar wohnten sie sogar zusammen. Ich beneidete sie darum, sich in seiner Nähe aufhalten zu können, während ich so tun musste, als würde ich ihn nicht kennen. Wenn ich ihn sah, schlugen meine Gefühle Purzelbäume und ich glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Ich hatte nicht mitbekommen, wie oder wann er zurückgekommen war, aber am Sonntagmorgen stand er mit einem Kaffeebecher in der Hand auf seiner Dachterrasse und blickte auf die Stadt hinab. Das Sonnenlicht ließ sein hellblondes Haar beinahe weiß erstrahlen und küsste seine Haut. Ich erinnerte mich schmerzlich daran, wie es sich angefühlt hatte, wenn meine Fingerspitzen die Linien seines Tattoos auf seinem Unterarm nachgezeichnet hatten. Für einen kurzen Augenblick waren sich unsere Blicke sogar begegnet. Es hatte mich meine ganze Willensstärke gekostet, mich dazu zu zwingen, wieder wegzusehen. Er musste das Mädchen, das unten auf der Straße stand und zu ihm empor starrte, ohnehin schon für seltsam genug halten.
Evan war zwischendurch vorbeigekommen, jedoch nur, um mir zu erklären, dass ich mich dadurch, dass ich vor Liams Wohnung wie eine Stalkerin herumlungerte, nur verdächtig machte. Natürlich hatte er recht, aber ich konnte nicht anders. Immer wieder überlegte ich, bei ihm zu klingeln oder ihn anzusprechen, wenn er das nächste Mal das Haus verließ, doch was hätte ich ihm sagen sollen? Hallo, wir lieben uns, auch wenn du dich im Moment nicht mehr an mich erinnern kannst?
Er hätte mir kein Wort geglaubt und mich vermutlich noch dazu ausgelacht. Also war ich am Sonntagabend deprimiert nach Hause zurückgekehrt und hatte dennoch nicht schlafen können. Gedanklich war ich die verschiedensten Möglichkeiten durchgegangen, wie ich Liam auf mich aufmerksam machen könnte. Wenn wir erst einmal Zeit miteinander verbringen würden, würde er spüren, dass da etwas war, das uns verband, auch wenn er es sich nicht erklären könnte – sein Herz würde sich an mich erinnern.
Als es zur ersten Schulstunde klingelte, vergrub ich stöhnend das Gesicht zwischen meinen Händen, was Dairine mit einem Lachen kommentierte, mir auf den Rücken klopfte und mir zuraunte: „Ich will später einen genauen Bericht darüber, was zum Teufel du am Wochenende getrieben hast, dass du jetzt kaum die Augen offen halten kannst.“
Ihre Neugier überschlug sich schier – auch das noch! Sie konnte eine Lüge auf zwei Meilen Entfernung riechen und ich war zudem nicht sonderlich gut darin, Geschichten zu erfinden. Wenn sie das Gefühl bekäme, dass ich ihr etwas vorspielte, würde sie misstrauisch werden und es zudem als Verrat an unserer Freundschaft ansehen, dass ich ihr offenbar nicht genug vertraute. Dabei hätte ich nichts lieber getan, als sie einzuweihen. Sie hatte mir in der Vergangenheit bei jedem Problem treu und hilfsbereit zur Seite gestanden und es täte so gut, mich mit ihr austauschen zu können. Es wäre etwas anderes, mit ihr über Liam zu reden als mit Evan. Sie war nicht ohne Grund meine beste Freundin! Aber würde sie mir glauben, wenn ich ihr die Wahrheit erzählen würde?
Ich hatte das Gefühl, einen Liter schwarzen Kaffee trinken zu müssen, um den Schultag überstehen zu können. Es war weniger der Schlafmangel, der mich so fertig machte, sondern mehr die pure Verzweiflung. Zu allem Überfluss beehrte uns auch noch Eliza in der Mittagspause mit ihrer Anwesenheit. Als wäre sie die Königin der ganzen Schule, ließ sie sich an unserem Tisch wie selbstverständlich nieder und klopfte mit ihren rot lackierten Fingernägeln gegen ihre Cola light-Dose. Sie musterte erst mich kritisch und wandte sich dann Dairine zu.
„Findest du nicht auch, dass Winter sich seit ein paar Tagen seltsam benimmt?“
Dairine hatte ein zwiespältiges Verhältnis zu meiner Schwester. Auf der einen Seite mochte sie ihre lockere, vorwitzige und geradezu wagemutige Art, die einen starken Kontrast zu meiner angeborenen Zurückhaltung bildete. Gleichzeitig war es aber genau dieses Verhalten, welches sie dazu brachte, Eliza für ihre mangelnde Empathie immer wieder aufs Neue zu verfluchen. In gewisser Hinsicht waren sie sich vielleicht manchmal sogar zu ähnlich, um wirklich eine enge Freundschaft bilden zu können.
„Ich dachte schon, ich bilde es mir vielleicht nur ein, aber wenn es sogar dir auffällt, muss wohl wirklich etwas dran sein“, entgegnete Dairine provozierend, worauf Eliza mit den Augen rollte.
Beide fixierten mich, als sei ich unvorbereitet in ein Verhör geraten. „Spuck es aus, was ist los?“, forderte meine Schwester.
„Steckt ein Typ dahinter?“, mutmaßte Dairine neugierig und traf damit voll ins Schwarze, wenn auch ganz anders, als sie dachte. Unbehaglich senkte ich den Kopf und suchte verzweifelt nach einer Ausrede, die sie zufriedenstellen würde.
„Evan …“, krächzte ich, kam jedoch gar nicht weiter, da Eliza sich bereits triumphierend auf den Oberschenkel schlug.
„Ich wusste es! Lucas hat es abgestritten, aber ich sehe doch, wenn Liebe in der Luft liegt. Seit wann seid ihr zusammen?“
Während Eliza sich zu freuen schien, wirkte Dairine eher enttäuscht.
„Wir sind nicht zusammen“, stellte ich klar. „Er hat ein Problem, bei dem ich ihm helfe, das ist alles!“
Daraufhin brach Eliza in lautes Gelächter aus, wovon sich sogar Dairine anstecken ließ. „Sein Problem kann ich mir gut vorstellen“, japste meine Schwester.
Ich sendete mit den Augen Blitze in ihre Richtung. „Es ist nicht so, wie ihr denkt!“, beharrte ich verärgert.
Dairine hob besänftigend ihre Hände. „Winter, du kannst es ruhig zugeben. Evan ist doch süß. Warum machst du denn so ein Geheimnis daraus?“
Ich wollte erneut protestieren, doch just in dem Moment bog Evan um die Ecke und kam direkt auf uns zu. Vielleicht könnte er für Aufklärung sorgen, doch stattdessen zwinkerte er mir verschwörerisch zu und ehe ich mich versah, begrüßte er mich mit einem flüchtigen Kuss auf den Mund. Ich war viel zu verdattert, um zu reagieren. „Ich freue mich, dass du dich endlich dazu entschlossen hast, unsere Beziehung öffentlich zu machen“, säuselte er und sah mir dabei eindringlich in die Augen. Was sollte das denn jetzt?
Lucas gesellte sich nun ebenfalls zu uns und sah beinahe schockiert zwischen Evan und mir hin und her. „Ihr seid zusammen?“, wunderte er sich.
Evan legte seine Hand auf meine Schulter. „Ja, hast du etwas dagegen?“, blaffte er seinen besten Freund an.
Sofort machte Lucas abwehrend einen Schritt zurück. „Natürlich nicht, ich habe mich nur gewundert.“
Neugierig blickten alle zu ihm auf.
„Warum wundert dich das?“, bohrte Eliza nach.
Lucas lief rot an. „Ich … Evan …“ Er sah verzweifelt zu seinem Freund. „Du hast bisher einfach nicht den Eindruck gemacht, als hättest du ein Interesse an …“ Mädchen hätte er sagen sollen, doch stattdessen vollendete er den Satz mit: „Winter.“
Eliza erhob sich von ihrem Stuhl und schlang ihre Arme um Lucas‘ Hals. „Er hat eben auf die Richtige gewartet“, kicherte sie und warf mir einen belustigten Blick zu. „Ist es nicht süß, dass dein bester Freund nun mit meiner kleinen Schwester zusammen ist? Vielleicht können wir ja mal etwas zu viert unternehmen.“ Entschuldigend blickte sie in Dairines Richtung. „Nichts gegen dich.“
Der Blick meiner Besten verriet, dass dies einer der Momente war, in denen sie Eliza am liebsten den Kopf umgedreht hätte. Ich konnte es ihr nicht einmal verübeln und fühlte mich reichlich unwohl bei der ganzen Situation. Besonders, wenn ich daran dachte, dass in der anderen Realität Evan der Freund von Dairine gewesen war, bevor er sich geoutet hatte. Obwohl dies nun nicht passiert war, kam es mir vor, als hätte ich ihr den Freund ausgespannt, dabei waren Evan und ich ja nicht einmal wirklich ein Paar.
Lucas blickte noch einmal irritiert auf Evans Hand, die auf meiner Schulter ruhte, bevor er mit Eliza weiterging. Dairine verabschiedete sich ebenfalls, weil sie noch einmal auf die Toilette gehen wollte, bevor uns die letzten beiden Schulstunden bevorstanden: Sport.
Kaum, dass alle weg waren, fuhr ich zu Evan herum. „Was sollte das?“, fuhr ich ihn sowohl wütend als auch verständnislos an.
„Ich bin ihr Getuschel leid und das ist die einzige Erklärung, die sie akzeptieren werden, ohne uns weiter zu bedrängen.“ Evan und ich hatten weder in der vergangenen Realität noch in dieser viel miteinander zu tun gehabt. Er war Lucas‘ bester Freund und ich seine beste Freundin, mehr war da nicht gewesen. Umso auffälliger war es, dass wir nun scheinbar grundlos ständig die Köpfe zusammensteckten.
„Aber ich will Dairine nicht etwas vorspielen. Sie ahnt schon, dass etwas nicht stimmt! Wenn ich ihr schon nicht die Wahrheit sagen kann, will ich sie nicht auch noch zusätzlich belügen müssen.“
„Hast du einen besseren Vorschlag?“, fuhr Evan mich genervt an.
„Wir weihen sie ein!“
Er sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. „Spinnst du? Sie glaubt uns doch kein einziges Wort!“
„Wenn uns jemand glaubt, dann sie“, beharrte ich. Sie wusste auch von Elizas Schattenwandlerfähigkeit. Natürlich war das etwas, das sie schon mit eigenen Augen hatte erleben können: Eliza, die plötzlich spurlos in den Schatten verschwand. Aber mein Gefühl sagte mir dennoch, dass es besser war, Dairine die Wahrheit zu sagen, als sie weiter zu belügen. Sie vertraute mir, genauso wie ich ihr und vielleicht würde sie uns genau deshalb glauben.
„Sie hat auch dein Geheimnis für sich bewahrt, obwohl sie jeden Grund gehabt hätte, wütend auf dich zu sein“, erinnerte ich ihn daran, dass Dairine niemandem davon erzählt hatte, was der wahre Grund für ihr Beziehungsaus gewesen war. Nicht einmal mir.
„Ich bezweifele ja auch gar nicht, dass sie eine gute Freundin ist.“
„Was ist es dann?“
„Es hört sich einfach zu verrückt an, als dass es jemand wirklich glauben könnte.“
„Wenn uns jemand glaubt, dann sie“, wiederholte ich noch einmal nachdrücklich. „Willst du nicht, dass sich irgendwann alle wieder daran erinnern können, was passiert ist?“
„Das ist unmöglich!“, wehrte er ab.
„Woher willst du das wissen, wenn wir es nicht wenigstens versuchen? Und um es versuchen zu können, brauchen wir jemanden, an dem wir es testen können. Dairine ist dafür perfekt geeignet!“
Er machte keinen überzeugten Eindruck und knetete unruhig seine Finger. Unsicher sah er mich an. „Hattest du auch das Gefühl, dass Lucas etwas eifersüchtig war, als er erfahren hat, dass wir zusammen sind?“
Lucas hatte sich in der Tat seltsam benommen, aber ich konnte nicht sagen, ob es wirklich Eifersucht war. Er wirkte ziemlich glücklich mit Eliza und ich wusste, dass es genau das war, was er immer gewollt hatte. Doch auch mit Evan war er auf dem Weg gewesen, glücklich zu sein. Das, was zwischen ihnen gewesen war, hatte nie die Chance bekommen, mehr zu werden.
„Wenn Lucas sich daran erinnern könnte, was geschehen ist, würde das deine Chancen erheblich steigern“, erwiderte ich und versuchte, ihn so davon zu überzeugen, dass es eine gute Idee wäre, Dairine einzuweihen. Er war immer noch unsicher, aber zuckte nun ergeben mit den Schultern. „Tu, was du nicht lassen kannst. Aber beschwere dich nicht bei mir, wenn sie dich danach für übergeschnappt hält und nicht mehr mit dir reden will.“
Der Sportunterricht war das Schulfach, welches ich mit Abstand am wenigsten leiden konnte. Ich verabscheute Sport zwar nicht im Allgemeinen, aber ich mochte keine Ballspiele und auch nicht das alberne Verhalten meiner Mitschüler. Dairine und ich standen abseits von den anderen, die sich bereits munter Bälle zuwarfen, obwohl der Lehrer noch nicht aufgetaucht war. Das würde wieder eine ordentliche Standpauke geben!
„Wie kam das eigentlich zwischen Evan und dir?“, wollte sie gerade neugierig wissen. „Ich hatte wirklich gar keine Ahnung, dass ihr überhaupt ein Wort miteinander gewechselt habt.“ Sie klang enttäuscht.
„Glaub mir, mich hat es genauso überrascht wie dich“, erwiderte ich ausweichend. Zwar wollte ich sie einweihen, aber sicher nicht im Sportunterricht. „Ich könnte heute Abend …“, setzte ich an und wollte ihr eigentlich vorschlagen, bei ihr vorbeizukommen, um ihr alles zu erzählen, doch mir blieben die Worte im Halse stecken.
Ein Pfiff schrillte durch die Sporthalle und sämtliche Augenpaare richteten sich auf den Lehrer, der gerade aus der Umkleide trat. Er trug eine locker sitzende schwarze Sporthose und dazu ein graues Shirt, das an seinen Oberarmen etwas enger saß und so seinen muskulösen Körper erahnen ließ. Das Grau seiner Augen war beinahe noch auffälliger als sein hellblondes Haar, aus dem sich eine einzelne Strähne gelöst hatte und ihm lässig in die Stirn fiel. Er nahm seine Finger von den Lippen, mit denen er soeben den Pfiff erzeugt hatte.
Liam.
Mein Herz tanzte.
Was machte er denn hier? Das ganze Wochenende hatte ich vor seiner Wohnung verbracht und nun tauchte er einfach in der Sporthalle auf. Ausgerechnet in der Sporthalle! Er war doch Musiklehrer gewesen! Ich hatte nicht gewusst, dass er auch noch Sport studiert hatte. In Musik war ich bereits nicht sonderlich überzeugend, aber in Sport war ich eine absolute Niete! Ich würde seine Aufmerksamkeit höchstens durch meine Unfähigkeit erzielen können.
Völlig unvorbereitet traf mich ein Ball an der Stirn und ich ging zu Boden. Mir wurde schwarz vor Augen und für einen Moment rauschte das Blut in meinen Ohren. Als ich die Augen öffnete, schnappte ich erschrocken nach Atem. Liam kniete über mir und sah auf mich hinab. Seine Hand lag auf meiner Stirn.
„Tut das weh?“, fragte er. Ich spürte nichts außer seiner Berührung, die mir einen Schauer durch den ganzen Körper jagte. Benommen schüttelte ich den Kopf und hätte am liebsten meine Meinung geändert, als er seine Hand wegnahm.
„Das wird eine Beule werden. Morgen wirst du als Einhorn zur Schule kommen“, scherzte er mit verschmitztem Lächeln, das meine Beine weich werden ließ. Er erhob sich und richtete tadelnde Worte an den Mitschüler, der den Ball unachtsam in meine Richtung geworfen hatte. Danach wendete er sich wieder mir zu und reichte mir seine Hand, um mir aufzuhelfen. Ich zögerte, sie zu ergreifen, aber als unsere Hände sich berührten, gab es einen Stromschlag, der uns beide erschrocken zurückzucken ließ.
Liam rieb sich lachend über die Handfläche. „Da ist wohl jemand von uns elektrisch aufgeladen.“ Er drehte sich dem Kurs zu. „Das war ein denkbar blöder Start, aber ich hoffe, dass wir in Zukunft besser miteinander auskommen werden. Ich bin Mr. Dearing und werde euch von nun an in Sport unterrichten.“
Das war der Tag, an dem Sport mein Lieblingsfach wurde.